Nun hat es Angela Merkel doch nicht geschafft, rechtzeitig zu gehen. Nicht nur die Dauer der Regierungszeit, auch deren Ende gleicht zunehmend dem der Ära Kohl: ein bleiernes fin de regne in einem erstarrten Land. Ironischerweise enthüllt sich in dieser Parallelität ein Umstand, den viele Bewunderer Merkels nie richtig wahrhaben wollten: wie sehr die Machtpraxis Merkels der Helmut Kohls ähnelte. Dessen Art Politik zu machen, war unterlegt von drei eisernen Regeln: Probleme kann man aussitzen. Funktioniert das nicht, wirft man sie mit „Bimbes“ (sprich: Steuergeldern) zu. Und Fehler werden niemals zugegeben.
Angela Merkel agierte und regierte ähnlich. Oft mit Fortune, meistens mit einem Gespür für das Machbare, immer mit einem Blick für die Daten der Demoskopen. Im Normalmodus hat das gut funktioniert; ihre Regierungszeit war keine schlechte Zeit für das Land. Schwierig wurde es aber oft, wenn sich Probleme weder mit Aussitzen noch Geld regeln ließen. Unter Druck wurde bemerkenswert oft schlechte Politik gemacht. Das begann mit der Positionierung der damaligen CDU-Vorsitzenden im Bush-Blair'schen Irakkrieg, als Merkel nach Washington fuhr, um mitzuteilen, dass nicht „alle Deutschen“ die Anti-Kriegspolitik der rot-grünen Regierung teilten.
Dies setzte sich fort mit dem Bestehen auf den Wiedereinstieg in die Kernenergie 2009, nur um nach Fukushima das Steuer erneut abrupt herumzureißen – immer zum Schaden des deutschen Steuerzahlers. Ob es wirklich besser gewesen wäre, wenn Wolfgang Schäuble sich beim Management der Euro-Krise durchgesetzt hätte, wird man nie erfahren. Aber mit ihrem „scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ hat Merkel die Spielräume für ökonomisch pragmatische Lösungen von vorneherein zugestellt. Griechenland ist heute, gemessen am BIP, höher verschuldet als vor der „Rettung“, von den sozialen Folgen des Wirkens der Troika ganz zu schweigen.
Die Werte für Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung waren in weiten Teilen der Eurozone in den vergangenen zehn Jahren elend genug. Für den in der deutschen Nachkriegsgeschichte einzigartigen politischen Kontrollverlust in der Flüchtlingskrise des Jahres 2015/2016 trägt Angela Merkel eine wesentliche Verantwortung. Die Art und Weise, wie dieser Kontrollverlust schließlich im Hau-Ruck-Verfahren „europäisiert“ werden sollte, hat Porzellan in vielen Ländern zerschlagen und einer Welle des Rechtspopulismus den Weg gebahnt.
Mit der Corona-Krise hat dieser Regierungsstil nun einen bitteren Endpunkt erreicht.
Wer damals mit politischen Verantwortungsträgern in London, Paris oder Rom sprach, konnte die Konsternation über die deutsche Politik auch bei Politikern der linken Mitte mit Händen greifen. Als es schließlich um den Brexit ging, hatte man in Berlin nicht die Klugheit, die notwendige Flexibilität zu zeigen. Jeder, der die Stimmung in der britischen Gesellschaft kannte, konnte ahnen, dass das Verhandlungsergebnis, das Cameron damals aus Brüssel nach Hause brachte, schlicht „not good enough“ war.
Mit der Coronakrise hat dieser Regierungsstil nun einen bitteren Endpunkt erreicht. Das Virus ließ sich weder aussitzen, noch mit Steuergeldern ruhigstellen. In dieser Krise hat die deutsche Politik nicht nur administrativ, sondern auch ethisch versagt. Der Datenschutz wurde höher bewertet als das Recht auf Leben und Gesundheit von Zehntausenden von Bürgern, die man bei einer effektiven Infektionsnachverfolgung via App vielleicht vor einer Infektion hätte schützen können.
Einen präventiven Schutz von besonders vulnerablen Menschen höheren Alters lehnte die Kanzlerin noch im Herbst 2020 ab – ein „Wegsperren“ Älterer sei mit ihr nicht zu machen. Ein Wegsterben – fast 90 Prozent der deutschen Corona-Toten waren über 70 Jahre alt – aber offensichtlich schon. Ein Lockdown, das heißt eine massive Einschränkung bürgerlicher Grundfreiheiten, darf nur die ultima ratio der Politik sein, wenn alle anderen Ansätze nicht gewirkt haben. In Deutschland – wie fast überall in Europa – war er aber die prima, um nicht zu sagen unica ratio der Politik.
Alternative technikgetragene, zielgruppengenaue, mit Daten und Wissen über Verbreitung und Ausbreitung des Virus unterfütterte Strategien wurden gar nicht erst versucht. Und letztendlich trägt auch das Desaster der Impfstoffbeschaffung den Stempel der Ära Merkel: mit der Gorch-Fock-Performance der Kommission unter Ursula von der Leyen und der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020.
Merkel hinterlässt ein müderes, vor allem auch polarisierteres Land als sie es 2005 von Gerhard Schröder übernommen hat.
Merkel hinterlässt ein müderes, vor allem auch polarisierteres Land als sie es 2005 von Gerhard Schröder übernommen hat. Nicht zuletzt ist die AfD ein Kind dieser Periode. Der Wille zur ernsthaften Modernisierung – der die rot-grüne Regierung im Gelungenen und im weniger Gelungenen ausgezeichnet hatte – war in den 16 Jahren Merkel selten zu spüren. Das gilt auch für die ökonomischen und ökologischen Herausforderungen. Viel zu lange hat sich das Land eingeredet, besser als andere zu sein. Die Krise der Automobilindustrie, die steckengebliebene Energiewende, die brutale Hegemonie der Plattform-Giganten aus Kalifornien in der Digital Economy und zuletzt das schlechte Management der Corona-Krise haben dem Land erst allmählich klargemacht, wie viel in den letzten sechzehn Jahren versäumt worden ist.
Ähnliches gilt für die europa- und außenpolitische Bilanz Merkels. Das Verhältnis zu den USA kann als Sanierungsfall gelten. Das zu Russland auch, wobei man allerdings uneingeschränkt anerkennen muss, dass Merkel immer weit weniger Illusionen über das Moskauer Machtsystem hatte als manche ihrer europäischen Amtskollegen. Das Gefühl der heimlichen Hegemonie Berlins in einer sich von Krise zu Krise schleppenden EU macht in den anderen Hauptstädten Europas nicht nur Freude. Großbritannien ist aus der EU ausgeschieden. Das Verhältnis zu den östlichen Nachbarländern ist bestenfalls okay, in einigen Fällen – wie etwa dem Polens – ernsthaft problematisch.
Das Verhältnis zu Frankreich bleibt ambivalent, das zu Italien auch. Die Migrationspolitik hat Europa verwundbar gemacht gegenüber einer Erpressungsstrategie von Transitländern von der Türkei bis Nordafrika. In einigen Fragen der Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa ist Deutschland ein seltsam uneindeutiger Akteur geworden, schwer zu lesen auch für Freunde, wie etwa in Paris. Und auch nach 16 Jahren Merkel stehen deutsche Truppen immer noch am Hindukusch, wo sie erst die Freiheit Deutschlands verteidigten, dann das Recht afghanischer Mädchen auf Bildung und jetzt nur noch ein vages Prinzip, dass das alles nicht umsonst gewesen sein darf.
Kritik an Merkel ist in vielen Medien immer noch eine Art Tabu.
Und dennoch: Angela Merkel wird am Ende ihrer Amtszeit in der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung weit höher geschätzt als Helmut Kohl – wiewohl das CDU-Ergebnis im September wohl deutlich unter den 35,1 Prozent liegen wird, die der ausgebrannte „Kanzler der Einheit“ im Herbst 1998 noch einfahren konnte. Kritik an Merkel ist in vielen Medien immer noch eine Art Tabu. So sehr es für den gehobenen Journalismus der 80er und 90er Jahre zum guten Ton gehörte, „Birne“ zu verachten, so sehr wurde „die Kanzlerin“ vom Journalismus des letzten Jahrzehnts überhöht.
Der Höhepunkt der Hagiographie wurde sicherlich in den Jahren 2015-2016 erreicht. Bilder von TV-Journalisten, die in den Hauptnachrichten Tränen der Rührung über die Politik der Regierung nicht verdrücken können, bekommt man nicht einmal in Polen zu sehen. Die Amtszeit Merkels war, vor allem nach 2015, begleitet von einer Art Selbstbeschränkung wichtiger institutioneller Kontrollmechanismen, wie man sie in dieser Form in anderen Staaten Europas kaum beobachten konnte.
Dies gilt für den Unwillen eines erheblichen Teils der deutschen Leitmedien, das Regierungshandeln systematisch kritisch zu reflektieren ebenso wie für das Verschwimmen der Konturen der parlamentarischen Opposition im deutschen Jeder-mit-Jedem-(außer mit der einen)-Koalitionssystem. Massive gesellschaftliche Beunruhigungen und Konflikte – wie etwa in der Migrationsfrage – fanden in diesem System keine adäquate Spiegelung mehr. Viel spricht dafür, dass dieser Mangel an systemimmanenter Debatte wesentlich dazu beigetragen hat, jenes politische und emotionale Vakuum zu schaffen, in dem die „Alternativen“ aller Art erst gedeihen konnten.
Das Gefühl der intellektuellen und institutionellen Erstarrung, das Merkels fin de regne begleitet, ist mehr als nur ein Problem des politischen Apparates: Es ist Ausdruck einer Krise kritischen Denkens in Deutschland, in der Dissidenz zunehmend nur noch als „Populismus“ geframed und marginalisiert wird. Das ist vielleicht der größte Schaden, den die Regierungszeit Merkels hinterlässt. Die Verantwortung dafür trägt sie allerdings nicht allein.