Es ist schwierig, mit Zuversicht auf den aktuellen Zustand der Demokratie zu schauen. Wir werden regelrecht bombardiert mit Schlagzeilen, in denen der „Rückzug“, die „Krise“ und manchmal auch der bevorstehende „Tod“ der Demokratie diagnostiziert werden. In den USA sind sich die Demokraten und die Republikaner zumindest darin einig, dass sich die Demokratie großen Gefahren gegenübersieht. Präsident Biden hat in einer Rede angesprochen, er nehme das weit verbreitete Gefühl wahr, „dass die besten Tage der Demokratie hinter uns liegen“.
Auf der anderen Seite des Atlantiks haben derweil das gute Wahlabschneiden der Fratelli d’Italia, der Schwedendemokraten und Frankreichs Rassemblement National – also von Parteien mit rechtsradikalen, wenn nicht gar neonazistischen Wurzeln – für Warnungen gesorgt, der Faschismus kehre zurück und die Demokratie sei auch in Westeuropa gefährdet, wo sie doch seit Jahrzehnten als unumstößlich wahrgenommen wurde. Eine solche Ansicht ist für viele Kommentatoren, die sich mit europäischer Politik befassen, zu einer Art Reflexhaltung geworden. Der Guardian zum Beispiel erklärte die jüngsten Wahlen in Spanien (als durchaus denkbar war, dass die rechtsradikale Partei Vox Teil einer Regierungskoalition werden könnte) zu nicht weniger als einer „Entscheidungsschlacht im europaweiten Kampf gegen den Neofaschismus“.
Dieser um sich greifende Pessimismus ist nicht gerechtfertigt. Die Entwicklung von Gruppen wie den Fratelli d’Italia, den Schwedendemokraten oder der französischen Rassemblement National ist keine Anzeichen für ein drohendes Ende der Demokratie in Westeuropa. Sie sollten uns vielmehr optimistisch stimmen. Denn diese Parteien haben erkannt, dass sie sich von ihren rechtsextremen Wurzeln entfernen müssen, um Stimmen und politische Macht zu gewinnen. Ihre Forderungen, ihre Wahlprogramme und Appelle müssen gemäßigt werden und sie müssen sich an die demokratischen Spielregeln halten, um erfolgreich zu sein.
Die Entwicklung dieser und anderer westeuropäischer Rechtsparteien zeigt etwas in der Beziehung zwischen Extremismus und Demokratie auf, das zunächst kontraintuitiv scheinen mag: Ob eine extremistische Partei zu einer signifikanten Bedrohung für die Demokratie wird, hängt weniger von der Partei selbst ab als vielmehr von der Art der Demokratie, in der sie aktiv ist. Denn wenn die demokratischen Normen und Institutionen schwach sind, haben Extremisten wenig Anreiz, sich zu mäßigen. Schließlich sind sie in der Lage, Anhänger und möglicherweise auch Macht zu gewinnen, ohne sich an die Spielregeln halten zu müssen. Wenn die demokratischen Normen und Institutionen hingegen stark sind – wie es in Westeuropa seit Jahrzehnten der Fall ist – sind Extremisten in der Regel gezwungen, sich zu mäßigen, da es kaum eine Wählerschaft für explizit antidemokratische, extremistische Forderungen gibt. Solange sie sich nicht mäßigen, sind andere politische Akteure und Institutionen in der Lage, sie von der Macht fernzuhalten. Ein Verständnis dieser Dynamik zwischen Demokratie und Extremismus hat Auswirkungen darauf, wie wir aktuelle Bedrohungen für die Demokratie einschätzen und auf sie reagieren (sollten).
Es ist wichtig, die Wurzeln dieser Parteien nicht zu vergessen oder zu verharmlosen.
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in Westeuropa eine Reihe von rechtsradikalen Parteien wie die Deutsche Reichspartei, die Niederländische Volks-Unie oder die britische National Front. Die meisten fanden wenig Unterstützung und gerieten bald schon in Vergessenheit. Einige haben jedoch überlebt oder sind die Vorläufer der Parteien, vor denen sich heute viele fürchten. Es ist wichtig, die Wurzeln dieser Parteien nicht zu vergessen oder zu verharmlosen – aber dass sie überlebt haben, ist ihrer eigenen Erkenntnis geschuldet, dass sie ohne Mäßigung das gleiche Schicksal erleiden würden wie andere extremistische Gruppen: Ihre Akzeptanz und Popularität wären begrenzt und sie würden von der politischen Machtausübung ausgeschlossen bleiben.
Ein Beispiel für dieses Phänomen ist der französische Front National, eine der wohl einflussreichsten Rechtsparteien in Westeuropa. Dieser war in den 1970er Jahren aus der rechtsextremen Szene Frankreichs hervorgegangen und erhielt in den Anfangsjahren nur wenige Stimmen. In den 1990er und 2000er Jahren stieg der Stimmenanteil der Partei dann an, bevor er bei den Präsidentschaftswahlen 2007 wieder auf 4,3 Prozent zurückfiel. Der kurzzeitige Erfolg der Partei war durch den Radikalismus sowie insbesondere den Rassismus und die Holocaustleugnung des Parteivorsitzenden Jean-Marie Le Pen wieder zunichte gemacht worden. Dies führte wiederum zum familieninternen Coup durch Le Pens Tochter Marine, die ihren Vater aus der Partei drängte und sich in den folgenden Jahren bemühte, die rechte Truppe im öffentlichen Bewusstsein zu „entdämonisieren“.
Marine Le Pen änderte die Rhetorik der Partei, vor allem beim Kernthema Immigration. Sie distanzierte sich von Rassismus und Antisemitismus und erklärte stattdessen, die Partei wolle den französischen Republikanismus und Laizismus gegen diejenigen verteidigen, die ihn ablehnen. Um Glaubwürdigkeit und Ansehen der Partei zu vergrößern, umgab sich Le Pen mit Technokraten, von denen viele enttäuscht von konservativen beziehungsweise gemäßigt rechten Parteien abgewandert waren. In den vergangenen Monaten und Jahren hat Le Pen versucht, das Image ihrer Partei noch weiter zu glätten. So änderte sie den Parteinamen in Rassemblement National, warf ihre explizite Ablehnung der EU über Bord, distanzierte sich von Wladimir Putin (für den sie lange Zeit Verständnis und Sympathie gehegt hatte) und inszenierte sich als freundliche „Katzen-Lady“.
Die Entwicklung der Schwedendemokraten und der Fratelli d’Italia ähnelt der des Front/Rassemblement National. Die Schwedendemokraten wurden 1988 von Mitgliedern extrem nationalistischer und neonazistischer Organisationen gegründet. Wie ihre Vorgänger erhielten sie zunächst nur wenige Stimmen und wurden von den anderen Parteien ausgegrenzt. Um dies zu ändern, schloss die Partei Mitglieder mit Verbindungen zu Neonazi-Gruppen aus, änderte ihr Symbol von einer etwas bedrohlich wirkenden Flamme zu einer blau-gelben Blume und machte deutlich, man wolle sich ausschließlich demokratisch engagieren. Die Schwedendemokraten fokussierten sich weiterhin auf das Thema Einwanderung, entfernten sich aber von den früheren, offen rassistischen Aussagen. Stattdessen behaupteten sie, „lediglich“ Einwanderer abzulehnen, die sich nicht assimilieren wollen, kein Schwedisch sprechen oder die „schwedischen Werte“ nicht teilen. Ebenso wird Migration abgelehnt, wenn deren Ausmaß die Ressourcen des schwedischen Staates „überfordert“.
Dass diese Parteien ihre Politik und Rhetorik gemäßigt haben, spiegelt die grundlegende Stärke der Demokratie in Westeuropa wider.
Die italienischen Fratelli d’Italia gründeten (und beriefen) sich ihrerseits auf das Movimento Sociale Italiano, das von Faschisten nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Fratelli-Chefin Giorgia Meloni hat sich aber rhetorisch vom Faschismus distanziert und betont, dieser sei heute nur noch für die Geschichtsforschung interessant. In diesem Sinne wurde ein Mitglied ausgeschlossen, das sich positiv auf Adolf Hitler bezogen hatte. Meloni beschreibt sich selbst als Konservative und betont, ihre Partei stehe für „traditionell konservative“ Werte und Politik – inklusive niedriger Steuern, harter Grenzen, eingeschränkter Immigration, der Familie als wichtigstem Bezugspunkt, der Bedeutung des Christentums für westliche und italienische Werte etc. Inzwischen betont Meloni sogar ihre Unterstützung für die italienische Mitgliedschaft in EU und NATO. Beim jüngsten NATO-Gipfel erklärte sie in Bezug auf die Ukraine beispielsweise, sie sei „fest entschlossen, das Völkerrecht zu verteidigen“. Dass diese Parteien ihre Politik und Rhetorik gemäßigt haben, spiegelt die grundlegende Stärke der Demokratie in Westeuropa wider. Wenn diese grundlegende Annahme nicht beachtet wird, hat das diverse Konsequenzen.
Erstens wird dadurch Angst und Polarisierung verstärkt. Eine Partei als faschistisch zu bezeichnen, obwohl sie es nicht ist, erzeugt Panik bei denen, die die Partei nicht unterstützen – und Verbitterung bei denen, die sie unterstützen. Wenn sich Angst und Polarisierung erst einmal festgesetzt haben, ist es nur allzu leicht, dass sich diese Trends verstärken. Dies kann zu einer allmählichen Schwächung der demokratischen Normen und Institutionen führen, die bisher einen Schutzwall gegen Extremismus bildeten.
Zweitens hat es sich in Bezug auf Wählerstimmen als ineffektiv erwiesen, eine Partei faschistisch zu nennen, wenn sie es nicht ist. Forschung zur Wählerschaft von populistischen Parteien in Westeuropa hat gezeigt, dass viele der Wählerinnen und Wähler zwar mit der Parteipolitik und dem derzeitigen Funktionieren der Demokratie unzufrieden sind, aber nicht grundsätzlich antidemokratisch eingestellt sind. Sie wollen nicht die Demokratie an sich stürzen, wie es zum Beispiel die Faschisten der Zwischenkriegszeit wollten. Die Wähler und die Parteien, die sie unterstützen, als faschistisch zu bezeichnen, verstärkt daher oft nur die Ressentiments gegenüber „Establishment-Parteien“ und untermauert die Selbstdarstellung, missverstandene und nicht repräsentierte „Außenseiter“ zu sein, die doch nur das Beste für das Land wollen.
Drittens: Parteien als faschistisch zu bezeichnen, wenn sie es nicht sind, trägt zu Missverständnissen über den Zustand der heutigen Demokratie bei. Keine Frage, in den Ländern, die im späten 20. Jahrhundert zur Demokratie übergegangen sind, hat es sicherlich teils erhebliche Rückschritte gegeben. Das ist historisch gesehen aber nicht ungewöhnlich oder überraschend: Bei allen früheren demokratischen „Wellen“ – beispielsweise 1848 und nach dem Ersten sowie Zweiten Weltkrieg – gab es im Nachgang beträchtliche Rückschritte. Nichtsdestotrotz haben viel mehr Demokratien die Welle des späten 20. Jahrhunderts überlebt als die vorherigen. Hinzu kommt: Von den länger etablierten, reichen Demokratien hat nur eine – die der USA – in letzter Zeit einen signifikanten Demokratieverfall erlebt.
Von den länger etablierten reichen Demokratien hat nur eine – die der USA – in letzter Zeit einen signifikanten Demokratieverfall erlebt.
Es ist bemerkenswert, dass demokratische Normen und Institutionen sogar in Ländern wie Italien Bestand haben, wo die Wirtschaft seit Jahrzehnten stagniert und das traditionelle Parteiensystem schon vor längerer Zeit implodiert ist. Gleiches gilt für Griechenland, das in den 2000er und 2010er Jahren eine tiefere Weltwirtschaftskrise erlebte als die, die viele Demokratien in den 1930er Jahren zu Fall brachte. Ähnlich beeindruckend ist die Entwicklung der Demokratien in Spanien und Portugal. Die große Besorgnis über die Vox-Partei (deren Vorsitzender die Entfernung der LGBTQ-Regenbogenflagge von Regierungsgebäuden und die Umdeutung von häuslicher Gewalt in ein „innerfamiliäres“ Problem gefordert hatte) erreichte in diesem Sommer einen fiebrigen Höhepunkt, als die Partei sich anschickte, möglicherweise Teil einer Regierungskoalition und zum „Königsmacher“ für die Konservativen zu werden. Stattdessen war das Wahlergebnis für die Partei überaus enttäuschend: Sie verlor 19 Sitze im Vergleich zur letzten Wahl. Selbst in einem Szenario, in dem Vox eine Koalition mit dem Wahlgewinner, der konservativen Partido Popular, hätte eingehen können, wäre die daraus entstandene Regierung wohl kaum so rechtsradikal gewesen, dass sie eine Gefahr für die spanische Demokratie hätte darstellen können.
Viertens: Wenn wir mit dem Begriff „faschistisch“ um uns werfen und Ängste vor einem demokratischen Niedergang schüren, verpassen wir die Chance, positive Entwicklungen zu fördern. Das Verhaltensmuster in Richtung Mäßigung unter westeuropäischen Rechtsparteien anzuerkennen, bedeutet nicht, das Potenzial für zukünftige Probleme zu ignorieren oder herunterzuspielen. So hat sich zum Beispiel die Republikanische Partei in den USA in die entgegengesetzte Richtung entwickelt als die meisten ihrer westeuropäischen Pendants: Sie hat sich von einer Mitte-rechts- oder konservativen Partei zu einer rechtsradikalen Kraft entwickelt. Das spiegelt die grundlegenden Schwächen der US-Demokratie und die tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft wider. Die Entwicklung der Republikaner ist ein Beispiel dafür, dass unter solchen Bedingungen selbst wohlhabende, traditionsreiche Demokratien einen Demokratieverfall erleben können.
Es ist durchaus möglich, dass die Mäßigung von Parteien wie Rassemblement National, Fratelli d’Italia und Schwedendemokraten rein taktischer Natur ist. Tief in ihrem Herzen mögen die Anführer dieser Parteien weiterhin antidemokratische Bestrebungen hegen. Aber jeder, der an einer Stärkung der Demokratie interessiert ist, sollte dafür plädieren, rechte Parteien weiterhin auf einen gemäßigten Kurs zu drängen – beziehungsweise endlich einen solchen Druck auf Parteien wie die AfD aufzubauen, die tatsächlich ein sehr zweifelhaftes Bekenntnis zur Demokratie ablegen.
Diesen Druck aufzubauen, ist aber nicht möglich, wenn die Idee einer Mäßigung belächelt oder als unmöglich abgetan wird, anstatt sie zu fördern und zu honorieren. Wenn die heutigen Rassemblement National, Schwedendemokraten und Fratelli d’Italia mit den Faschisten und Nationalsozialisten der Zwischenkriegszeit gleichgesetzt werden – also mit Parteien, die nie einen Hehl aus ihrem Wunsch gemacht haben, die Demokratie zu stürzen, und deren gewalttätiges Verhalten niemals durch ihre Teilnahme an Wahlen gemildert wurde –, dann verpassen die Demokraten die Chance, diejenigen Menschen in diesen Parteien zu stärken, die glauben, dass Mäßigung die beste Vorgehensweise für sie ist.
Abschließend: Bei der Beurteilung der Frage, wie man auf rechtspopulistische Parteien reagieren soll, ist es wichtig, zu unterscheiden zwischen Politik, die man nicht mag, und Politik, die die Demokratie bedroht. Politische Haltungen und Programme, die man ablehnt, kann und sollte man mithilfe von Wahlen, der Zivilgesellschaft, der Presse und all den anderen Mitteln bekämpfen, die die Demokratie bietet. Solange Rechtspopulisten die Gesetze, Verfassungen und die demokratischen Spielregeln respektieren, ist es der beste Ansatz, die Wählerinnen und Wähler mit besseren Ideen von diesen Parteien wegzulocken. Je erfolgreicher es den demokratischen Parteien gelingt, die Wählerschaft davon zu überzeugen, dass sie die besten Lösungen für die Probleme unserer Zeit haben, desto mehr werden die Rechtspopulisten sich gezwungen sehen, sich zu mäßigen – und desto stärker wird die Demokratie.
Dieser Artikel erschien zuerst im US-Onlinemagazin Persuasion.
Aus dem Englischen von Tim Steins