Vor zehn Jahren wurde über die Abschaffung der Visumpflicht zwischen der EU und Russland verhandelt. Noch vor einem Jahr brachte man eine EU-Visafreiheit für junge Menschen unter 25 und Studierende aus Russland ins Gespräch. Jetzt kommt die Zeitenwende. Mehrere EU-Staaten führen als Reaktion auf den andauernden brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine spürbare Einreisebeschränkungen für russische Staatsbürger ein. Manche Länder wie Lettland und Estland setzten die Vergabe von Visa an Russinnen und Russen bis auf wenige Ausnahmen aus. Sicherheitspolitische und auch emotionelle Beweggründe dafür sind verständlich. Es besteht jedoch die Gefahr, durch diese Reaktion das Kind mit dem Bade auszuschütten und die „Falschen“ zu treffen.

In der russischen Medienlandschaft wird häufig das propagandistische Klischee des „europäischen Reiseverbots“ benutzt. Tatsächlich handelt es sich (analog zur Waffenlieferung an die Ukraine, die nicht über die NATO als internationales Bündnis erfolgt, sondern im Ermessen der Mitgliedstaaten liegt) um nationale Initiativen von Einzelstaaten, die unterschiedlich begründet sind. Die Baltischen Staaten, die gemeinsame Grenzen mit der Russischen Föderation und große russische – nicht immer Putin-kritische – Minderheiten im Inneren haben, bangen um ihre Sicherheit. Dänemark, Tschechien und Finnland sehen gerade beim Verzicht auf die Ausstellung von touristischen Kurzzeitvisa ein sanktionspolitisches Instrument gegen Russland. Bulgarien hat nach der Ausweisung seiner Diplomaten aus Moskau schlicht keine Kapazitäten für eine zügige Antragsbearbeitung. Außerdem können die EU-Grenzstaaten den stark zugenommenen Reisestrom über den Landweg, infolge der Beendigung des Luftverkehrs mit Russland, kaum bewältigen und wollen die Anzahl der Einreisen und Transitfahrten verringern.

Mehrere Staaten vertreten hingegen in puncto Reiseeinschränkungen gegen Russland eine andere Sichtweise. Russische Reiseveranstalter informieren ihre Kundschaft, man könne derzeit das Schengenvisum in den Botschaften Frankreichs, Spaniens, Italiens und Griechenlands am unproblematischsten bewilligt bekommen. Auch Deutschland hat dem Verbot von touristischen Reisen aus Russland eine klare Absage erteilt. In der Praxis läuft die Vergabe von deutschen Schengenvisa an Russen ohne große Komplikationen. Über 14 000 Personen haben zwischen März und Juli 2022 das Kurzzeitvisum im Konsulat der Bundesrepublik in Moskau erhalten, fast doppelt so viele wie 2021. Das politische Europa bleibt hier uneins, daher ist kein gesamteuropäisches „Reiseverbot“ für die Inhaber russischer Pässe zu erwarten.   

Befürworter von drastischen Reisebeschränkungen für russische Staatsbürger führen oft moralische Aspekte ins Feld. Während die ukrainischen Städte durch die russische Armee in Schutt und Asche zerbombt würden, dürften Touristen aus Russland davon unberührt die Sonne an den Stränden der Costa Brava tanken, in Mailand einkaufen gehen oder Pariser Sehenswürdigkeiten bewundern. Auch die „einfachen“, angeblich „politikfernen“ Menschen sollten in der Russischen Föderation die Kriegsfolgen spüren und begreifen, dass ihr Land Unrecht tut. Aus ethischer Sicht mag eine solche „Bestrafung“ korrekt sein. Der Krieg gegen die Ukraine ist wahrlich kein Krieg, der nur Wladimir Putin zugeschrieben werden kann. Der Überfall wurde von der breiten Bevölkerungsschicht in Russland unterstützt, mitgetragen oder zumindest toleriert. Man darf allerdings bezweifeln, ob die geschlossene Schranke an der Außengrenze des Schengen-Raums wirklich Millionen schweigende Mitläufer in der russischen Gesellschaft zum Umdenken bringt.

Befürworter von drastischen Reisebeschränkungen für russische Staatsbürger führen oft moralische Aspekte ins Feld.

Im Gegenteil, sie könnten sich bei ihren Stereotypen über den „bösen Westen“ bestätigt oder im Stich gelassen fühlen. Das spielt allerdings lediglich Putin in die Karten. Ferner wird behauptet, damit baue man mehr Druck auf Putins Regierung auf. Die Bedeutung der Freizügigkeit für die Russinnen und Russen darf man jedoch nicht überschätzen. Nur eine winzige Minderheit reist aktiv. Offiziellen Angaben zufolge hat etwa 70 Prozent der russischen Bevölkerung keinen Reisepass. Laut jüngsten Umfragen waren 69 Prozent der Russen nie im Ausland. Lediglich 6 Prozent der Befragten hatten in den vergangenen fünf Jahren eine Auslandsreise und nur 2 Prozent der Befragten hatte diese im letzten Jahr. Selbst bei diesen kleinen Gruppen gehörte die EU nicht zu den Top-Reisezielen.

Ohne eine gesamteuropäische Lösung, die während des EU-Außenministergipfels am 31. August höchstwahrscheinlich nicht gefunden werden wird, verursacht jede Einschränkungsinitiative eines europäischen Staates gravierende Umsetzungsschwierigkeiten. Der Verzicht auf die Vergabe von nationalen und Schengenvisa von einem einzelnen Mitglied des Abkommens ist nicht zielführend und hat nur eine symbolische Kraft, denn die Inhaber eines Schengenvisums dürfen sich unabhängig vom Ausstellungsland im Schengenraum frei bewegen. Estland hat dies bereits bestätigt. Eine rechtlich umstrittene generelle Aberkennung dieses Visumstyps für eine bestimmte Gruppe würde die Einführung von Passkontrollen innerhalb der europäischen Gemeinschaft unabdingbar machen – zum Beispiel im Fall Tschechiens an vier verschiedenen Ländergrenzen. Das würde den Grundgedanken des Schengen-Abkommens verletzen und das Überqueren der inzwischen für die Reisenden unterschiedlicher Nationalitäten fast unsichtbar gewordenen Binnengrenzen in Europa erheblich verlangsamen.   

Fakt ist, dass die europäische Wertegemeinschaft nicht weiterleben kann, als ob es keinen Krieg in Europa gäbe. Das betrifft unter anderem den Personenreiseverkehr mit Russland. Vor den pandemiebedingten Hindernissen hatten die russischen Antragssteller im Durchschnitt mehr Aussicht auf eine positive Entscheidung über ihren EU-Visumsantrag als die meisten anderen Drittstaatsangehörige in der Welt. Moskauer Reisebüros lieferten lange Listen von Touristen an die europäischen Konsulate, wo sie oftmals im Rahmen des beschleunigten Verfahrens binnen kurzer Zeit abgesegnet wurden. Gegenwärtig sind diese Zustände nicht hinnehmbar. Eine Reduzierung des Visumkontingents für Russland und die genaue Prüfung aller Anträge zwecks Feststellung der Personen, die im Reiseland demokratiefeindlich agieren und die innere Sicherheit potentiell gefährden könnten, wäre vonnöten.

Fakt ist, dass die europäische Wertegemeinschaft nicht weiterleben kann, als ob es keinen Krieg in Europa gäbe.

Im April 2022 legte der vom inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny gegründete „Fonds zur Bekämpfung der Korruption“ eine Liste mit über 6 000 Namen vor. Sie umfasst neben prominenten, längst mit Sanktionen belegten Figuren wie Politikern, Militärs, Geheimdienstlern und führenden Journalisten aus den Staatsmedien auch zahlreiche Personen, die man in der EU nicht auf dem Radar hat.

Dabei handelt es sich um regionale Beamte und unsichtbare Vize-Gouverneure, die gegen Andersdenkende rücksichtslos vorgehen und die Bevölkerung vor Ort mobilisieren; Sportler, Wissenschaftler und Kulturschaffende, die den Angriffskrieg öffentlich unterstützen und damit das gesellschaftspolitische Klima in Russland weiter vergiften; Chefredakteure lokaler Zeitungen und Rundfunkanstalten sowie Moderatoren von Fernsehsendungen, die täglich gegen die Ukraine und den „feindlichen“ Westen hetzen, und leitende Mitarbeiter von Staatskonzernen, die den Krieg gegen die Ukraine ermöglicht haben und immer noch davon profitieren.

Viele davon werden nicht sanktioniert und dürfen ungehindert in die EU einreisen. Einige verfügen über ein Dauervisum oder sogar über eine Niederlassungserlaubnis in Europa. Die „Liste“ von Nawalnys Team wird laufend aktualisiert, zuletzt im August 2022. Die Aufgelisteten sollen in den europäischen Hauptstädten unter die Lupe genommen werden. Mehrere Verfolgte in Russland nutzen das Kurzzeit-Schengenvisum als ein Ticket in die Freiheit, weil es immer noch relativ leicht zu bekommen ist. Angekündigte humanitäre Aufnahmeprojekte können dagegen in vielen Fällen keine zügige Auswanderung für die Menschen garantieren, die plötzlich unter massive Repressionen geraten sind.

Dem Gegenargument, der Krieg dauere bereits fünf Monate und jede ausreisewillige Person könne Russland verlassen, ist nur bedingt zuzustimmen. Aktuell kann die russische Willkürjustiz jeden regierungskritischen Menschen und Kriegsgegner blitzschnell treffen. Das europäische humanitäre Recht sieht eine Gleichbehandlung aller Schutzbedürftigen vor, auch derjenigen, die sich mit dem autokratischen Regime eine Zeitlang abfinden konnten und erst später ihre Stimme dagegen erhoben haben und infolgedessen unterdrückt werden. Entscheidend ist die Verfolgung zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Ohne niedrigschwellige Angebote für die „Evakuierung“ der Betroffenen, wie die politisch motivierte Flucht in den Westen im russischen Volksmund derzeit heißt, sind wir moralisch nicht berechtigt, die Tür nach Europa für alle Inhaber russischer Pässe zu schließen.