Der Wettbewerb „Wer zuerst Faschist schreit, hat gewonnen“ gehört laut dem leider zu früh verstorbenen Wiglaf Droste zur „spezifisch linksautonomen Form der Dummheit“ und es ist ratsam, sich daran nicht zu beteiligen. Auch die Zusätze „Neo“ oder gar „Post“ helfen nicht weiter. Insofern ist Sheri Berman zuzustimmen, wenn sie schreibt, dass es analytisch falsch ist und politisch kontraproduktiv sein kann, eine „Partei als faschistisch zu bezeichnen, obwohl sie es nicht ist“.
Andererseits muss der Faschismus auch gar nicht in Reinform nach Europa und in die anderen „westlichen“ Demokratien (nicht geografisch definiert, sondern der neu entstehenden Blockbildung entsprechend) zurückkehren, um die rhetorischen und taktischen Mäßigungen diverser rechtspopulistischer Akteure – wie der Fratelli d’Italia, der Schwedendemokraten oder des französischen Rassemblement National – als Gefahr für die Demokratie und keineswegs als Zeichen ihrer Stärke zu lesen, wie Berman das tut. Denn sie sind allein das: geschickte Taktik, um am Ende doch die Demokratie mithilfe ihrer eigenen Mechanismen untergraben zu können, derer man sich bedient, so wie man sich munter auch der Meinungsfreiheit und des Rechtsstaats bedient, um auch diese loszuwerden, sobald es möglich ist. Was bleibt auch übrig, wenn man nicht auf bewaffneten Kampf setzen will?
Zur Radikalisierung kommt es, schreibt Berman, wenn die demokratischen Institutionen schwach sind. Sie nennt das Beispiel der USA. Abgesehen davon, dass es zur Radikalisierung eben auch kommen kann, wenn man als „gemäßigter“ Rechtspopulist einmal in Amt und Würden gewählt worden ist: Was ist denn in den USA geschehen, dass die demokratischen Institutionen so geschwächt sind, dass eine vormals recht traditionelle konservative Partei wie die Republikaner – die übrigens mit Ausnahme des „Trumpenführers“ kaum einmal als faschistisch bezeichnet worden sind – mindestens zu einem „legalen Coup“ bereit zu sein scheint. Teilweise gar zum bewaffneten Umsturz oder jedenfalls zur Gewaltanwendung gegen den politischen „Feind“? Und findet man nicht reichlich Parallelen zu den angeblich so stabilen europäischen Demokratien, in denen Rechtspopulisten und Rechtsradikale sich zur Mäßigung bemüßigt sehen?
Eine wachsende Zahl von US-Bürgerinnen und -Bürgern ist davon überzeugt, dass das politische System beschädigt ist.
Die historisch-kulturell begründete Staatsskepsis der Amerikaner lässt sie traditionell ohnehin unzufriedener mit den Institutionen der repräsentativen Demokratie sein als die Bürger anderer Demokratien, das muss man bei allen Vergleichen in Rechnung stellen. Aber wenn wir die Krisensymptome der amerikanischen Demokratie systematisch durchgehen, wie das beispielsweise Dan Balz und Clara Ence Morse in der Washington Post tun, dann stellen wir fest, dass diese zwar spezifisch amerikanisch ausgeprägt sind, dass aber in der einen oder anderen Form nahezu alle „westlichen“ Demokratien negativ von ihnen betroffen sind. Wirklich „gesund“ ist keine mehr.
Eine wachsende Zahl von US-Bürgern ist davon überzeugt, dass das politische System beschädigt ist und sie nicht mehr repräsentiert. Nicht nur die hohe Zustimmung für die AfD, sondern auch der gleichlautende Befund aus jüngsten Umfragen in Deutschland lassen einen dann eben auch an der Stabilität der hiesigen demokratischen Institutionen zweifeln. Sicherlich hat dieser Trend auch damit zu tun, dass die als „Demokratisierung der Öffentlichkeit“ gefeierte Fetischisierung der eigenen Meinung durch die sozialen Medien viele Bürger anscheinend davon überzeugt hat, dass sie nur dann angemessen repräsentiert werden, wenn die Regierung genau das macht, was sie wollen. Kein guter Zeitpunkt übrigens, um ausgerechnet an der politischen Bildung zu sparen.
Auch die Unfähigkeit politischer Eliten, angesichts multipler Krisen – Klima, Immigration, Inflation (in den USA kommen mindestens dazu: Waffengewalt, soziale Ungleichheit, Opioid-Sucht) – tragfähige Kompromisslösungen zu finden, ist nahezu allen Bevölkerungen in Europa vertraut, in Deutschland sogar mit Blick auf die regierende „Fortschrittskoalition“. In Spanien, Frankreich, Israel und anderswo stehen sich verhärtete Lager gegenüber, die oft genug Minderheitsregierungen oder gar häufige Neuwahlen erfordern, die das Patt aber nicht aufzulösen vermögen, weil eben auch die Bevölkerungen politisch und kulturell polarisiert sind.
In den USA ist diese gesellschaftliche, kulturelle und politische Polarisierung aufgrund des Erbes von Sklaverei und Segregation besonders ausgeprägt, sodass man zunehmend von Tribalisierung sprechen kann. Aber die Phänomene zeigen sich nahezu überall: die wachsende Feindseligkeit gegenüber politisch Andersdenkenden, bis hin zur hasserfüllten Dämonisierung; die wachsende Entfremdung zwischen ländlichen und urbanen Kultur- und Lebensräumen. Auch wenn dieser Konflikt durch die schärfere Frontstellung zwischen religiösen und säkularen Bürgern in den USA zugespitzter sein mag als anderswo – und durch die Überrepräsentation der Republikaner politisch wirkmächtiger –, so hat er doch nahezu überall politische Konsequenzen, insbesondere durch weniger kompetitive Wahlen, die wiederum zu weiterer Polarisierung führen.
Wenn Rechtspopulisten ethnonationalistische Positionen vertreten, dann muss die Kompromissbereitschaft enden.
Ständige verbale Attacken politischer Akteure gegenüber politischen Institutionen und Eliten, auch ohne Faktenbasis, erleben europäische Bürger vor allem mit Blick auf Brüssel, denn es ist bequem, die EU als Blitzableiter zu benutzen. In föderalen Systemen wie der Bundesrepublik nutzen Landespolitiker für diese Externalisierungen gerne auch die nationale Regierung. Gut, das ist meistens opportunistischer Populismus, aber Rechtsaußen-Politiker wie Viktor Orbán scheuen sich nicht, ähnlich extrem zu werden wie Trump und seine Spießgesellen seit der verlorenen Präsidentschaftswahl 2020 und dem versuchten Staatsstreich am 6. Januar 2021.
Dazu passen die Manöver zur Manipulation der Wahlbeteiligung und zur Beeinflussung von Wahlkreisen, Wahlsystemen und Auszählungsverfahren, mit denen in den USA – aber beispielsweise eben auch in Ungarn – sichergestellt werden soll, dass man auch ohne Mehrheit weiterregieren kann oder dass man über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, mit der man die Verfassung ändern kann (um das Spiel dann weiterzutreiben). Die „Minority Rule“ in den USA ist wiederum sicherlich ein extremes Beispiel, wegen des Electoral College, das Trump 2024 wieder den Sieg bescheren könnte, auch ohne Mehrheit im Land, und insgesamt durch die Überrepräsentation ländlicher Bevölkerungen (vier der neun Richter des Obersten Gerichtshofs wurden von einer Senatsmehrheit bestätigt, die nicht die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert). Aber das heißt ja nicht, dass auch noch so „gemäßigte“ Rechtspopulisten, einmal gewählt, nicht auch lernen könnten, wie man die Spielregeln manipuliert.
In den USA geht es nicht um den Aufstieg einer rechtspopulistischen Kleinstpartei, die man besser nicht faschistisch nennt, um ihre Anhänger nicht zu verprellen – und um sie zur Mäßigung zu ermutigen –, sondern es geht um den extremen Rechtsruck einer etablierten konservativen Partei, deren große Geschichte ausgerechnet mit dem Kampf gegen die Sklaverei begann. Diese Parteien stehen auch in Europa erheblich unter Druck, wie Thomas Biebricher in seiner umfangreichen Studie gezeigt hat. Manche sind schon fast verschwunden.
In der Tat bleiben politische Kompromisse möglich, nötig und sollten angestrebt werden, auch wenn konservative Parteien unter diesem Druck bisweilen zu rechtspopulistischen Mitteln greifen. Wenn Rechtspopulisten (oder Konservative) ethnonationalistische Positionen vertreten, dann muss die Kompromissbereitschaft enden. Aber um Berman noch einmal Recht zu geben: Nicht gleich „Faschismus“ rufen, wenn Konservative beispielsweise die Migration einschränken wollen: Dies ist eine demokratisch zulässige Position, auch wenn es „woke“ Progressive anders sehen, die sich gefährlich dem Stammesdenken annähern und ebenso kompromisslos von der Richtigkeit der eigenen Sache überzeugt sind.