Ungefähr sechs Frauen wurden 2017 weltweit von einer ihnen bekannten Person vorsätzlich umgebracht – pro Stunde. Von den 87 000 insgesamt ermordeten Frauen fiel weniger als die Hälfte einem Fremden zum Opfer. „Femizid“ bezeichnet unterschiedliche Delikte, die Definitionen variieren. Aber auch wenn Begriffe wie „femicide“ und „feminicidio“ nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell zu unterscheiden sind, stimmen doch maßgebliche Elemente überein: Frauen und Mädchen werden wegen ihres Geschlechts ermordet. Diese Morde gehen auf ungerechte Machtstrukturen zurück, die in „traditionellen“ Geschlechterrollen, Bräuchen und Denkweisen verwurzelt sind. Und im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen und Mädchen sind sie nur die Spitze des Eisbergs.

Angesichts dieser düsteren Lage ist es absurd, wie einige Männer ihren Hass und ihre Gewalt gegen Frauen zu rechtfertigen versuchen. Ein 22-Jähriger, der im August im britischen Plymouth fünf Menschen erschoss, wurde nach der Tat mit der obskuren „Incel“-Bewegung in Verbindung gebracht, die weitgehend im Internet beheimatet ist. „Frauen sind arrogant und unfassbar anmaßend“, hatte der Mörder kurz vor dem Attentat in den sozialen Netzwerken gepostet. Sich selbst bezeichnete er als „verbittert und neidisch“.

Es entsteht eine frustrierte männliche Internet-Community, deren Mitglieder sich als gesellschaftliche Außenseiter wahrnehmen und ihren Zorn vor allem gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Liebespaare richten.

Incel steht für für „involuntarily celibate“. Die Ideologie der Incel-Bewegung fußt auf der Vorstellung einer unfreiwilligen sexuellen Enthaltsamkeit. Diese resultiere daraus, dass bestimmte körperliche, biologische, soziale und mentale Merkmale den Zugang von Männern zu einer Art sexuellem Markt verhinderten. Dieser Markt, so behaupten sie, werde von sogenannten „Chads“ und „Stacys“ beherrscht – Klischeetraummännern und -frauen, die Incels gezielt ausschließen. So entsteht eine frustrierte männliche Internet-Community, deren Mitglieder sich als gesellschaftliche Außenseiter wahrnehmen und ihren Zorn vor allem gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Liebespaare richten. Anders als bei den meisten Femiziden attackieren die Incels oft ihnen unbekannte Frauen: Ähnlich dem Muster von terroristischen Tätern wählen sie ihre Opfer in der Regel willkürlich aus.

In der komplexen Welt des inländischen Extremismus und Terrorismus nehmen die Incels einen merkwürdigen Sonderplatz ein. Sie sind als Gruppe vielleicht insgesamt nicht so gefährlich wie weiße Überlegenheitsfanatiker oder dschihadistische Salafisten, doch sie schüren Angst und lösen aufgeheizte Debatten aus. Ihre bizarren Glaubenssätze überschreiten ideologische Grenzen. Der Rechtsextremist, der in Halle ein Attentat auf eine Synagoge und einen Dönerimbiss beging, verwendete diverse in Incel-Chatrooms übliche Wendungen. Unabhängig von ihrer ideologischen Einordnung geht von den gewalttätigen Elementen der Bewegung aber eine terroristische Bedrohung für bestimmte Bevölkerungsgruppen in westlichen Gesellschaften aus.

2020 und 2021 waren schlimme Jahre der Incel-Gewalt. Die meisten Todesopfer gab es bei dem Angriff in Plymouth, bei dem fünf Menschen ums Leben kamen. Aber auch Attentate in den USA und Kanada forderten Opfer und illustrieren die Bedrohungslage in Nordamerika. Der schwerwiegendste Fall in den USA ereignete sich in Glendale, Arizona, wo ein ortsansässiger Incel im Mai 2020 in einem Einkaufszentrum das Feuer auf Paare eröffnete. Drei Menschen wurden verletzt. In Toronto wurde ein Teenager wegen einer terroristischen Straftat angeklagt, nachdem er eine Frau in einem Massagesalon getötet hatte.

Im Fall der Incels könnte sich die Sorge um eine pandemiebedingte Radikalisierung von Extremisten bestätigen.

Terrorabwehrspezialisten verweisen oft auf die Verknüpfung von Absicht und Fähigkeit: Wenn beides aufeinandertrifft, ist ein Terroranschlag unvermeidlich. Bei Incels übersteigt die Absicht oft die Fähigkeit: Dass die Gewaltakte in den letzten zwei Jahren nicht schlimmer ausfielen, lag nicht an mangelnder Absicht, sondern an der Inkompetenz der Attentäter und guter Polizeiarbeit. In Virginia beispielsweise verlor ein junger Mann, der einen Angriff auf „heiße Cheerleader“ geplant hatte, durch eine Explosion beim Bombenbau eine Hand. Aber solange die Absicht fortbesteht, hält auch die Gefahr an.

Im Fall der Incels könnte sich die gravierende Sorge um eine pandemiebedingte Radikalisierung von Extremisten besonders bestätigen. Experten befürchten, dass gerade die Probleme, die in der Pandemie stark ausgeprägt sind – Isolation, Einsamkeit, Langeweile und zu viel Zeit im Internet – dem Extremismus neue Nahrung geben könnten. Für die Radikalisierung der Incels ist die Pandemie so gefährlich, weil diese Faktoren – anders als bei anderen extremistischen Bewegungen – tatsächlich Bestandteile der Ideologie sind. Incels, die sich im Netz radikalisieren, beklagen unablässig, dass sie keine Freunde haben und keine Aussicht auf eine Liebesbeziehung, dass sie Tag für Tag alleine zu Hause sitzen, sich in der Schule oder mit der Jobsuche schwertun. In der Pandemie haben sich genau die Empfindungen und Situationen, die Incels in die Radikalisierung führen, noch intensiviert. Hinzu kommt, dass die Incel-Ideologie quasi selbstverstärkend wirkt.

Die Incel-Bewegung verbreitet sich auch in Europa.

Die meisten Gewalttaten durch Incels fanden bislang in Nordamerika statt. Doch die Bewegung verbreitet sich auch in Europa, wie mehrere Verhaftungen in Schottland und England und das Attentat in Plymouth zeigen. Auch in Deutschland und Italien mobilisieren Incels zu Gewalt. Incels illustrieren beispielhaft eine anhaltende Entwicklung im Terrorismus: Bewegungen, die man bisher auf ein Land beschränkt glaubte, überschreiten Grenzen und Ozeane, breiten sich entlang der Tentakel der sozialen Netzwerke rasch aus und radikalisieren Neulinge in weiteren Ländern. Da sie den traditionellen Konzepten der nationalen Antiterrorbehörden nicht entsprechen, sind sie deutlich schwieriger zu bekämpfen. Die Incel-Ideologie ist nicht von Haus aus „westlich“ – eine weitere Ausdehnung, etwa nach Asien, wird kaum zu verhindern sein.

Incels finden in den Medien viel Beachtung, doch gibt es auch andere frauenfeindliche Bewegungen. Sie sind nicht minder gefährlich und werden durch eine zu starke Fixierung auf die „Incels“ womöglich übersehen. Das eindrücklichste Beispiel ist das Attentat in Atlanta Anfang dieses Jahres, bei dem Frauen in mehreren Massagesalons mit überwiegend asiatischstämmiger Kundschaft ins Visier genommen wurden. Der Attentäter war kein Incel, verband aber in vergleichbarer Weise eine tiefe sexuelle Kränkung mit einer in diesem Fall rassistisch ausgerichteten Ideologie. Neben der Gefahr durch konkrete Bewegungen wie Incel muss daher die Bedrohung durch Frauenfeindlichkeit und männliche Überlegenheitsfantasien insgesamt im Blick behalten werden.

Es wird kontrovers diskutiert, wie am besten gegen die Bewegung vorgegangen werden kann und ob man sie als „terroristisch“ einstufen sollte. Kanada hat sich dafür stark gemacht, Incel-Gewalt als „Terrorismus“ zu klassifizieren, was eine erhitzte Debatte ausgelöst hat. Die USA scheinen, wenn auch mit Vorbehalten, dem kanadischen Beispiel zu folgen. Allerdings muss man sich fragen: Hilft oder schadet die Einstufung als „Terrorismus“ bei der Bekämpfung der Incel-Gewalt?

Der Terrorismus-Begriff und die möglichen rechtlichen Implikationen sollten ideologisch motivierten Gewalttaten vorbehalten bleiben, die eindeutig eine klar definierte „Fremdgruppe“ ins Visier nehmen.

Erschwert wird die Diskussion dadurch, dass nicht alle von der Incel-Bewegung inspirierten Gewaltakte dieselben ideologischen Komponenten beinhalten. Das erste als solches bezeichnete „Incel-Attentat“ wurde von einem bewaffneten Mann auf das Haus einer Studentinnenverbindung in Isla Vista, Kalifornien, verübt. Der Täter bekannte sich im Internet zum Attentat und stellte es in Zusammenhang mit der Incel-Ideologie. In Plymouth geschah das dagegen nicht. Der Terrorismus-Begriff und die möglichen rechtlichen Implikationen sollten ideologisch motivierten Gewalttaten vorbehalten bleiben, die eindeutig eine klar definierte „Fremdgruppe“ ins Visier nehmen. Er passt zu einigen, aber nicht zu allen Gewaltakten mit Incel-Bezug, auch nicht zu dem Attentat in Plymouth.

Bei Incel haben wir es mit einer Bewegung von männlichen Überlegenheitsfanatikern zu tun, die Extremisten hervorbringt. Bei Letzteren ist das Risiko von Attentaten hoch. Die Bewegung profitiert von der Pandemie und expandiert geographisch. Sie ist aber nur eine von vielen Gruppierungen, die männliche Überlegenheitsvorstellungen pflegen. Für die Terrorbekämpfung der Post-Covid-Zeit bedeutet das, diese Trends weiter zu erforschen und genau im Auge zu behalten.

Aus dem Englischen von Anne Emmert