In der Asylpolitik ist in den letzten acht Jahren der humanitär-solidarische Grundton, als dessen markanteste Ausdrucksform sich in Deutschland der Slogan „Wir schaffen das!“ von Angela Merkel in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, durch populistisch und rassistisch geprägte Bedrohungsszenarien abgelöst worden. Im Vordergrund der politischen Rhetorik stehen derzeit Gefährdungs- und Abschottungsszenarien, die früh in den Schriften von Thilo Sarrazin sichtbar wurden und inzwischen in vielfältigen semantischen Varianten die politischen Programme von Parteien und Regierungen jeder Couleur in ganz Europa prägen.
Auch die sogenannten bürgerlichen Parteien diskutieren inzwischen über Modelle, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern („Ruanda-Modell“) und formulieren eine Fundamentalkritik an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vor allem bezüglich der menschenrechtlichen Anforderungen an Zurückweisungen an den Außengrenzen und auf hoher See, einschließlich der Seenotrettung durch NGOs.
Was hat sich in den letzten Jahren geändert und zu der überwiegend kritisch-ablehnenden Haltung gegenüber dem geltenden Gemeinsamen Europäischen Asylsystem geführt (GEAS)? Die Beantwortung dieser zentralen Frage verlangt zwar eine komplexe Lageanalyse, lässt aber gleichwohl eine Fokussierung auf zwei wesentliche Gesichtspunkte zu, denen eine zentrale Bedeutung zugewiesen werden kann.
Erstens, die dauerhaft hohe Zahl der Asylbewerber: In der Vergangenheit ebbten hohe Antragstellerzahlen, die vor allem nach dem Beginn von Kriegen und Bürgerkriegen auftraten, nach einiger Zeit wieder ab und es stellte sich ein niedriges bis mittleres Niveau ein, das die Staaten mit den vorhandenen Ressourcen bewältigen konnten. In den letzten Jahren ist durch die Kumulation von fluchtauslösenden Ereignissen ein solcher Rückgang nicht mehr zu verzeichnen und die Prognosen deuten auch für die kommenden Jahre auf anhaltend hohe Antragszahlen hin. Dies hat jedenfalls in den Hauptzielstaaten zu einer dauerhaften hohen Belastung, beziehungsweise Überlastung geführt.
Die EU hat weder auf die Dysfunktionalitäten im Bereich der Zuständigkeitsordnung noch auf die fehlenden wirksamen Mechanismen für eine faire Lastenverteilung reagiert.
Diese Entwicklung führte zweitens dazu, dass das Fehlen einer fairen Lastenverteilung innerhalb der Europäischen Union sowie eines Begrenzungsmechanismus vor allem die Hauptankunftsländer und deren Nachbarstaaten dazu bewegte, die Zuständigkeitsordnung der Dublin-III-Verordnung zu „ignorieren“ und die Sekundäremigration in andere, nicht zuständige Mitgliedstaaten, unter anderem nach Deutschland, zu tolerieren oder gar zu fördern. Versuche dieser Mitgliedstaaten, eine Überführung in die zuständigen Länder durchzuführen, wurden wegen der dort bestehenden systemischen Mängel unter anderem durch den EuGH untersagt. Dadurch wurde die Politik der Obstruktion (in Gestalt der Nichtbeachtung von Unionsrecht) rechtlich legitimiert.
Verstärkt werden diese beiden Hauptfaktoren immer wieder durch kulturkritische antimuslimische, nationalistische und rassistische Elemente als Grundlage einer gegen Einwanderung und die Gewährung von Asyl ausgerichteten politischen Strategie, die in den letzten Jahren in immer mehr Mitgliedstaaten die offizielle Regierungspolitik beeinflusste.
Die Europäische Union hat weder auf die Dysfunktionalitäten im Bereich der Zuständigkeitsordnung (Dublin-Verordnung) noch auf die fehlenden wirksamen Mechanismen für eine faire Lastenverteilung reagiert. Die in ihren praktischen Wirkungen unfaire Zuständigkeitsordnung, die ab 2015 vor allem die Mittelmeerstaaten überproportional belastete, wurde im Wege einer „Selbstregulierung durch Obstruktion“ korrigiert, die zunächst durch die Rechtsprechung und anschließend den Gesetzgeber legitimiert wurde. Damit wurde aber mit Blick auf die unveränderte Ausgangslage für alle Beteiligten auf Dauer ein Anlass für Kritik und neue Obstruktion geschaffen.
Zwar hatte die Europäische Kommission bereits im Jahr 2016 erste Vorschläge für eine Reform des GEAS entwickelt und zur weiteren Beratung vorgelegt. Die Lagerbildung innerhalb der Mitgliedstaaten aufgrund von grundlegenden politischen Differenzen und Interessengegensätzen hatte aber zur Folge, dass bis Mitte 2022 keine substanziellen Verhandlungen stattgefunden haben. Erst die Veränderungen sowohl der Belastungen als auch der Interessenlage nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die damit verbundene (vorübergehende) größere Bereitschaft zu solidarischem Verhalten hat dazu geführt, dass die Verhandlungen innerhalb des Rats ernsthaft vorangetrieben und im Juni und Oktober 2023 ein deutlich weiterentwickelter gemeinsamer Standpunkt beschlossen werden konnte.
Hier offenbart sich eine Schwäche im Bereich des humanitär ausgerichteten Lagers, das sich mit den Fragen der Migrationssteuerung im Sinne einer Begrenzung kaum beschäftigt hat.
Die wesentliche Veränderung im Bereich der Migrationspolitik der letzten zehn Monate dürfte darin bestehen, dass auch im humanitär und menschenrechtlich ausgerichteten politischen Lager erkannt wurde, dass Maßnahmen für eine Begrenzung des Zustroms von Schutzsuchenden unerlässlich ist, wenn der humanitäre Schutz als solcher nicht zur Disposition gestellt werden soll.
Eine solche Position unterscheidet sich grundlegend von Standpunkten, die Einwanderung und humanitäre Aufnahme aus nationalistischen und rassistischen Motiven grundsätzlich ablehnen. Die Herausforderung besteht allerdings darin, diesen Unterschied auch in der Ausgestaltung und der Wahl der Instrumente zum Ausdruck zu bringen. Hier offenbart sich eine Schwäche im Bereich des humanitär ausgerichteten Lagers, das sich mit den Fragen der Migrationssteuerung im Sinne einer Begrenzung kaum beschäftigt hat.
Hinzu kommt, dass etwa in Deutschland nach der Aufnahme von einer Million Menschen aus der Ukraine nicht so sehr die Finanzierung von Maßnahmen, sondern zunehmend auch die personellen Engpässe bei den Aufnahme- und Integrationsmaßnahmen die entscheidende Kapazitätsgrenze markieren. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Fachkräftemangels in der öffentlichen Verwaltung ist hier auch nicht mit einer kurz- oder mittelfristigen Erweiterung der Aufnahmekapazitäten zu rechnen.
Die aktuell zur abschließenden Beratung mit dem Europäischen Parlament vorliegenden Vorschläge zur Reform der GEAS-Rechtsakte stellen vor allem deshalb einen ersten Schritt in die richtige Richtung dar, weil sie erstmalig einen ausgestalteten Solidaritätsmechanismus enthalten. Dieser sieht auch eine jährliche Kapazitätsberechnung vor und führt diesen Aspekt damit erstmalig in das GEAS-Normensystem ein. Daran knüpfen sowohl die Feststellung von Überlastungen als auch die solidarischen Unterstützungsmaßnahmen an (Resettlement, Übernahme von Verfahren, finanzielle Unterstützung), die neu eingeführt werden sollen.
Da keine Änderung bei der Zuständigkeitsordnung vorgesehen ist, wird die grundsätzliche Problematik der fairen Lastenverteilung weiterhin nicht gelöst.
Da aber keine Änderung bei der Zuständigkeitsordnung vorgesehen ist, wird die grundsätzliche Problematik der fairen Lastenverteilung weiterhin nicht wirklich gelöst, sondern auf die Ebene eines verfahrensrechtlich aufwendigen Solidaritätsmechanismus verschoben. Hinzu kommen die erweiterten Instrumente der Zurückweisung in den Verfahren an den Außengrenzen, deren praktische Effekte indes noch schwer zu prognostizieren sind, da sie ganz wesentlich von der Aufnahmebereitschaft von Drittstaaten abhängen. Die Reformvorschläge enthalten deshalb kaum wirksame Elemente, die zu einer Begrenzung der Zahl von Anträgen auf internationalen Schutz in der Europäischen Union führen.
Es verwundert deshalb nicht, dass inzwischen auch in Deutschland Forderungen nach einer grundlegenderen Reform des GEAS auch aus der Mitte der bürgerlichen Parteien formuliert werden. Dazu gehören unter anderem eine Abkehr vom Verbot der Kollektivausweisung sowie die Verlagerung der Durchführung von Asylverfahren in sichere Drittstaaten vor allem in Afrika („Ruanda-Modell“), die der britische Supreme Court kürzlich untersagt hat.
Diese und viele noch weitergehende Vorschläge sind mit einem mehr oder weniger weitreichenden Abbau bestehender menschenrechtlicher Standards verbunden. Sie bringen zudem deutlich zum Ausdruck, dass Migranten aus anderen Kontinenten grundsätzlich in der Europäischen Union nicht erwünscht sind. Damit stehen sie im Widerspruch zu den grundlegenden Werten des Primärrechts zur Asylpolitik und insbesondere der EU-Grundrechte-Charta.
Es ist aber auch davon auszugehen, dass eine auf Abschreckung ausgerichtete Politik deshalb nicht erfolgreich sein wird, weil sie die Menschen nicht davon abhält, sich auf den Weg an die europäischen Außengrenzen zu begeben und internationalen Schutz zu beantragen. Das dürfte nur mit einem Steuerungsmodell gelingen, das auf positive Verbindlichkeit setzt.
Ein solches System kann für die Migration von Fachkräften und gering qualifizierten Arbeitskräften nach dem Vorbild der Westbalkanregelung genutzt werden.
Bei einem solchen Modell könnten zum Beispiel halbjährliche Aufnahmekapazitäten so ausgewiesen werden, dass für Personen mit geklärter Identität, die nicht aus sicheren Herkunftsländern kommen, eine Wahl des Zielstaates im Rahmen der ausgewiesenen Kapazitäten ermöglicht wird. Die damit eröffnete, begrenzte und an Bedingungen geknüpfte Wahlmöglichkeit soll als Anreiz dafür dienen, die Migration in zeitlicher Hinsicht an den ausgewiesenen Kapazitäten auszurichten und dadurch Überlastungen der aufnehmenden Staaten zu vermeiden. Sie würde zugleich eine strengere Vorgehensweise an den Außengrenzen legitimieren, weil ein sicherer Zugangsweg eröffnet wurde.
Ein solches Modell wäre auf Transparenz angewiesen, die mit Hilfe von zusätzlichen digitalen Instrumenten hergestellt werden kann. So müssten über das Internet Anmelde- und Wartelisten installiert werden, die als Grundlage für die Eröffnung eines sicheren Zugangs, auch mit humanitären Visa, Anreize für die Schutzsuchenden etablieren, sich an den ausgewiesenen Kapazitäten zu orientieren. Ein solches System kann zugleich für die Migration von Fachkräften und gering qualifizierten Arbeitskräften nach dem Vorbild der Westbalkanregelung genutzt werden, so dass die auch im Rahmen von Migrationsabkommen verfolgte Strategie einer Verbindung verschiedener Interessen und Steuerungszwecke berücksichtigt werden kann.
An den Einzelheiten eines solchen Modell muss noch intensiv gearbeitet werden, um es in den Details auszugestalten. Es würde aber einen Weg eröffnen, das GEAS im Einklang mit seiner menschenrechtlichen DNA weiterzuentwickeln und könnte dabei an die aktuellen Reformvorschläge anknüpfen.