Es dauerte nur wenige Wochen, bis der erst „beiseite-“ und dann doch zurückgetretene österreichische Kanzler Sebastian Kurz einen neuen Posten gefunden hatte. Großinvestor und Trump-Freund Peter Thiel sorgt dafür, dass auch dieser skandalträchtige Politiker weich fällt.

Angesichts solcher Entwicklungen ist es kein Wunder, dass heute zwar rund 40 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass Parteien und Politik korrupt sind. Die beinahe wöchentliche Aufdeckung von Skandalen wie dem Cum-Ex-Steuerbetrug und den Enthüllungen der Pandora Papers verursachen inzwischen aber nur noch ein Stirnrunzeln. Doch sind es nur Einzelfälle, wenn Politiker und Wirtschaftsbosse so eng verflochten sind und sich in öffentlichen Haushalten bedienen? Welche Strukturen befinden sich hinter den Skandalen? Und was haben diese Strukturen mit der zunehmenden Spaltung unserer Gesellschaften in arm und reich zu tun?

Die superreichen „ein Prozent“ werden in den Medien fortwährend thematisiert. Es gibt Studien über soziale Ungleichheit, beispielsweise von Thomas Piketty, und von Elitenforschern wissen wir etwas über ihre Macht und ihren Reichtum. Es wird schnell klar: Viele der Profiteure der Korruption scheinen sich zu kennen. Sie respektieren sich und treffen sich zu informellen Gesprächen, bilden Netzwerke und sind Komplizen in eigener Sache. Sie schaffen Beutesysteme untereinander, aber auch in die Gesellschaft und Arbeitswelt hinein.

Viele der Profiteure der Korruption scheinen sich zu kennen. Sie schaffen Beutesysteme untereinander, aber auch in die Gesellschaft und Arbeitswelt hinein.

An diesen Verhältnissen muss die Sozialkritik ansetzen. Viele kritische Erklärungsversuche greifen jedoch zu kurz, weil ihnen ein präziser Begriff für diese Phänomene fehlt. Von der gewissermaßen „zuständigen“ Kapitalismuskritik wird entweder pauschal das „Gesamtsystem“ für jedwede kriminelle Handlung verantwortlich gemacht oder nur auf die prekäre Situation der „subalternen“ Klassen geschaut. Die besondere politische Praxis der „herrschenden Klassen“ oder Eliten wird kaum noch thematisiert. Die gängige Elitenkritik wiederum bezieht sich selten auf bestehende soziale Verhältnisse. In beiden Fällen erscheinen die Bürger oft nur noch als Opfer oder als Objekte der gegebenen Verhältnisse. Das kann nicht sein.

Zugleich ist es erstaunlich, wie offen neoliberale Ökonomie-Theorien, Verhaltenstheorien und Spieltheorien die korrupte Praxis in Beziehungsnetzwerken unter Effizienzkriterien konzipieren und diskutieren. Die Diskussionen über unternehmerische Praxis haben sich verändert. Die egoistische Nutzenmaximierung, wie im Rational Choice-Ansatz angelegt, etabliert das „Recht des Stärkeren“. Archaische Motive wie Eigennutz, Trittbrettfahrertum, Gier und sogar Raub werden als fundamentale Bestandteile der modernen Wirtschaftswelt legitimiert.

Dabei geht es nicht nur um ein ideologisches Problem der Meritokratie. Die politischen und wirtschaftlichen Strukturen haben sich auch empirisch verändert. Private Sicherheitsdienste, Privatarmeen, private Schiedsgerichte, Bürgerwehren, „No-Go-Areas“ und „Parallelgesellschaften“ diversifizieren Souveränitätsfunktionen. Wie im Mittelalter mit seinen Zünften, Gilden und religiösen Gemeinden mit jeweils eigenen Gesetzen, Souveränitäten und Sanktionsmechanismen haben wir es zum Teil wieder mit verschiedenen quasi-staatlichen Räumen und mit der Abwesenheit monopolisierter Staatlichkeit zu tun.

Archaische Motive wie Eigennutz, Trittbrettfahrertum, Gier und sogar Raub werden als fundamentale Bestandteile der modernen Wirtschaftswelt legitimiert.

Diese Entwicklungen und Phänomene sind kein Ausdruck des Verfalls demokratischer Institutionen in den westlichen Ländern. Sie stellen aber die legitimierende Gemeinwohlorientierung der Demokratien und die Handlungsfähigkeit des Staates gegenüber dominanten wirtschaftlichen Interessen infrage. Heute gilt nicht der Staat als fürsorglich, sondern das Unternehmen. Das wirft doch die Frage auf, in wessen Interesse diese Zustände sind und wer von ihnen profitiert.

Zu ihrer Beantwortung ist ein zeitgemäßer Begriff für die politische Praxis der „herrschenden Klassen“ notwendig. Dieser muss einerseits staatstheoretische Fragen in Hinblick auf Souveränität und Legitimität klären. Andererseits muss er die Verbreitung korrupter Praktiken in den Blick nehmen und auch kriminologische Kategorien beinhalten, die wiederum Staatsimitationen – also mafiöse Strukturen – berücksichtigen. Es geht also nicht nur um Staaten, die vom Kapital dominiert werden, sondern auch um legales oder illegales Kapital, das zunehmend zum Staat wird oder werden will. Ein Beispiel sind die Imitationen von Staatlichkeit in den großen Digitalkonzernen, wo Beschäftigte auf einen engen Wertekanon mit bedingungsloser Loyalität eingeschworen werden.

Hierfür eignet sich der „Racket“-Begriff aus der kritischen Theorie von Max Horkheimer und Theodor Adorno. Er stammt ursprünglich aus den USA und bezeichnet eine Gruppe, die ihre Interessen auf Kosten der Allgemeinheit mit kriminellen Mitteln verfolgt. Er wurde zum vielgebrauchten Begriff in der Debatte um Big Labor, also den weitreichenden Einfluss der Gewerkschaften, im New Deal der 1930er Jahre. Die damaligen illegalen Machenschaften der US-Gewerkschaften, bekanntgeworden vor allem durch den Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa, sind als Imitation der Praxis der herrschenden Klassen zu verstehen. Die Gewerkschaften hatten keine andere Chance, als sich anzugleichen, um gegen die Willkür der Kapitalisten in einem System ungeregelter Klassenbeziehungen zu bestehen.

Rackets stellen privilegierte Komplizenschaften zwischen privaten Managern, dem politischen Personal und diversen anderen Akteuren dar, die Steuerparadiese organisieren, Gelder verschieben und Netzwerke koordinieren.

Vor dem Hintergrund der beinahe alltäglichen Skandale, die aber eben keine Einzelfälle sind, lohnt es sich, den Racket-Begriff in den aktuellen gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Rackets stellen privilegierte Komplizenschaften zwischen privaten Managern, dem politischen Personal und diversen anderen Akteuren dar, die Steuerparadiese organisieren, Gelder verschieben und Netzwerke koordinieren. Das lässt sich gut in den geleakten Pandora Papers nachvollziehen, in denen gezeigt wird, wie Anwaltskanzleien, Beratungsunternehmen und Klienten aus Politik und Wirtschaft eng zusammenarbeiten. Auch die mexikanischen Drogenkartelle, die Korruption der Zuma-Regierung in Südafrika und der Bolsonaro-Regierung in Brasilien oder die Verstrickungen von Unternehmen und Politik in der Opioid-Krise in den USA können mit dem Racket-Begriff erfasst werden – genauso wie die subtileren Netzwerke zwischen Politik und Wirtschaft in Deutschland.

Beim Racket-Begriff geht es keineswegs um eine grundsätzliche Verurteilung aller führenden Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – also nicht um die Beschreibung einer allgegenwärtigen Bandenherrschaft. Es geht um das „Mögliche“, das rechtens ist, weil die von Rackets ausgebildeten privilegierten Beutegemeinschaften in unserer Gesellschaft subtile Anerkennung erfahren. Gewiss treiben die Reichen die Gesellschaft nicht bewusst auseinander. Sie machen es auch selten aus politischem Kalkül. Viel öfter ist die soziale Spaltung ein Resultat ihrer naturgemäßen und nicht eingehegten Profitinteressen und der damit verbundenen Ausbeutung von Menschen und der Natur. Der Racket-Begriff hilft uns als Analyseschema, diese Praxis viel konkreter zu kritisieren. Diese Praxis ist kein Kavaliersdelikt. Sie ist strukturell und gefährlich, denn Neoliberalismus und Racket-Herrschaft haben eines gemeinsam: Sie sind beide Feinde der Demokratie.