Wird alles immer besser oder geht alles vor die Hunde? Für beide Ansichten gibt es wortgewaltige Fürsprecher; wie so häufig liegt die Antwort dazwischen. Wir leben in einer Welt, in der die Dinge sich sowohl zum Besseren als auch zum Schlechteren wandeln. Einerseits nimmt in allen Erdteilen die Lebenserwartung weiter zu und die Kindersterblichkeit weiter ab. Andererseits wird die Idee der Demokratie als Fundament einer besseren Gesellschaft – und die Kompetenz der politischen Entscheidungsträger – heute fundamental infrage gestellt.

Noch besorgniserregender ist, dass die Politiker und Politikerinnen massive Herausforderungen zu bewältigen haben – vom sich beschleunigenden Klimawandel bis zur weltweit immer fragiler werdenden Friedens- und Sicherheitslage. Dieser Aufgabe können sie sich nur stellen, wenn sie sich in vielen Bereichen auskennen und mit verschiedenen Positionen vertraut sind. Dafür sind sie auf die Hilfe von Expertinnen und Experten angewiesen. Diese sind in den letzten Jahren stark unter Beschuss geraten. Doch ohne sie geht es nicht.

Wer in der polarisierten Lebenswelt von heute einen ausgewogenen Standpunkt vertritt, verdient beinahe schon eine Tapferkeitsmedaille. Ezra Klein formuliert es so: „Wenn es um politisch hochbrisante Themen geht, gilt ein ‚Experte‘ nach landläufiger Definition als eine anerkannte Person, die dieselbe Meinung vertritt wie man selbst.“ Nicht nur in den sozialen Medien gefährden Echokammern die differenzierte Auseinandersetzung. Auch selbsternannte Expertinnen, die die kurzfristigen Ziele von Lobbys und Interessengruppen im Auge haben, können die unvoreingenommene Analyse der wirklichen Fachleute übertönen.

Die sozialen Medien bieten vielfältige Möglichkeiten, den Lautstärkeregler hochzudrehen. Jeder kann sich äußern.

Solche Gruppen haben in der Regel eine schwarz-weiße Sicht der Dinge. Ihre Logik lautet: Wer sich am lautesten zu Wort meldet, gewinnt den größten Einfluss. Das mag seine Gründe haben. Doch die sozialen Medien bieten vielfältige Möglichkeiten, den Lautstärkeregler hochzudrehen. Jeder kann sich äußern – ganz gleich, ob seine Äußerung wahr oder falsch ist und ob es sich um Fakten, Meinungen oder bewusste Falschinformationen handelt. Trotz dieser Fallstricke ersetzen die sozialen Medien in zunehmendem Maß die öffentliche Diskussion. Dies hat Auswirkungen auf politische – auch außenpolitische – Entscheidungen.

Neben der Corona-Pandemie und dem Klima ist der Erhalt von Frieden und Sicherheit in einer turbulenten Welt derzeit vielleicht die wichtigste Herausforderung, vor der die Menschheit steht. Die meisten Länder der westlichen Welt betrachten China und Russland als Konkurrenten oder gar als Gegner. Politische Entscheidungsträger – nicht nur in den einzelnen Staaten, sondern auch in Organisationen wie der NATO und der EU – fragen sich, wie sie mit den zahlreichen Problemen fertigwerden sollen, unter anderem mit einer ganzen Palette von Abrüstungsabkommen und mit den Bedrohungen durch den Klimawandel. Gleichzeitig entdecken China und Russland zunehmend ihre Gemeinsamkeiten – häufig in Opposition zu dem, was sie als Einmischung des Westens betrachten.

Welcher Zeitpunkt wäre besser geeignet, um sich Experten ins Haus zu holen und mit ihren Ratschlägen durch die aufgewühlte See zu steuern? Expertinnen mit nuancierten Analysen und unverstelltem Blick für die Prioritäten. Experten, die nachweislich bemüht sind, Probleme zu lösen und nicht durch gegenseitige Schuldzuweisungen zu verschärfen. Expertinnen, deren Blick nicht durch Emotionen und Selbstgerechtigkeit getrübt ist.

Hardliner lehnten alle Kandidaten ab, die sich nicht ihren vorgefassten sicherheitspolitischen Meinungen unterwarfen.

Experten wie der höchst renommierte Matt Rojansky, der über viele Jahre das Kennan-Institut des Wilson Center leitete und bis vor Kurzem als aussichtsreichster Anwärter für die Position des Russlandverantwortlichen im Nationalen Sicherheitsrat der US-Regierung galt, bis Hardliner, die gegen seine pragmatische und offene Haltung opponieren, lautstark gegen ihn zu Felde zogen. Sie lehnten alle Kandidaten ab, die sich nicht ihren vorgefassten sicherheitspolitischen Meinungen unterwarfen. Hierbei geht es zentral um die Beziehungen der USA zu Russland oder China, da es im US-Kongress in beiden Parteien Unterstützer für einen härteren Kurs gibt. Politikerinnen und Entscheidungsträger brauchen jedoch andere Sichtweisen, damit außenpolitische Katastrophen vermieden werden.

Dies ist leider nur eines von vielen Beispielen dafür, wie Lautstärke den Sachverstand aussticht. Je komplexer die Materie ist, umso stärker wird auf schnelle und eindeutige Antworten gedrungen, die häufig weniger auf Wissen als auf Überzeugungen basieren.

Das erleben wir innerhalb der EU, aber auch auf dem europäischen Kontinent und anderswo. Hinter vorgehaltener Hand stellte ein Experte aus einem osteuropäischen Land fest, dass dort wegen des beinahe religiösen Extremismus auf beiden Seiten Sachfragen nur selten öffentlich diskutiert werden. Statt Pro und Kontra gebe es nur Gut oder Böse, Richtig oder Falsch – je nach Standpunkt der jeweiligen Seite. Nach Einschätzung eines europäischen Politikers, der lieber anonym bleiben möchte, ist es inzwischen nicht mehr möglich, die Vertreter verschiedener Seiten, die gegensätzlicher Meinung sind, in ein und demselben Raum zu einem zivilisierten Gespräch zusammenzubringen.

Vorgefasste Meinungen machen eine offene Diskussion unmöglich. Wer nicht bereit ist, die Probleme von unterschiedlichen Seiten zu betrachten und Kompromisse einzugehen, wird mit der Komplexität der Welt nicht fertigwerden.

Vorgefasste Meinungen machen eine offene Diskussion jedoch per se unmöglich. Wer nicht bereit ist, die Probleme von unterschiedlichen Seiten zu betrachten und gelegentlich Kompromisse einzugehen, wird mit den Komplexitäten der heutigen Welt nicht fertigwerden. Gerade angesichts der heutigen Herausforderungen, die sich auf den gesamten Planeten auswirken, sind wir auf die nüchterne und rationale Analyse und Beratung durch Expertinnen und Experten angewiesen – durch Thinktanks, Universitäten und spezialisierte Nichtregierungsorganisationen. Nuancierte Beratung sollte ein wichtiger Baustein des Entscheidungsprozesses sein – das letzte Wort haben dann die gewählten Politikerinnen und Politiker.

Damit die politisch Verantwortlichen die bestmöglichen Entscheidungen treffen, müssen sie die bestmöglichen Berater um sich scharen. Menschen, die bereit sind, den Mächtigen gegenüber mit ruhiger und besonnener Stimme die Wahrheit zu sagen, und die es verdient haben, durch all das Geschrei hindurch Gehör zu finden – auch wenn die Lösungen, die sie empfehlen, der herrschenden Meinung zuwiderlaufen.

Wir leben in einer Zeit, wie es sie noch nie gegeben hat. Darum gibt es für das, was kommt, keine Blaupause. In dieser Situation braucht es mehr – und nicht weniger – Debatten: aufrichtige, kontroverse und auch hitzige Diskussionen. Nur so kommen die bestmöglichen Lösungen zustande, um nicht nur den unmittelbaren Gefahren und Herausforderungen zu begegnen, sondern auch das Fundament für wirksame und praktikable Langfriststrategien zu legen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld