Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Sie sind ein beharrlicher Kritiker der europäischen Migrationspolitik und verweisen auf die hohe Zahl illegaler Grenzübertritte an den Außengrenzen der EU. Wie dramatisch ist die Situation momentan?

Im Augenblick ist die Zahl der irregulären Einreisen nach Europa höher denn je und sogar höher als 2015. Wenn wir daran nicht schnell etwas ändern, wird das für die meisten Staaten sowie auch für die Kommunen gewaltige Auswirkungen haben. Österreich zum Beispiel verzeichnete in den vergangenen zwei Jahren rund 170 000 Asylsuchende. So viele Anträge kann ein Land nicht bearbeiten. Viele Menschen reisen aus Ländern ein, die eine sehr niedrige Anerkennungsquote haben. So kann es nicht weitergehen. In Belgien – insbesondere in Brüssel – sind viele Menschen nicht angemessen untergebracht. In den Niederlanden sind die Zahlen sehr hoch, ebenso in der Schweiz und in Deutschland. Die 40 000-Einwohner-Stadt Pirmasens hat bereits 2 000 Geflüchtete aufgenommen. Wenn den Menschen angemessene Unterbringung, Bildung, Sprachunterricht und ein Zugang zum Arbeitsmarkt geboten werden soll, sind solche Zahlen auf lange Sicht gesellschaftlich nicht tragbar.

2018 wurde in Dänemark das sogenannte „Anti-Ghetto-Gesetz“ verabschiedet, das in festgelegten „gefährdeten Gebieten“ den Anteil von Menschen „nichtwestlicher Herkunft“ auf weniger als 30 Prozent reduzieren soll. Haben Sie in den Jahren seither Veränderungen zum Positiven festgestellt?

Eines muss ich klarstellen: Als 2019 die Sozialdemokraten die Regierung übernahmen, haben wir das Wort „Ghetto“ gestrichen, weil dieser Begriff sehr belastet ist. Davon abgesehen, bin ich der Meinung, dass es in etlichen gefährdeten Wohngebieten sehr positive Entwicklungen gegeben hat. In dem größten dieser Gebiete in Kopenhagen konnten wir den Anteil derjenigen, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind, von 40 auf rund 21 Prozent senken. Das macht einen enormen Unterschied aus. Die Auswirkungen für die lokalen Gemeinwesen vor Ort kann man kaum überbewerten. Es ist wichtig, dass die Kinder, die in diesen Gebieten aufwachsen, etwas aus ihrem Leben machen können – wobei es nicht darauf ankommt, ob sie einen ausländischen oder einen dänischen Hintergrund haben.

Es geht nicht nur um eine restriktivere Politik.

In vielen Städten geht es nicht nur darum, in einem bestimmten Gebiet die Bevölkerungsstruktur zu verändern. Um bessere Lebensbedingungen zu schaffen, reißen wir manche Plattenbauten aus den 1960er-Jahren wegen der schlechten Bauqualität ab. In Kopenhagen werden gezielt Schulen in besonders instabilen Stadtteilen gefördert und bekommen pro Kind doppelt so viel Geld wie Schulen in wirtschaftlich besser gestellten Vierteln. Es geht nicht nur um eine restriktivere Politik, sondern darum, in diesen Gebieten in Sozialprogramme zu investieren und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass die nächste Generation eine bessere Zukunft hat.

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) prüft derzeit im Rahmen einer öffentlichen Anhörung, ob das Gesetz rechtmäßig ist. Viele bezeichnen es als „grausam“ und kritisieren, es schüre Fremdenfeindlichkeit. Was entgegnen Sie diesen kritischen Stimmen?

Das halte ich für eine bürgerliche, sozialistische Sicht der Dinge. In Dänemark ist diese Rhetorik von Leuten zu hören, die in gut situierten, interessanten und kreativen Stadtvierteln leben, in denen Integration nicht die Belastung bedeutet, die sie in anderen kommunalen Gemeinwesen ist. Wer zahlt gegenwärtig den Preis für eine liberale Migrationspolitik? Vor allem die Arbeiterviertel, in denen viele Migranten leben! Wenn ich solche kritischen Stimmen höre, frage ich mich, ob die Betreffenden jemals in einem Gebiet mit so einer Bevölkerungszusammensetzung gewohnt haben. Wenn sie das getan hätten, würden sie verstehen, dass das Fundament einer Gesellschaft mit gutem Zusammenhalt und hohem sozialstaatlichen Niveau auf Vertrauen und gegenseitigem Verständnis beruht.

Wie wichtig war der Wandel der Migrationspolitik für die Sozialdemokraten in Dänemark?

2015 war ein entscheidendes Jahr für die Sozialdemokraten, aber auch für die politische Landschaft in Dänemark insgesamt. Damals hatten wir sehr hohe Migranten- und Flüchtlingszahlen. Im Fernsehen sahen wir Migranten und Geflüchtete zu Fuß auf den Autobahnen aus Deutschland ins Land kommen. Viele von ihnen wollten nach Schweden. Diese Bilder haben ein Gefühl von Kontrollverlust vermittelt. Dadurch hat sich unsere Sicht verändert. Wir halten es für wichtig, dass der Aufenthalt befristet wird. Das bedeutet: Wer keinen internationalen Schutz mehr braucht, sollte in sein oder ihr Herkunftsland oder vorheriges Wohnsitzland zurückkehren.

Welches ist die wichtigste Integrationsmaßnahme, die ihre Partei neu eingeführt hat?

Wir haben inzwischen vieles verändert, aber ein sehr wichtiger Schritt war aus meiner Sicht das Bemühen, die Bildung von Parallelgesellschaften in gefährdeten Gebieten zu verhindern. Auch unsere Rückführungspolitik ist heute wirksamer. Unsere Regierung nimmt diese Dinge sehr ernst. Zentral ist, dass demokratisch beschlossene Grundsätze eingehalten werden. Die Regierungen in Europa müssen eine proaktivere Haltung entwickeln und zuverlässig dafür sorgen, dass Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus das Land verlassen. In Dänemark verfahren wir seit fünf Jahren so. In Deutschland und vielen anderen Ländern bleiben momentan Menschen im Land, die nicht auf internationalen Schutz angewiesen sind und deren Asylanträge bereits abgelehnt wurden. Wenn man die eigene Rückführungspolitik unter Kontrolle hat, kann man offen und seriös darüber diskutieren, wie viele Geflüchtete man verkraftet. Die Basis für diese Diskussion müssen aber demokratische Spielregeln und Prinzipien sein.

Viele Befürworter einer restriktiveren Migrationspolitik aus dem linken Spektrum verweisen auf Dänemark, nachdem die Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren damit so große Erfolge erzielt haben. Bei den Europawahlen schnitt Ihre Partei allerdings nicht so gut ab wie bei früheren Wahlen. Worauf führen Sie das zurück?

Der Hauptgrund für das schlechte Wahlergebnis ist, dass wir zum ersten Mal in einer Koalition mit der Liberalen Partei Venstre regieren, die historisch gesehen unsere Kontrahentin ist. Diese Regierung ist mit einer Großen Koalition in Deutschland vergleichbar, wobei für die dänische Bevölkerung solche Konstellationen ungewohnt sind. Bei uns gibt es häufig Minderheitsregierungen. Für die meisten dänischen Bürgerinnen und Bürger ist die Sozialdemokratische Partei eine Verfechterin des Sozialstaats, während der rechte Koalitionspartner für weitere Steuersenkungen eintritt. Jetzt müssen wir aber gemeinsam regieren. Ich glaube, das irritiert viele.

Welche Rolle spielte das Migrationsthema?

Migration war kein sehr großes Thema. Grundsätzlich herrscht in Dänemark in der Migrationsfrage ein breiter Konsens. Nur einige wenige Parteien am äußeren rechten und linken Rand stehen außerhalb dieses Konsenses. Aber schätzungsweise 80 bis 85 Prozent der dänischen Bevölkerung sind der Meinung, dass wir auf der einen Seite nicht unbegrenzt viele Geflüchtete aufnehmen können und auf der anderen Seite natürlich an internationale Menschenrechtsabkommen und Flüchtlingskonventionen gebunden sind, an die wir uns strikt zu halten haben.

Grundsätzlich herrscht in Dänemark in der Migrationsfrage ein breiter Konsens.

Die radikale Rechte hat in Dänemark ihre höchsten Wahlergebnisse 2015 erzielt. Damals kam sie auf 21 Prozent. Bei den letzten Parlamentswahlen blieb sie unter drei Prozent. Seit wir an der Regierung sind, ist es uns gelungen, die populistische Rechte zu demontieren oder zumindest ins Abseits zu drängen. Das ist ein großer Erfolg.

Aber schauen wir auf die andere Seite des politischen Spektrums: Bei den Europawahlen holte die linksgrüne Sozialistische Volkspartei die meisten Stimmen.

Sie vertritt in der Migrationspolitik nahezu dieselben Positionen wie wir. Im Parlament trägt sie häufig die Gesetzesvorlagen der Regierung mit. Bei manchen Themen ist sie sogar noch strikter als wir – zum Beispiel im Umgang mit den Mohammed-Karikaturen. Sie ist für eine verpflichtende Regelung, nach der die Karikaturen mit allen Schülerinnen und Schülern im Unterricht behandelt werden müssen, während wir der Meinung sind, das sollte eher vor Ort auf lokaler Ebene entschieden werden.

Sowohl Deutschland als auch Dänemark haben mit Fachkräftemangel zu kämpfen. Führt ein harter Kurs bei der irregulären Migration nicht zu, dass das betreffende Land auch für reguläre Migration unattraktiver wird?

Ich verstehe nicht, warum Deutschland Schwierigkeiten haben sollte, gut ausgebildete Arbeitskräfte anzuziehen. Wenn man in Ländern, die weniger wohlhabend sind als Deutschland, wie zum Beispiel in der Türkei, in Tunesien oder Albanien die Menschen fragt, wohin sie zum Arbeiten auswandern möchten, sagen sie überall auf der Welt: nach Deutschland. Zu uns nach Dänemark kommen jedes Jahr Tausende Menschen aus europäischen Ländern wie Rumänien, Polen oder Spanien und zum Beispiel auch aus Indien, um hier zu arbeiten. Diese Menschen sind sehr hoch qualifiziert.

Bei uns gibt es eine Grenze, die bei einem Mindestjahresgehalt von 50 000 Euro liegt. Wer aus einem Nicht-EU-Land kommt und ein Einkommen von weniger Einkommen als 50 000 Euro hat, bekommt keine Aufenthaltserlaubnis. Damit wollen wir Konkurrenz bei gering qualifizierten Beschäftigungen verhindern. Wir versuchen, Hochqualifizierte anzuziehen, und das gelingt uns gegenwärtig.

Wie nehmen Sie die Migrationsdebatte in Deutschland wahr? Und welchen migrationspolitischen Kurs würden Sie den Sozialdemokraten in Deutschland und anderen europäischen Ländern empfehlen?

Gerade für Sozialdemokraten ist wichtig, dass darüber diskutiert wird, wie viele Menschen kommen können, ohne dass der funktionierende Wohlfahrtsstaat gefährdet wird. Der Bundestag und andere Parlamente in Europa sollten eine Debatte darüber führen, wie viele Menschen ihr Land integrieren kann. In dieser Debatte sollten wir nicht von einer nationalistischen oder kulturkämpferischen Perspektive oder von der Vorstellung leiten lassen, das eigene Land werde von der Migration erdrückt. Das ganze Gerede vom „Untergang des Abendlandes“ hilft kein Stück weiter. Was man meiner Meinung nach deutlich machen muss, ist, dass die Hauptleidtragenden einer breiten und unkontrollierten Zuwanderung die Menschen am unteren Ende der Gesellschaft sind. Wenn aufgrund von wirtschaftlichem Druck der deutsche Sozialstaat leidet, sind es die Geringqualifizierten und Einkommensschwachen, die die Zeche zahlen, und nicht die Leute in Starnberg oder Charlottenburg. Migration unter sozialen Aspekten zu analysieren, halte ich für ausgesprochen wichtig. Das muss ohne die ganze nationalistische Rhetorik geschehen, die auch Teil der deutschen Debatte ist.

Ich bin kein Berater der SPD. Sie sollte ihre eigene Politik machen – sie ist schließlich die älteste und wichtigste sozialdemokratische Partei der Welt. Ich würde aber sagen: Jedes Land in Europa kann eine besser funktionierende Rückführungspolitik betreiben. Der erste Schritt ist aus meiner Sicht die Erkenntnis, dass in einer Demokratie Regeln befolgt werden müssen. Wenn jemand kein recht hat, im Land zu sein, darf er oder sie nicht bleiben. Das ist meiner Meinung nach einigermaßen unstrittig.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld