Ein „Impfpflichterl“ statt einer „Impfpflicht“. „Eine halbe Lösung“. „Typisch österreichisch“. Die Wiener Presse ist sich in ihrem Urteil sehr einig über das österreichische Impfpflichtgesetz, das gestern vom Parlament mit solider Mehrheit beschlossen wurde. Als Vorbild für andere europäische Staaten taugt es nicht – im Gegenteil. Es sollte eine Warnung sein, wie man es nicht macht.
Vorweg: Was genau gilt nun in Österreich? Die Impfpflicht umfasst alle ab 18 Jahren. Die ursprüngliche Idee, sie schon ab 14 Jahren einzuführen, wurde fallengelassen. Auch Schwangere und Genesene bis sechs Monate nach der Positivitestung sind ausgenommen. Amts- und Epidemieärzte dürfen eine Befreiung ausstellen, wenn es dafür gesundheitliche Gründe gibt. Kontrolliert werden soll die Impfpflicht von der Polizei, aber erst nach einer Übergangsphase bis zum 15. März. Dann gibt es auch Strafen: 600 Euro, wenn man das erste Mal ungeimpft erwischt wird, bis zu maximal 3 600 Euro pro Jahr. Es handelt sich dabei um Verwaltungsstrafen, aber anders als sonst darf ein Ungeimpfter die Strafe nicht ersatzweise im Gefängnis absitzen. Offenbar wollte die Regierung keine Märtyrer schaffen.
Das österreichische Impfpflichtgesetz ist eine Warnung an andere europäische Staaten, wie man es nicht macht.
Klar ist, dass die Polizei unmöglich die Einhaltung der Impfpflicht kontrollieren wird können. Per Knopfdruck alle Ungeimpften abzustrafen ginge aber frühestens ab April. Es gibt in Österreich zwar ein nationales Impfregister, aber den Datenabgleich mit dem Melderegister schaffen die Rechenzentren der Republik so schnell nicht. Das Verschicken automatisierter Strafverfügungen ist auch erst bei „epidemiologischer Notwendigkeit“ vorgesehen. Das Gesetz ist bis Ende 2024 befristet, kann aber jederzeit vom Gesundheitsminister aufgehoben werden.
Unterm Strich hat Österreich also ein Impfpflichtgesetz, das wenn überhaupt nur stichprobenartig kontrolliert werden kann. Wer es sich leisten kann, kann sich freikaufen. Es ist mehr Drohkulisse als Pflicht, und ob es Sinn macht, ist sowieso fraglich.
Das neue Gesetz ist mehr Drohkulisse als Pflicht, und ob es Sinn macht, ist sowieso fraglich.
Vergeblich argumentierte der Public-Health-Experte Gerald Gartlehner, der in den österreichischen Medien omnipräsent und von der Bedeutung vergleichbar mit Christian Drosten ist, dass Omikron die Karten neu gemischt habe und die Impfpflicht eine Nachdenkpause vertrage. Auch der Epidemiologe Hans-Peter Hutter plädierte dafür, sich mehr Zeit zu nehmen und die Impfpflicht nicht übers Knie zu brechen. Die Exekutive warnte davor, dass Impfnachweis-Kontrollen die ohnehin angespannte Stimmung im Land weiter reizen und das mühsam aufgebaute Image des Polizisten als Freund und Helfer zerstören würden. Juristen warnten vor einer Überforderung der Verwaltung. Gewerkschaften beharrten erfolgreich darauf, dass am Arbeitsplatz 3G gelten muss. Ich darf ungeimpft, aber getestet arbeiten gehen, aber wenn ich auf der Straße in eine Polizeikontrolle gerate, habe ich ein Problem? Rechtsphilosophen – und nicht nur die – kritisierten, was das mit dem Rechtsverständnis der Bevölkerung und ihrem Vertrauen in den Staat machen würde.
Aber die Regierung ließ alle Appelle der Expertinnen und Experten an sich abprallen, mit der Impfpflicht doch lieber abzuwarten, weil sie für die Omikron-Welle ohnehin zu spät komme und der massive Eingriff in die Grundrechte angesichts der milderen Omikron-Variante nicht vertretbar sei. Anders als in Deutschland delegierte sie den Entwurf des Gesetzes nicht ans Parlament, sondern legte im Eiltempo einen Regierungsvorschlag vor. Am 10. Jänner endete die Begutachtung: Eine Rekordzahl von 106 266 Stellungnahmen trudelten ein. Letzten Sonntag präsentierte die Koalition ihren leicht angepassten Gesetzentwurf. Vier Tage später kam der Beschluss bereits im Parlament auf die Agenda.
Ich darf ungeimpft, aber getestet arbeiten gehen, aber wenn ich auf der Straße in eine Polizeikontrolle gerate, habe ich ein Problem?
Warum diese Eile? Die österreichische Impfpflicht entstand in einer Situation höchster innenpolitischer Not. Und sie ist damit ein gutes Beispiel dafür, dass pandemisches Entscheiden niemals von Partei-Interessen getrieben sein sollte. Die Kanzlerpartei ÖVP hatte letzten November ihren Superstar Sebastian Kurz verloren. Die Infektionen stiegen mal wieder rasant an. Kurzens Kurzzeit-Nachfolger Alexander Schallenberg kam seitens der Landeshauptleute immer mehr unter Druck, mit einem Lockdown dagegenzuhalten. In einer nächtlichen Krisensitzung in Pertisau am Tiroler Achensee – Corona und Tirol, das hat in Österreich toxische Tradition – gab Schallenberg nach. Lockdown ja, aber dann brauche es auch ein Signal an all jene, die sich brav geimpft hatten und sich nun zurecht ärgerten, wieder Einschränkungen hinnehmen zu müssen. Voilà, die Impfpflicht war geboren. Schallenberg war kurze Zeit später als Kanzler zwar Geschichte, aber sein Nachfolger Nehammer traute sich nicht zurückzurudern. Die ÖVP hatte Österreich drei Kanzler binnen drei Monaten zugemutet, da sollte zumindest beim Thema Impfen Kontinuität herrschen.
Zeitgleich mit dem Gesetzesbeschluss am Donnerstag legte die Regierung gemeinsam mit der SPÖ, der größten Oppositionspartei, ein „Anreiz- und Belohnungspaket“ im Parlament vor. Österreich bekommt nun parallel zur Impfpflicht auch eine Impflotterie. Jeder Geimpfte kann teilnehmen, auch jene, die schon lange geimpft sind. Als Preis winken 500 Euro in Gutscheinen. Jeder zehnte Stich gewinnt. Gemeinden, die mehr als achtzig Prozent ihrer Einwohnerschaft zum Impfen bewegen, werden vom Bund belohnt. Ein Ort mit 3 000 Einwohnern bekommt bei 80 Prozent Geimpften 30 000 Euro, bei 85 Prozent 60 000 Euro und bei 90 Prozent 120 000 Euro.
Warum hat sich die Regierung nicht gleich dafür entschieden, listig zur Impfung zu locken statt halbherzig abzustrafen?
Warum hat sich die Regierung nicht gleich dafür entschieden, listig zur Impfung zu locken, statt halbherzig abzustrafen? Was hätten sie sich an Rumgewurschtel, wie man in Österreich gerne sagt, wenn etwas komplett verkorkst ist, mit dem Impfpflichtgesetz erspart? „Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält“, lautet ein gern verwendetes Zitat des deutschen Dramatikers Friedrich Hebbel. So gesehen ist die Probe für ein sinnvolles Impfpflichtgesetz in Österreich gescheitert. Zuckerbrot schlägt Peitsche.