Ein Blick auf die Zahlen zeigt eine Erfolgsgeschichte – Deutschland gehört weltweit zu den Staaten, die die meisten Menschen aus Afghanistan aufgenommen haben. Die Realität zeichnet jedoch ein anderes Bild: Zu groß ist das Leid der vielen Menschen, gegenüber denen die Bundesrepublik eine Verantwortung hat. Zwar hat die Bundesrepublik seit August 2021 mehr als 22 000 Afghaninnen und Afghanen evakuiert, darunter knapp 70 Prozent der Ortskräfte, die eine Aufnahmezusage von der Bundesregierung erhalten haben. Hilfsorganisationen weisen aber darauf hin, dass Tausende Menschen, die mit Deutschland am Hindukusch zusammengearbeitet haben, noch keine solche Zusage erhalten haben, obwohl sie aufgrund ihrer Tätigkeit akut bedroht sind.

Viele von ihnen qualifizieren sich wegen ihrer befristeten Werkverträge aber nicht für das sogenannte Ortskräfteverfahren – zum Beispiel Polizeiausbilder in einem Projekt der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Den Taliban ist es jedoch gleichgültig, ob man als Angestellter oder Selbstständige den Westen unterstützt hat: Entscheidend für sie sind die Taten, nicht die Vertragsform.

Neben den Ortskräften gibt es auch viele Aktivistinnen und Aktivisten, die dem Versprechen von Freiheit und Demokratie gefolgt sind und nun deshalb von den Taliban oder anderen radikalen Gruppen verfolgt werden. Oder die zahlreichen vulnerablen Gruppen mit einem besonderen Schutzbedarf – zum Beispiel aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität, Sexualität oder Minderheitenzugehörigkeit. All diese Menschen hätten in einem Asylverfahren in Deutschland sehr gute Aussichten auf Anerkennung ihres Schutzersuchens. Doch sie sind nicht in Deutschland, sondern in Afghanistan, wo sie allein auf die Gunst westlicher Staaten hoffen können. In der Zwischenzeit müssen sie irgendwie ihr Überleben sichern – in geheimen Verstecken, in Safe Houses, in Kellern von Verwandten und Freunden.

Einigen dieser Menschen könnte Deutschland mit den Instrumenten für humanitäre Aufnahme helfen, wie etwa dem des Bundes nach § 23, Absatz 2 Aufenthaltsgesetz oder dem der Bundesländer nach § 23, Absatz 1 AufenthG. Ein Rechtsanspruch auf Aufnahme besteht jedoch nicht. Solche Programme sind das Ergebnis politischer Entscheidungen, wie sie im Fall von Afghanistan bereits im vergangenen Jahr getroffen wurden. Denn im Regierungsvertrag der Ampel-Koalition steht: „Wir werden ein humanitäres Aufnahmeprogramm des Bundes (…) verstetigen und dieses jetzt für Afghanistan nutzen.“ Mit anderen Worten hat sich die Bundesregierung verpflichtet, ihrer internationalen Verantwortung gegenüber akut gefährdeten Menschen in Afghanistan mit direkten Aufnahmen nachzukommen.

Ein Rechtsanspruch auf Aufnahme besteht jedoch nicht.

Dabei kann die Regierung sowohl die Kriterien als auch den Umfang und die Rahmenbedingungen der Aufnahme selbst festlegen. Wenn das politische Interesse vor allem auf besonders gefährdeten Gruppen liegen sollte, wie im Fall von Afghanistan, stellt sich eine Reihe von Fragen: Wie kann man sicherstellen, dass man von allen verfolgten und bedrohten Menschen jene aussucht, die in der größten Gefahr schweben? Wie kann man den gerechten Zugang zum Programm gewährleisten? Wie mit der enormen Nachfrage umgehen?

Vorbilder und Erfahrungen, auf die man hier zurückgreifen könnte, gibt es nicht sehr viele. Zwar hat die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten viele Ad-hoc-Umsiedlungsaktionen für Schutzbedürftige durchgeführt, allerdings waren die Rahmenbedingungen sehr unterschiedlich. Ein ähnliches Bundesaufnahmeprogramm startete 2013 für syrische Flüchtlinge. Kann man aus diesem Programm etwas für die gegenwärtige Bemühung, Menschen aus Afghanistan zu helfen, lernen? Die Antwort lautet: Ja. Erstens braucht es belastbare Strukturen, die die vielen Hilfesuchenden unterstützen. Zweitens braucht es fach- und ortskundige Experten, die die Fälle auf ihre Glaubhaftigkeit hin prüfen. Drittens muss allen beteiligten Akteuren klar sein, dass ein solches Programm eine unglaubliche organisatorische Herausforderung darstellt.

In Afghanistan ist diese Herausforderung nochmal um einiges größer, denn wir sprechen hier über eine Aufnahme aus dem Verfolgerstaat selbst. Deutschland unterhält keine diplomatischen Beziehungen zur Taliban-Regierung. Internationale Organisationen, wie das UNHCR, stehen für einen Auswahlprozess vor Ort nicht zur Verfügung. In Afghanistan selbst kann im Grunde keine Organisation eine Auswahl treffen, denn dies würde ihre Mitarbeitenden einer direkten Gefahr aussetzen. Also müssen andere Wege gefunden werden, um die humanitäre Aufnahme zu ermöglichen.

Deutschland unterhält keine diplomatischen Beziehungen zur Taliban-Regierung.

Die Bundesregierung hat deshalb angekündigt, dass sie die Zivilgesellschaft in Deutschland bei der Programmgestaltung einbinden möchte. Dies ist sicherlich ein sinnvoller Schritt, den auch andere Staaten – zum Beispiel Schweden oder Großbritannien – gegangen sind. Die grundlegende Frage des Zugangs zum Programm kann aber nur der Staat selbst beantworten. Die chaotische Evakuierung am Flughafen von Kabul vor genau einem Jahr hat sich mit ihren dramatischen Bildern in die kollektive Erinnerung eingebrannt. Aber fernab der Kameras haben sich Hunderttausende Menschen direkt an die Bundesregierung, Politik und Zivilgesellschaft in Deutschland gewandt, mit der Bitte um Hilfe. Der Umgang mit diesen Anfragen ist bis heute nicht abschließend geklärt. Politisch wurde vielfach auf das humanitäre Aufnahmeprogramm hingewiesen.

Die Programme zur humanitären Aufnahme sind für Krisensituationen als Ad-hoc-Lösungen gedacht. Jede Krise ist nur in ihrem spezifischen Kontext zu verstehen. Allerdings darf dies nicht wiederholt zur Überforderung führen. Die Bundesregierung sollte deshalb die gegenwärtige Herausforderung zum Anlass nehmen, um resiliente Strukturen für die Anmelde- und Selektionsprozesse in Aufnahmeprogrammen dieser Art aufzubauen. Wenn man aus dem Verfolgerstaat selbst evakuiert wird oder aus anderen Gründen institutionelle Partner vor Ort die Auswahl der aufzunehmenden Personen nicht treffen können, braucht es in Deutschland eingespielte Mechanismen, um die vielen Hilfegesuche zu filtern und gezielt Aufnahmeberechtigten zu helfen. Dies wird Ressourcen kosten, aber die Investition ist wichtig und zweifelsohne notwendig, denn solche Krisensituationen sind auch in Zukunft zu erwarten. Institutionelle Zugangswege zu etablieren, bedeutet keineswegs, die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft außen vor zu lassen. Ihre Expertise über die Bedingungen vor Ort sowie über die Aufnahme und Integration in Deutschland sollte in Beratungsprozessen im Vorfeld von humanitärer Aufnahme weiterhin herangezogen werden.

Außerdem zeigen die Debatten um Afghanistan, dass es gerade in Notfällen komplementäre Zugangswege braucht. Die Nachfrage nach humanitären Aufnahmeprogrammen fiele womöglich nicht so groß aus, wenn es bessere Lösungen für die Ortskräfte gäbe. Oder wenn Menschen mit einem Anspruch auf Familiennachzug zu ihren Verwandten in Deutschland diesen zügiger durchsetzen könnten, statt jahrelang auf die Zusammenführung zu warten. Auch dürfen die Geretteten nach ihrer Aufnahme nicht allein gelassen werden. Der Staat muss weiterhin gewährleisten, dass sie ausreichend Zugang zu den Unterstützungs- und Integrationsstrukturen bekommen. Diese in der Planungsphase von vornherein mitzudenken, ist unerlässlich.

Humanitäre Aufnahmeprogramme sind kein Allheilmittel in der Flüchtlingspolitik. Sie können nur einer sehr begrenzten Anzahl von Menschen helfen. Damit sie ihre Wirkung aber überhaupt entfalten können, müssten sie auf festen, institutionellen Füßen stehen.