Covid-19 ist zugleich Gesundheitskrise, Wirtschaftskrise, politische Krise, kulturelle Krise, moralische Krise und globale Krise. Die Krisen nehmen kein Ende. Seit den 1980er Jahren entfaltete sich durch die Hegemonie des Neoliberalismus eine soziale Krise, die von starken Ungleichheiten geprägt ist, vor allem von der Zunahme der Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeit. Immer mehr Bereiche der Gesellschaft sind der Waren- und Profitlogik unterworfen worden. Die Anschläge vom 11. September 2001 setzten eine politische Krise in Gang, die durch einen Teufelskreis aus Terror und Krieg geprägt ist. 2008 kam es als Folge der Finanzialisierung der Wirtschaft zu einer Weltwirtschaftskrise. In den Jahren danach wurden autoritäre und nationalistische Bewegungen, Parteien und Politiker immer erfolgreicher, was zu einer Krise der Demokratie und zur Ausbreitung der postfaktischen Politik führte. Es ist kein Wunder, dass in der Folge all dieser Krisen eine signifikante Anzahl von Menschen anfällig geworden ist für Verschwörungstheorien, Populismus, Demagogie und Falschnachrichten.

Das richtige und wichtige Gegenmittel zu diesen Entwicklungen ist die Erneuerung der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert und die Befreiung der Gesellschaft vom Neoliberalismus. Die heutigen Gesellschaften brauchen eine Erneuerung des Wohlfahrtsstaates, eine stärkere Besteuerung des Kapitals und eine Umverteilung, die vor allem der arbeitenden Bevölkerung mit niedrigen und mittleren Einkommen zugutekommt. Auch in post-neoliberalen Gesellschaften mit stark ausgeprägtem Sozialstaat und wenig Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten wird es sicherlich Verschwörungserzählungen geben. Es ist aber davon auszugehen, dass diese weniger stark und weniger militant ausgeprägt sein werden.

Die heutigen Gesellschaften brauchen eine Erneuerung des Wohlfahrtsstaates, eine stärkere Besteuerung des Kapitals und eine Umverteilung, die vor allem der arbeitenden Bevölkerung mit niedrigen und mittleren Einkommen zugutekommt.

In meiner Studie zur Verbreitung von Covid-19-Verschwörungstheorien auf sozialen Medien habe ich Materialien und Kommentare aus dem Internet analysiert. Die Untersuchung verdeutlicht, dass Covid-19-Verschwörungstheorien diskursiv sehr häufig auf das Freund/Feind-Schema zurückgreifen und insbesondere Bill Gates als Feindbild darstellen. Im Diskurs wird ein kruder Ökonomismus verwendet: Jede mögliche Handlung einzelner Personen wie Bill Gates wird auf das Profitmotiv reduziert. Es handelt sich dabei um eine personalisierende Kapitalismuskritik. Außer Acht gelassen wird, dass Milliardäre wie Bill Gates so reich sind, dass sie sich Philanthropie leisten können und wollen, die tatsächlich ihren Reichtum schmälert. Ein – untauglicher – Versuch der Rationalisierung wird unternommen, indem behauptet wird, dass alles, was Bill Gates tue, notwendigerweise böse sei. Sein Handeln sei zwingend immer durch das Interesse und den Plan, Kapital und Macht zu akkumulieren, motiviert, da er Milliardär und Gründer eines Monopolkonzerns ist. Es gibt in diesem Weltbild keine Zufälligkeiten; alles gilt als Ergebnis eines geheimen Plans einer Elite.

Es gibt keine einfachen Patentrezepte gegen Verschwörungstheorien, weder moralische Appelle noch Gesetze sind ausreichend. Das grundlegende Problem ist, dass die heutigen Gesellschaften politisch stark polarisiert sind und die Öffentlichkeit durch Echokammern und eine postfaktische Politik, in der die Menschen nicht durch Fakten, sondern durch Ideologie und Emotionen geleitet sind, fragmentiert ist. Das Freund/Feind-Schema, in dem Einzelpersonen zu Sündenböcken gemacht werden, finden wir nicht nur in Verschwörungstheorien, sondern im tagtäglichen medialen und politischen Diskurs. Die Boulevardisierung der Medien und der Politik spielt dabei eine bedeutende Rolle. Kampagnen wie jene der Bild-Zeitung gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Christian Drosten, Viola Priesemann, Dirk Brockmann und Michael Meyer-Hermann tragen zu einer fortschreitenden Polarisierung bei. Boulevard, Verschwörungstheorien und Demagogie sind getrieben von der Logik der Ressentiments, der Vereinseitigung und des Bauchgefühls.

Es gibt keine einfachen Patentrezepte gegen Verschwörungstheorien, weder moralische Appelle noch Gesetze sind ausreichend.

Die Internetplattformen, über die Verschwörungstheorien und Ideologien primär verbreitet werden, gehören globalen Konzernen, die dem Profitinteresse ihrer Eigentümer verpflichtet sind. Sie haben zu einer Art digitaler fast food-Medienkultur beigetragen, die von schnellen, kurzlebigen, oberflächlichen und werbungsdurchsetzten Meinungs- und Informationsfetzen lebt. Es fehlt uns im Internet an Zeit für tiefgehende politische Debatten, wodurch die Echokammern, die Polarisierung und die Kolonialisierung der Öffentlichkeit durch Kommerz und Ideologie weiter vorangetrieben werden.

Die Herausforderung besteht also in der Stärkung der Demokratie und der demokratischen Öffentlichkeit bei gleichzeitigem Ausbau und Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates als Teil einer post-neoliberalen Wende. Öffentlich-rechtliche Medien haben in der Pandemie einerseits als Informations- und Bildungsquellen großen Zuspruch erfahren. Andererseits werden ihre Existenz und die Zulässigkeit von Rundfunkgebühren aber immer wieder von ihren Gegnern, insbesondere im politisch rechten Lager, in Frage gestellt. Um von seinen eigenen Skandalen abzulenken („Partygate“), kündigte etwa der britische Premier Boris Johnson unlängst an, die Rundfunkgebühr abzuschaffen, was unweigerlich zur Zerschlagung der BBC führen würde.

Um die Öffentlichkeit zu stärken und die Demokratie zu retten, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr öffentlich-rechtliche Medien. Das Manifest für Öffentlich-Rechtliche Medien und ein Öffentlich-Rechtliches Internet fordert die Sicherung der Existenz, Finanzierung und Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien sowie die Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Internets. Darunter sind Internetplattformen sowie dazugehörige Formate und Dienste zu verstehen, die von öffentlich-rechtlichen Medien betrieben werden. Dieses Manifest wird bereits von über 1 000 Personen und Organisationen unterstützt, darunter unter anderem Jürgen Habermas, Noam Chomsky sowie die International Federation of Journalists.

Um die Öffentlichkeit zu stärken und die Demokratie zu retten, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr öffentlich-rechtliche Medien.

Ein Beispiel hierfür ist eine von ARD, ZDF, BBC und France Télévisions gemeinsam organisierte öffentlich-rechtliche Internetplattform nach dem Modell von YouTube, auf der neue Debatten-, Informations-, Bildungs-, Kultur- und Unterhaltungsformate mit Nutzerbeteiligung realisiert werden. Öffentlich-rechtliche Medien haben, anders als die Digitalgiganten wie YouTube, Amazon, Netflix und viele mehr, einen öffentlichen Auftrag, der qualitativ hochwertige Dienste und Formate fördert.

Die Digitalgiganten haben mit immer neuen Skandalen wie der Cambridge Analytica-Kontroverse gezeigt, dass ihre Profitorientierung eine reale Gefahr für die Demokratie darstellt. Donald Trump, Facebook und Twitter haben voneinander profitiert: der eine politisch und ideologisch, die anderen finanziell. In der EU wurde medien- und digitalpolitisch zu lange versucht, die Innovationen des Silicon Valley zu imitieren. Diese Strategie ist gescheitert. Es gibt kein europäisches Google, Facebook, Twitter oder Amazon. Europas größte Stärke im Bereich der Medien ist die Tradition der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Diese sollten nicht leichtfertigt untergraben, sondern gestärkt, ausgebaut und fit gemacht werden für das digitale Zeitalter. Die Rettung der Demokratie braucht öffentlich-rechtliche Medien und ein öffentlich-rechtliches Internet.

Es gibt kein europäisches Google, Facebook, Twitter oder Amazon. Europas größte Stärke im Bereich der Medien ist die Tradition der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten.

Verschwörungstheorien, fake news, Online-Hass, Postfaktizität und politische Polarisierung sind Ausdruck des Überbordens der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Krisen und der gesellschaftlichen Widersprüche. Es gibt keine einfachen Rezepte gegen diese Entwicklungen. Ein Paradigmenwechsel weg von der Boulevardisierung, Kommerzialisierung und Beschleunigung der Medien und der Kommunikation hin zur Schaffung einer neuen (digitalen) Öffentlichkeit ist eine wichtige Voraussetzung für die Stärkung der Demokratie. Dazu bedarf es einer medien- und digitalpolitischen Transformation und einem digitaldemokratischen Strukturwandel der Öffentlichkeit.