Fast genau 100 Jahre nach dem Marsch auf Rom des Faschistenführers Benito Mussolini und seinem Aufstieg in das Amt des italienischen Ministerpräsidenten wurde mit Giorgia Meloni eine Politikerin zur italienischen Ministerpräsidentin ernannt, deren Partei von den ursprünglichen Faschisten abstammt. Erleben wir die Rückkehr eines Faschismus im Kleinformat – eines politischen Phänomens, das seit 1922 weit über Italien hinaus seinen Widerhall gefunden hat?

Diese Frage ist zwar durchaus berechtigt, aber ein allzu großzügiger Umgang mit dem F-Wort könnte es für rechtsextreme Führer noch leichter machen, zu behaupten, ihre Kritiker würden stets übertreiben und deshalb auch die Bedrohung der Demokratie aufblasen. Erwartungsgemäß gab sich Meloni in ihrer Antrittsrede vor dem Parlament daher große Mühe, sich vom Faschismus zu distanzieren.

Betrachtet man die Frage des Faschismus jedoch aus der Gegenwart, gilt es zu berücksichtigen, dass dieser verschiedene Phasen durchlaufen hat. Zwar gibt es heute in Europa oder Amerika keine faschistischen Regime, aber durchaus einige Parteien – auch Regierungsparteien – die sich allmählich in eine stärker faschistische Richtung entwickeln könnten.

Wie bei jeder politischen Weltanschauung kann auch im Falle des Faschismus eine Weiterentwicklung erwartet werden. Der Liberalismus von heute ist nicht mehr das, was er vor 100 Jahren war, und der Konservatismus – nicht zu verwechseln mit einer reaktionären oder gar streng orthodoxen Gesinnung – findet seinen eigentlichen Sinn in der behutsamen Anpassung an sich verändernde Umstände. Charakteristisch für diese Systeme sind grundlegende Werthaltungen, die im Laufe der Zeit erkennbar bleiben sollten. Liberale erzählen Geschichten über die Freiheit, Konservative über die Gefahren des schnellen Wandels und die Grenzen menschlicher Vernunft bei der Umgestaltung der Gesellschaft.

Was die Faschisten von anderen unterschied, war ihre Verherrlichung des gewaltsamen Kampfes und des Heldenmuts im Krieg.

Und die Faschisten? Zunächst einmal waren sie allesamt Nationalisten, die eine nationale Wiedergeburt versprachen – also ihr jeweiliges Land wieder zu alter Größe zurückzuführen. Doch nicht bei allen Nationalisten handelt es sich um Faschisten, und viele Politiker versprechen irgendeine Form der Erneuerung. Was die Faschisten historisch von anderen unterschied, war ihre Verherrlichung des gewaltsamen Kampfes und des Heldenmuts im Krieg. Sie propagierten auch strikte geschlechtsspezifische, nationale und völkische Hierarchien, wobei man davon ausging, dass vor allem die „Rassen“ in einem ständigen und tödlichen Konflikt stehen.

Die extreme Rechte ist zweifellos bestrebt, traditionelle Geschlechterrollen und -hierarchien wiederherzustellen, und sie bezieht einen Großteil ihrer Energie aus einer unerbittlichen Politik der Ausgrenzung: Fremde müssen draußen bleiben, damit nicht letzten Endes die vorherrschende Gruppe im Inneren durch Zugewanderte ersetzt wird. Aber auch von innen droht vermeintlich Gefahr: nämlich von den „liberalen Eliten“ und Minderheiten, die nach Ansicht der Rechtspopulisten nicht zum „wahren Volk“ gehören.

Diese Politik der Ausgrenzung geht jedoch nicht unbedingt Hand in Hand mit einer Verherrlichung von Gewalt und Kampf als Mittel, um Menschen (in der Regel sind es Männer) ein sinnvolles, wohlgeordnetes und heldenhaftes Leben zu ermöglichen. Letzteres Merkmal ging schließlich aus den Massenmobilisierungen des Ersten Weltkriegs hervor, als Mussolini die sogenannte „Schützengrabenaristokratie“ pries: eine Aristokratie heldenhafter Krieger, die sich – im Gegensatz zu den Freizeits-Tastaturkriegern von heute – im Kampf gefunden hatte. Nach Kriegsende setzten Mussolinis Anhänger die Gewalt im eigenen Land fort. Auch Hitlers Aufstieg ist außerhalb des Kontextes der in den frühen 1920er Jahren in Deutschland aufkommenden blutrünstigen rechten Milizen nicht zu verstehen.

Es ist kein Zufall, dass faschistische Regime in Ländern entstanden, die entweder einen militärischen Konflikt verloren hatten (Deutschland) oder das Gefühl hatten, ihn verloren zu haben (Italien). Ebenso wenig ist es Zufall, dass faschistische Regime früher oder später in den Krieg zogen – anders als traditionell autoritäre Regierungen, die es in der Regel vorziehen, ihre Gesellschaften nicht zu mobilisieren.

Mussolini marschierte nicht persönlich nach Rom.

Diese allumfassende Atmosphäre der Gewalt besteht heute nicht. Ja, Kriegsveteranen sind in den gewalttätigeren Gruppen der extremen Rechten überrepräsentiert, und die rechtsextremen Führer der Gegenwart bewirken eine von der Philosophin Kate Manne so bezeichnete „nach unten durchsickernde Aggressivität“. Aber selbst dort, wo die extreme Rechte an die Macht gekommen ist, hat sie versucht, die Bürger zu demobilisieren und ihren Frieden mit dem Konsumkapitalismus zu machen.

Sollten wir also die Debatte über den Faschismus einfach hinter uns lassen? Das wäre doch zu voreilig. Wie der renommierte Historiker Robert Paxton darlegte, durchläuft der Faschismus verschiedene Phasen. Die gegenwärtige Lehrmeinung lautet, dass angeschlagenen Demokratien im 20. Jahrhundert in der Regel durch gewalttätige Staatsstreiche der Garaus gemacht wurde, während die Demokratien des 21. Jahrhunderts eher in die Hände aufstrebender Autoritärer fallen, die im Lauf der Zeit durch subtile Manipulation der Gesetzgebung ihre Absetzung praktisch unmöglich machen. Eine derartige Autokratisierung – eine hässliche, aber notwendige Wortschöpfung – gilt als wirkungsvoller, weil schwieriger zu durchzuschauen.

Bei dieser Gegenüberstellung wird jedoch übersehen, dass der Faschismus – trotz seiner Gewaltverherrlichung – oft keine Gewalt anwenden musste, um seine Ziele zu erreichen. Mussolini marschierte nicht persönlich nach Rom. Er kam im Schlafwagen aus Mailand, nachdem Italiens König und die traditionellen Eliten beschlossen hatten, ihm die Macht zu übertragen, in der Hoffnung, er würde das politische Chaos in Ordnung bringen, wozu sonst niemand fähig zu sein schien.

Darüber hinaus ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass Mussolini jahrelang innerhalb der Strukturen der italienischen Demokratie regierte, und sogar zahlreiche selbst ernannte Liberale in sein Kabinett berief. Er praktizierte etwas, das heute oftmals als „autokratischer Legalismus“ bezeichnet wird. Er hielt sich an den Wortlaut des Gesetzes, verstieß aber gegen dessen Geist, oder er erließ Gesetze in einer Weise, die sich zwar verfahrenstechnisch korrekt präsentierte, jedoch die Herrschaft des Menschen über die Rechtsstaatlichkeit stellte. Freilich gab es auch jede Menge entsetzlicher Gewalt – am ruchlosesten wohl die Ermordung des sozialistischen Politikers Giacomo Matteotti. Doch erst 1925 entpuppte sich Mussolini ganz eindeutig als Diktator (wohingegen Hitler ab dem ersten Tag seiner Ernennung zum Reichskanzler kaum Zweifel daran ließ, dass er eine totalitäre, rassistische Herrschaft errichten würde).

Es ist mangelndes politisches Urteilsvermögen, die extreme Rechte von heute und den Faschismus in einen Topf zu werfen. Jedoch ist es unerlässlich, die Entwicklung der extremen Rechten im Zeitverlauf genau im Auge zu behalten. Der Übergang zum Faschismus – gekennzeichnet durch ein offenes Bekenntnis zu Autoritarismus und Gewaltverherrlichung – könnte schnell, aber auch ganz langsam erfolgen. In jedem Fall ist das Verhalten der traditionellen Eliten ein wichtiger Faktor, den es zu beobachten gilt. Das ist eine der am wenigsten verstandenen Lehren aus dem Aufstieg des Mussolini-Faschismus im Italien des 20. Jahrhunderts.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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