Ende September waren in so gut wie allen Medien weltweit Fotos vom dem sogenannten „Oberen Lars“ erschienen, der Grenze zwischen Russland und Georgien. Der massive Zustrom von Russen hat zu einer völlig neuartigen Lage an der Grenze geführt, die man fast als „Ausnahmezustand“ bezeichnen könnte. Doch in der Dutzende Kilometer langen Schlange, die mehrere Tage lang nicht abriss, standen zusammen mit den angesichts der Mobilisierung nach Georgien flüchtenden Russen auch viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.
Hunderte von Ukrainerinnen und Ukrainern mussten diesen Weg nehmen, da die russischen Streitkräfte viele von ihnen gewaltsam aus den besetzten Gebieten im Osten der Ukraine deportiert hatten. Häufig hatte man sie ganz ohne Dokumente oder nur minimal ausgestattet abtransportiert. Die Menschen haben sich natürlich ohne jeden Gedanken an ihre Papiere in Sicherheit gebracht. Noch häufiger allerdings waren sie überhaupt nicht im Besitz eines Reisepasses, oder er war abgelaufen. Wie sie selbst bekräftigen, bekamen sie jedoch, als sie nun am „Oberen Lars“ die x-te Belastungsprobe über sich ergehen lassen mussten, weder von russischer noch von georgischer Seite Probleme bei der Einreise nach Georgien, ob sie nun einen abgelaufenen Pass hatten oder gar keinen. Die Probleme kommen erst später. Und zwar dann, wenn die Menschen beschließen weiterzuziehen – nach Europa, wo den Kriegsflüchtlingen eine systematischere Hilfe und nachhaltigere Eingliederungsprogramme angeboten werden.
Der Mangel an Dokumenten, die für die Einreise in europäische Länder erforderlich sind, macht die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger buchstäblich zu Geiseln der gegebenen Umstände, die kaum zu bewältigen sind. Denn mit der Beschaffung oder Erneuerung des ukrainischen Reisepasses gibt es in Georgien Probleme. Die Geflüchteten können in der ukrainischen Botschaft in Georgien nicht einfach die für eine Passbeantragung notwendige Bescheinigung über die ukrainische Staatsbürgerschaft vorlegen, da die örtlichen Migrationsbehörden in der Ostukraine, bei denen man diese erhält, von der russischen Besatzungsmacht eingenommen wurden.
Für die Geflüchteten selbst ist es nur schwer zu verstehen, warum bisher noch kein international anerkannter Übergangsmechanismus erarbeitet wurde, bei dem für die Passbeantragung der sogenannte „weiße Pass“ ausreicht". Bei Letzterem handelt es sich um eine provisorische Identitätsbescheinigung für die Rückkehr in die Ukraine. Nun sitzen die Geflüchteten ohne Papiere in Georgien fest, wo sie bedauerlicherweise keine systematische Hilfe erhalten können. Doch sie reagieren verständnisvoll: „Georgien hat bereits genug eigene Flüchtlinge, es hat seine eigene humanitäre Krise.“
Die Menschen haben sich natürlich ohne jeden Gedanken an ihre Papiere in Sicherheit gebracht.
Seit den ersten Kriegstagen leistet die georgische Bevölkerung, die diesen Krieg als ihren eigenen bezeichnet, dem ukrainischen Volk in jeder Hinsicht moralische und physische Unterstützung. Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor dem Krieg geflohen sind, erhalten über einen Zeitraum von drei Monaten Sozialhilfe in derselben Höhe wie die Vertriebenen aus Abchasien und der Zchinwali-Region in Südossetien, also monatlich 45 Lari (etwa 16 Euro) pro Person. Hinzu kommt ein Betrag in Höhe von 300 Lari (etwa 109 Euro) pro Familie. Zuvor hatte es ein Programm zur Unterbringung der ukrainischen Geflüchteten in Hotels und anderen Unterkünften gegeben. Dieses Programm wurde erst verlängert und dann durch die Geldleistungen ersetzt, sodass die in Not Geratenen nun eigenständig Wohnungen mieten können. Nach Angaben der Agentur für Neuansiedlung wurde im Rahmen des Programms mehr als 5 000 Menschen, die sich an die Agentur gewendet hatten, Hilfe geleistet.
Doch laut Aussage der Geflüchteten selbst gibt es auch beim Erhalt dieser Hilfsleistungen regelmäßig Probleme. Bei der Antragstellung werde ihnen fälschlicherweise mitgeteilt, dass es sich nur um eine Einmalzahlung handele oder dass die Vergünstigungen nur denjenigen zukomme, denen offiziell der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde oder die zuvor im Rahmen des staatlichen Neuansiedlungsprogramms in einem der Hotels untergebracht gewesen waren. Folglich verlieren viele von ihnen den Mut und lassen sich abweisen.
Ende Oktober schrieben einige von ihnen einen Brief an den georgischen Premierminister. Darin bitten sie um eine Prüfung der Leistungen, auf die auch diejenigen keinen Anspruch haben, die zuvor an dem Neuansiedlungsprogramm teilgenommen haben. In Georgien gibt es keine von den lokalen Behörden unterstützten Freiwilligenprogramme. Hilfe kommt ausschließlich von ehrenamtlichen Basisorganisationen, die sich zu Beginn des Krieges in Tiflis gebildet haben.
Folglich verlieren viele von ihnen den Mut und lassen sich abweisen.
Eine solche ist die Mozchaleba Foundation. Seit Beginn des Einmarsches der Russen in der Ukraine bietet sie Geflüchteten Zuflucht. Heute nimmt die Nachfrage nach Wohnraum von Monat zu Monat weiter zu. 20 Geflüchtete leben in einer Unterkunft, die für zwölf Personen vorgesehen ist. Für anderthalb Monate stellt sie Obdach und Verpflegung zur Verfügung. Danach müssen sich die Menschen selbst eine Unterkunft suchen. Doch die größte Schwierigkeit besteht darin, dass die Preise für Wohnraum in Tiflis nach der Mobilisierung und dem massiven Zustrom von Russen stark angestiegen sind, sodass es nicht nur für die Geflüchteten, sondern auch für die einheimische Bevölkerung immer schwieriger wird, eine Wohnung zu finden.
So konnten zum Beispiel viele Studierende aus abgelegeneren Gebieten, die sich an den Universitäten der Hauptstadt eingeschrieben hatten, keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden. Hinzu kommt für die Geflüchteten noch die Schwierigkeit, eine Arbeit zu finden. Selten gelingt es den Frauen, für 20 Lari pro Tag (etwa 7 Dollar) eine Stelle als Reinigungskraft oder Kindermädchen zu bekommen. Doch in der Unterkunft wohnen auch ältere Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen eine Miete nicht mehr selbst verdienen können.
Aktuell hat die georgische Regierung eine sechsmonatige Verlängerung des sozioökonomischen Unterstützungsprogramms für die geflüchteten Bürgerinnen und Bürger angekündigt. Doch nach Ablauf dieser Frist wird die Mehrheit der ukrainischen Familien wieder dieselben Probleme haben, mit denen sie jetzt täglich konfrontiert sind. Die persönlichen Ersparnisse gehen bereits zur Neige und werden weder für eine langfristige Miete, noch für die notwendigen Lebensmittel und Medikamente ausreichen.
Man darf nicht vergessen, dass die Geflüchteten, die aus den östlichen oder südlichen Regionen der Ukraine kommen, bereits eine harte Zeit unter russischer Okkupation hinter sich haben. Sie möchten ihre Kinder in den Schulen anmelden, in denen ukrainische Klassen eingerichtet worden sind, doch gibt es dort nicht genügend Plätze. Alternativ wäre eine russische Schule möglich, aber ein solcher Schritt fällt schwer nach dem, was sie überstanden haben. Kinder, die Monate in Kellern zugebracht haben, lehnen alles ab, was Russisch ist.
Am größten ist der Wunsch, nach Hause zurückzukehren, doch die Vorstellung eines Lebens unter russischer Besatzung, unterdrückt und ohne die eigene, proukrainische Einstellung offen äußern zu dürfen, erlaubt es ihnen nach eigener Aussage derzeit nicht. Und so setzt sich das Leben im fremden Land für sie fort, während sie weiter hoffen und Pläne schmieden, die mit den Worten beginnen: „Wenn der Krieg erst einmal vorbei ist …“
Aus dem Russischen von Judith Elze.