Die Tatsachen zu kennen, ist eine Voraussetzung für sinnvolles politisches Denken und Handeln. In journalistischen und sozialen Medien spielen daher Fact-Checks eine wichtige Rolle: Sie sollen Orientierung schaffen, vor Desinformation bewahren und politische Streitfälle klären. Aber in welchem Maße können sie diese Hoffnungen erfüllen?

Spielen wir erst einmal ein Beispiel durch, mit dem sich viele Faktenchecks befassen, nämlich die Frage: Haben die westlichen Staaten mit der Aufnahme osteuropäischer Länder in die NATO ein Versprechen gegenüber Russland gebrochen? Die gängigen Faktenchecks sagen: Nein. Weder in den Vertragsunterlagen des Zwei-plus-Vier-Vertrags noch in den Gesprächsprotokollen vom Februar 1990 sind Vereinbarungen über die Nicht-Erweiterung der NATO nach Osten enthalten. Die Mär vom gebrochenen Versprechen sei also russische Propaganda.

Das scheint erst einmal schlüssig, und bleibt doch unbefriedigend. Zum einen stand – angesichts der Tatsache, dass der Warschauer Pakt zu jener Zeit noch existierte – die Option eines NATO-Beitritts osteuropäischer Staaten 1990 gar nicht zur Debatte. Besprochen wurden Sicherheitsgarantien angesichts der deutschen Wiedervereinigung, zunächst auf Basis der KSZE, später dann im Rahmen der „Partnership for Peace“. Beides wurde ausdrücklich auch Russland in Aussicht gestellt.

Auch der Forschungsstand zum Thema „not one inch eastward“ zeigt ein schillerndes Bild. Christian Nünlist (ETH Zürich) fasste 2018 den Minimalkonsens zusammen: „Konkrete westliche Garantien bezogen sich 1990 nur auf die DDR [nämlich dorthin keine NATO-Truppen zu verlegen]; aber der Westen täuschte die Sowjetunion gleichzeitig mit vagen Versprechen einer kooperativen, inklusiven europäischen Sicherheitsordnung [...].“ Welche Fakten genau sollen nun zur Klärung der Versprechens-Frage herangezogen werden? Nur das geschriebene Wort, oder auch die expliziten und impliziten Botschaften der Verhandlungen?

Da die Angelegenheit ihre politische Wirksamkeit als ein historisches Ganzes entfaltet, muss man wohl alle Fakten-Gattungen berücksichtigen. Dann jedoch kommt man zu einer in sich widersprüchlichen Antwort: Es wurde kein Versprechen gebrochen und zugleich wurde ein Versprechen gebrochen. Nein und ja. Aber dagegen revoltiert unser Verstand – selbst dann, wenn man das Ja und das Nein unterschiedlich gewichtet. Und ähnlich geht es auch in anderen Fällen. Ist Migration eine Chance oder eine Belastung? Schwächt Ausgrenzung extreme politische Kräfte oder werden sie dadurch gestärkt? Lief sich die Sowjetunion wirtschaftlich tot oder wurde sie von Reagan totgerüstet? Ist Atomkraft gut oder schlecht für das Klima? Waren die Covid-Maßnahmen angemessen? Wer ist in Nahost das Opfer, wer der Täter?

Ausgerechnet dort, wo man ihre Hilfe am meisten brauchen würde, erweisen sich die Fakten als zu spärlich, zu heterogen und inkommensurabel oder zu wert- oder theoriebeladen, um eine stabile Ordnung in die Problematik zu bringen. Anstatt auf „eine Wahrheit“ stößt man auf hybride, oft in sich widersprüchliche Konstellationen von als geltend zu Erachtendem. Diese Ambiguitäten lassen sich nicht „wegforschen“ oder „wegbeweisen“ – sie sind fest in die Realität eingeschrieben. Und je genauer man hinschaut, desto deutlicher treten sie in Erscheinung.

Ein Fokus auf den Fit bannt zugleich auch die Gefahr des totalen Relativismus, bei dem alles gleich gültig oder ungültig wäre.

Was soll man da tun? Das hehre Ideal der „einen Wahrheit“ vom Thron stoßen – möge doch jeder glauben und meinen, was ihm gerade beliebt? Es gibt eine bessere Alternative. Und zwar, der Königin Wahrheit einen Partner, eine Art Premierminister der Erkenntnis an die Seite zu stellen. Sein Name wäre: Stimmigkeit. Oder „Passendheit“. Auf Englisch: Fittingness oder Fit.

Denn wo man zwar nicht sagen kann, ob eine Behauptung wahr ist, kann man oft dennoch prüfen, ob sie stimmt. Ob das Gesagte mit den Fakten zusammengeht, ob es einen guten Fit mit der Wirklichkeit hat. Ob es passt, ob es „greift“. Aufs obige Beispiel bezogen: „Es wurde kein Versprechen gebrochen“ – Stimmt. „Es wurde ein Versprechen gebrochen“ – stimmt ebenfalls. Beide Aussagen bestehen den Fit-Check. Und das, obwohl sie einander widersprechen.

Doch anders als zuvor liegt nun in diesem „Ja und Nein“ kein logischer Skandal mehr. Denn es geht ja nicht um Wahrheits-Erkenntnis, die keine Alternative neben sich dulden kann, sondern um eine bescheidener auftretende, aber nicht weniger substanzielle Deutungs-Erkenntnis. Dass zwei Deutungs-Konstruktionen einander widersprechen und dennoch gleichermaßen gültig sein können – das anzuerkennen, fällt unserem logisch-kognitiven Apparat nicht schwer.

Ein Fokus auf den Fit bannt zugleich auch die Gefahr des totalen Relativismus, bei dem alles gleich gültig oder ungültig wäre. Denn nicht jede x-beliebige Behauptung stimmt. Man kann Deutungen nicht beliebig „hinbiegen“, ohne den Boden der empirischen Daten zu verlassen. So ist etwa die Behauptung „Es gab vertragliche (!) Zusicherungen auf Nicht-Erweiterung nach Osten“ keine valide Interpretation. Und bekommt daher auch im Fit-Check die rote Flagge: failed. Jenseits derartiger eklatanter Falschheiten aber eröffnet sich ein Korridor des Gültigen, der Raum bietet für die realen Ambiguitäten unserer Wirklichkeit. Innerhalb dieses Korridors mag vieles „problematisch“ sein. Es bleibt dennoch stimmig, und damit legitim.

Fit-Checking statt Fact-Checking – das ist keine abstrakte Haarspalterei. Es ist eine Methodik für die Praxis. Es heißt, bevor man den Daumen bei einem konkreten Anliegen hebt oder senkt, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Was lässt sich überhaupt wissen? Und was nicht – jedoch nicht, weil es obsolet oder falsch wäre, sondern weil es interpretationsbedürftig ist? Wie sind die jeweiligen Deutungskonstruktionen begründet, und wie gut sind diese Begründungen jeweils? Denn Ambivalenzen können durchaus asymmetrisch sein, ohne dass eine der Deutungs-Optionen davon ganz wertlos würde.

All diese Fragen sind der Analyse zugänglich – Jean Wagemans von der Universität Amsterdam etwa hat kürzlich ein methodisches „Argument-Checking gegen Desinformationvorgeschlagen. Man kann sie gewinnbringender diskutieren als das oft unlösbare Rätsel „wahr oder falsch“. Was zugleich vermeiden würde, dass Klärungsversuche wie im Fall der Versprechens-Frage die eigentliche Problematik eher verschleiern, als sie zu enthüllen.

Selbstverständlich sind nicht alle (zeit-)historisch-politischen Themen inhärent ambivalent. Die Frage etwa, welche Nation die Schuld für den Holocaust trägt, ist es nicht, um ein besonders deutliches Beispiel zu wählen. Auch klassische politische Ereignisgeschichte – wie, sagen wir, die Entstehung der europäischen Nationalstaaten – lässt sich wohl weitgehend „un-ambivalent“ darstellen.

Die Konzepte, mit denen wir gewöhnlich unsere Erkenntnisprozesse organisieren, stammen aus einer längst vergangenen Lebenswelt.

Dennoch muss es eine Schwelle geben, oder einen Übergangsbereich, jenseits dessen Eindeutigkeit regelmäßig umschlägt in irreduzible Ambiguität. Man kann mutmaßen, dass dafür mindestens zweierlei zusammenkommen muss: eine komplizierte Verschlingung multipler, einander bedingender Kausalitäten einerseits; und eine stark generalisierende, aus der politischen Praxis heraus formulierte Fragestellung andererseits.

Was, wenn in unserer schockbeschleunigten Moderne genau diese Kombination der Regelfall wäre? In einer Welt, die geprägt ist durch extrem vernetzte Hyperproblematiken oder „Polykrisen“ und massiv eingeschränkte Vorhersagbarkeit; aber auch eine Welt, in der die Dringlichkeit zur Lösungsfindung eminent ist? Der Soziologe Zygmunt Bauman sprach schon vor 30 Jahren vom „Zeitalter der Ambivalenzen“, es scheint, dass wir nun mitten darin stecken.

Und ausgerüstet sind wir dabei mit einer archaischen, anachronistischen Erkenntniskultur. Die Konzepte, mit denen wir gewöhnlich unsere Erkenntnisprozesse organisieren, stammen ja aus einer längst vergangenen Lebenswelt. In der waren sie höchst tauglich: wissen, wann die Felder zu bestellen sind, wissen, wo das Saatgut zu finden ist, oder, im Zweifelsfall, wissen, wer es gestohlen hat. Seitdem ist tief in unsere kognitive Grundausstattung eingeschrieben, dass die Dinge sich anhand der binären Kategorien „wahr“ und „falsch“ erschöpfend epistemisch bearbeiten lassen.

Unsere Situation erinnert dann an die des sprichwörtlichen Mannes mit dem Hammer, dem alles, was ihm unterkommt, zum Nagel wird: In Ermangelung besserer Instrumente versuchen wir unverdrossen, noch die schillerndsten und fluktuierendsten Phänomene ins Korsett irgendeiner notdürftigen Eindeutigkeit zu pressen. Da jeder sein so entstandenes Erzeugnis dann als die Wahrheit  überhaupt deklariert und vehement auf der Nichtswürdigkeit aller anderen Versionen beharrt, treibt dies zugleich die Spaltung in hermetisch voneinander isolierte politische Wirklichkeiten voran. So betrachtet, geht die manische „Vereindeutigung der Welt“ (ein Ausdruck des Arabisten Thomas Bauer) nicht nur sachlich an der Welt selbst vorbei, sondern sie sendet auch heftige antidemokratische Impulse.

Für ein substanzielles Update unserer Erkenntniskultur, um sie besser ambiguitätstauglich zu machen, wären wohl Veränderungen nötig bis in unsere tiefsten Denkgewohnheiten, ja unser alltäglichstes Vokabular hinein. Zum Beispiel kann, eine Deutung zu übernehmen oder für sie einzustehen, ja nicht heißen, diese Deutung zu „wissen“. Wir bräuchten geradezu ein neues Verb dafür. Doch selbst wenn man so weit nicht gehen will, fordern intellektuelle Redlichkeit und politische Verantwortung, die traditionellen Konzepte der Erkenntnis nicht ständig zu überdehnen und zu überfrachten. Der Wahrheit, was der Wahrheit gebührt. Aber eben auch kein Jota mehr.