Der folgende Text ist das Vorwort des Sammelbands „Ideen, Meinungen, Kontroversen“, der im April im Dietz-Verlag erschienen ist.

„Die zunehmende Polarisierung bedroht die Demokratie.“ Aussagen wie diese sind in vielen westlichen Demokratien derzeit häufig zu hören. Der Begriff der Polarisierung bezieht sich dabei insbesondere auf die wachsende Distanz zwischen politischen Positionen. Aber ist es nicht genau die programmatische Konvergenz, die in Deutschland in den Jahren der Großen Koalition fortwährend bemängelt wurde? Wurde nicht insbesondere den beiden Volksparteien vorgeworfen, sich in vielen Punkten inhaltlich kaum mehr voneinander zu unterscheiden?

Die Demokratie lebt als diskursive Herrschaftsform, als „Ideenwettbewerb“ gewissermaßen, von Meinungsvielfalt. Die Tatsache, dass in unserer Gesellschaft unterschiedliche, auch konträre Positionen vertreten werden, ist daher erst einmal kein Anlass zur Sorge. Die Weise, auf die diese Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden, und was sie teils zum Gegenstand haben, schon eher.

Klar ist, dass es auch in einer Demokratie rote Linien geben muss. Die fundamentale Voraussetzung für die Demokratie als System der Mehrheitsentscheidung, so der sozialdemokratische Parlamentarier und Jurist Adolf Arndt, ist die „Einigkeit über das Unabstimmbare“. Für das Schüren von Hass, für die Verbreitung von menschenverachtender Hetze darf es in einer Demokratie keine Toleranz geben. „Zur Abschaffung von Demokratie eignet sich nichts besser als Demokratie“, bringt Peter Sloterdijk deren Angreifbarkeit auf den Punkt. Wer die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu unterlaufen sucht, muss Widerstand erfahren.

Die Anonymität des Netzes hat die kommunikative Verrohung verstärkt, die in den letzten Jahren um sich gegriffen hat – auch außerhalb der sozialen Medien.

Als die sozialen Medien Mitte der 2000er Jahre an Fahrt gewannen, nahmen viele sie als große Chance für die Stärkung der Demokratie weltweit wahr. Andere sahen sie dagegen als Vorboten des einsetzenden Niedergangs der Demokratie. Heute zeigt sich, dass beide Lager in gewisser Hinsicht recht hatten. Die sozialen Medien haben den Zugang zu Wissen und Debatten und die Möglichkeiten der Teilhabe um ein Vielfaches erweitert und erleichtert. Sie haben politische Mobilisierung revolutioniert – im Positiven wie im Negativen. Während sie gerade unter jüngeren Menschen zur wichtigen Plattform für Engagement geworden sind, werden sie auf der anderen Seite eben auch zur Verbreitung von Hassbotschaften und Verschwörungsnarrativen genutzt. Was früher Stammtischgeschwätz war, wird amplifiziert und kann heute weltweit wahrgenommen und weiterverbreitet werden.

Die Anonymität des Netzes hat die kommunikative Verrohung verstärkt, die in den letzten Jahren um sich gegriffen hat – auch außerhalb der sozialen Medien. Der Andersdenkende wird nicht mehr als solcher wahrgenommen und respektiert. Er wird zum Feind, den es zu bekämpfen gilt. Persönliche Angriffe und Beleidigungen treten an die Stelle der argumentativen inhaltlichen Auseinandersetzung. Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben 2021 in einer Umfrage von More in Common an, die öffentliche Debatte als zunehmend hasserfüllt wahrzunehmen. Und immerhin 42 Prozent haben das Gefühl, ihre Meinung gar nicht frei äußern zu können.

Gerade die Art und Weise, wie wir Meinungsverschieden-heiten und Interessenskonflikte austragen, ist maßgeblich für die Qualität der politischen Kultur in unserem Lande.

Dabei ist Aggressivität im öffentlichen Meinungsstreit wahrlich keine neue Entwicklung, bereits in der Antike wurde sie beklagt. Die Reichweite der sozialen Medien und die Möglichkeit zur Anonymität tragen heutzutage jedoch als Brandbeschleuniger zur exponentiellen Ausbreitung dieses Phänomens bei. Studien haben gezeigt, dass Posts, die moralische oder emotionale Botschaften enthalten, tendenziell auf eine größere Resonanz stoßen. Wer rein sachlich argumentiert, hat es also schwerer, Gehör zu finden. Gerade die Art und Weise, wie wir Meinungsverschiedenheiten und Interessenskonflikte austragen, ist jedoch maßgeblich für die Qualität der politischen Kultur in unserem Lande, wie es Wolfgang Thierse treffend beschreibt.

Erschwerend kommt hinzu, dass soziale Medien unsere selektive Wahrnehmung gezielt verschärfen. Mit dem Ziel, unsere Aufmerksamkeit und Loyalität zu binden, wählen Algorithmen Inhalte für uns aus, die unseren erkennbaren Interessen und Ansichten ähneln. Wir werden darin bestärkt, nur das wahrzunehmen, was sich in unserem – ideologischen – Umfeld, in unserer „Echokammer“, unserer „Filterblase“, abspielt. Es entstehen inhaltliche und politische Parallelwelten, die den öffentlichen Diskurs gefährden. Dabei wäre es so einfach: Eine andere Meinung, die die eigene Position herausfordert und bereichert, ist im Internet immer nur einen Mausklick entfernt. Der Trend zum Leben in der ideologischen Filterblase ist jedoch nicht auf die sozialen Medien beschränkt. Er greift auch im „analogen“ Leben um sich. Wir neigen zunehmend dazu, uns mit Menschen zu umgeben, die denken wie wir. In den USA bezeichnet man dieses Phänomen als self-sorting – also als Selbstsortierung in immer homogenere Gruppen.

In seinen Ratschlägen für einen gesunden Umgang mit sozialen Medien empfiehlt der amerikanische Think Tank Center for Humane Technology daher, bewusst Menschen mit anderer Meinung zu folgen und einen offenen Blick zu behalten. Denn: Der Trend, sich in Gruppen Gleichgesinnter einzuigeln, stellt eine ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie dar. Sinkende Toleranz gegenüber Andersdenkenden ist Gift für den demokratischen Meinungsstreit. Die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, andere Meinungen „auszuhalten“ – innerhalb des demokratischen Spektrums wohlgemerkt –, ist für die Demokratie überlebenswichtig.

Wir neigen zunehmend dazu, uns mit Menschen zu umgeben, die denken wie wir. In den USA bezeichnet man dieses Phänomen als „self-sorting“ – also als Selbstsortierung in immer homogenere Gruppen.

Für die wenigsten politischen Herausforderungen gibt es einfache Lösungen. Die komplexen Fragen unserer Zeit – die Gestaltung einer von möglichst vielen mitgetragenen Klimapolitik, der Umgang mit China und Russland, das Engagement für soziale Gerechtigkeit, um nur einige zu nennen – sind nicht nach einem Schwarz-Weiß-Schema zu beantworten. Sie erfordern eine tiefgehende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven und Argumenten.

Lasst uns also streiten. Lasst uns bewusst andere Meinungen suchen und uns mit ihnen auseinandersetzen. Lasst uns den demokratischen Diskurs zelebrieren. Starke Qualitätsmedien sind dafür unerlässlich – überregional und auf lokaler Ebene. Die Tatsache, dass Nachrichten heutzutage binnen Sekunden um den Globus verbreitet werden können, ist zweifellos ein Fortschritt. Die schnelle Information kann aber nicht an die Stelle des Hintergrunds und der Analyse treten.

Als Debattenplattform möchte das IPG-Journal einen Beitrag dazu leisten, dass in der Diskussion um aktuelle Fragen europäischer und internationaler Politik vielfältige Meinungen aus dem In- und Ausland Gehör finden. Ein besonderes Augenmerk liegt für uns dabei darauf, gerade auch zu Ländern und Themen Stimmen zu veröffentlichen, die in der deutschen Medienlandschaft sonst weniger Beachtung erfahren.

In unserem Buch „Ideen, Meinungen, Kontroversen“ haben wir für Sie eine Auswahl der wichtigsten Artikel aus dem vergangenen Jahr zusammengestellt. Wir möchten Ihnen mit diesem Sammelband die Gelegenheit bieten, das politische Geschehen des vergangenen Jahres Revue passieren zu lassen und zu reflektieren. Wir wünschen Ihnen – online und offline – eine anregende Lektüre des IPG-Journals und viel Freude an der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen.