Ein oberflächlicher Blick auf Meinungsumfragen in Russland zum Ukrainekrieg scheint ernüchternd. Oft ist von 70 Prozent Zustimmung die Rede. Doch die zunehmend totalitäre Autokratie des Kremls hat Begleiterscheinungen. Ein näherer Blick auf die russische Gesellschaft identifiziert drei unterschiedliche Gruppen und zeigt, dass sogar ein Stimmungsumschwung möglich ist.
Erstens, die Gruppe der Kriegsgegner: Nach einer Erhebung des Umfrageinstituts WZIOM für den Kreml Ende Juni 2022 befürworten 30 Prozent der Russen eine sofortige Beendigung des Ukrainekriegs. Das Ergebnis dieser Umfrage ist aussagekräftiger als das vieler anderer in Russland – denn es war nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern sollte Putins Team zur Politik-Justierung dienen, wurde jedoch geleakt. Bei allen Problemen der Meinungsforschung in Russland, etwa der Angst vor „von oben“ unerwünschten Antworten, stand hier immerhin das Ziel eines realistischen Bildes im Fokus.
Die breiteste Basis hat der kritische Bevölkerungsanteil in Metropolen und unter Jüngeren. Bewegt man sich unter urbanen jungen Erwachsenen, fragt man sich, wo sich überhaupt die große Mehrheit der Kriegsbefürworter befinden soll. Kaum ein Mitglied dieser Szene schaut noch das gleichgeschaltete Fernsehen. Auswanderung ist in diesem Milieu ein Thema, kommt jedoch für die große Mehrheit der Kriegsgegner nicht in Frage.
Die Sankt Petersburger Onlinezeitung Bumaga sprach mit einer Reihe von Kriegsgegnern über ihre Zukunft. Auswandern wollte niemand, obwohl alle mit einer anhaltend repressiven Zukunft in Russland rechnen. Aber niemand zog daraus die Konsequenz, sich für einen Protest mit wenig Effekt auf unbestimmte Zeit einsperren zu lassen oder aus dem Land die Flucht zu ergreifen. Geflüchtet sind lediglich Symbolfiguren, denen längerfristige Verhaftung drohte oder die einen im Ausland gut verwertbaren Beruf haben. Die übrigen ziehen sich ins Private zurück und warten auf eine Veränderung, von der sie bereitwillig ein Teil sein wollen, wenn sie sich sichtbar abzeichnet.
Von ukrainischer Seite werden russische Kriegsgegner teilweise dafür kritisiert, dass ihre öffentlichen Aktionen mittlerweile weitgehend zum Erliegen gekommen sind. Das ist jedoch eine direkte Folge massiver staatlicher Repression – etwa von über 16 000 Verhaftungen. Dass eine Autokratie mit solchen Maßnahmen Proteste stoppen kann, ist kein russisches Phänomen. Im benachbarten Belarus schaffte es ein angeschlagener Diktator Lukaschenko ebenso, Massendemonstrationen mit purer Gewalt zum Stillstand zu bringen. Dass in Russland immer noch Aktionspotential vorhanden ist, zeigte kürzlich die Verhaftung des früheren Bürgermeisters von Jekaterinburg, Jewgeni Roizman, die sofort Straßenproteste auslöste.
Es darf nicht beschönigt werden, dass es in der russischen Gesellschaft eine Menge überzeugter Kriegsbefürworter gibt.
Dem Kreml ist dieser Teil der Gesellschaft als potentielle Gefahr für seine Herrschaft bewusst. Restriktive Mechanismen zum Zweck des Machterhalts wurden zur „Bändigung“ dieses Teils der Russen ins Leben gerufen, etwa die Brandmarkung als „ausländischer Agent“. Diese kann inzwischen willkürlich jeder Privatperson angeheftet werden, um sie aus dem politischen Diskurs in Russland auszuschließen. Sie korrespondiert mit neu geschaffenen Gesetzen, denen zufolge jede kriegskritische Äußerung eine Straftat ist. Dennoch dringt das System in das Milieu der oppositionell Gesinnten nicht ein und verkleinert es nicht. Dessen Mitglieder haben ihre eigenen Nachrichtenquellen und Austauschforen und ziehen sich in Echokammern zurück, wie es der Politologe Michail Turtschenko beschreibt. Er sieht zwischen ihnen und dem Staat eine wachsende Polarisierung und Entfremdung.
Zweitens, die Kriegsunterstützer: Es darf nicht beschönigt werden, dass es in der russischen Gesellschaft eine Menge überzeugter Kriegsbefürworter gibt. Personen, die Putin als Präsidenten vertrauen und die die autokratische Ideologie der „russischen Welt“ als anzustrebende Gemeinschaft der Slawen unter Russlands Führung akzeptieren. Sie sehen eine solche Führungsrolle als romantisierten nationalen Mythos, der mit Gewalt und geschickter Politik realisiert werden könnte, wie es der Moskauer Professor Alexej Levinson ausdrückt.
Solche Leute engagieren sich teilweise in regierungsnahen Organisationen, die es sogar gut finden, wenn Kinder ideologisch in Uniform auf Linie gebracht werden. Sie sind geprägt von einem traditionellen Antiamerikanismus und stolz darauf, dass ihr Land jetzt wieder dem mächtigen Westen trotzt. Bereitwillig schlucken sie den Infoschwall der Propagandakanäle, die die innerrussische Informationslandschaft dominieren. Die Kriegsbefürworter bestärken und eskalieren sich gegenseitig in der Abwehr unorthodoxer und abweichender Meinungen. Andrej Kolesnikow, Senior Fellow bei Carnegie Endowment, sieht als Folge dieser Eskalation eine Ausweitung des Diskurses auf vorherige Tabuthemen. So kommt es zu den Eskapaden, die es teilweise bis in deutschsprachige Soziale Medien schaffen, wo Pseudointellektuelle von Feldzügen bis nach Berlin fabulieren.
„Propaganda Cheerleader“ nennt Kolesnikow abfällig diejenigen, die sich für solch peinliche Ausfälle hergeben. Ihre Auftritte sollen laut einer Studie die Russen emotional mitreißen sowie den gefühlsmäßigen Bezug zum Vergangenen oder zu Putin herstellen. Putin wird unverzichtbar, da überall Feinde lauern, die das eigene Land zerstören wollen. Die polnische Politologin Agnieszka Legucka bezeichnet diese Ideologie als „Frankenstein-Imperialismus“, da sie von der Geschichte überholte Gebietsansprüche aus längst zu Grabe getragenen Epochen wie der Zaren- und Sowjetzeit auferstehen lässt.
Kriegsbefürworter sind jedoch keine Monster.
Kriegsbefürworter sind jedoch keine Monster. Der oppositionell-russische Filmemacher Andrej Loschak beschreibt in seiner sehenswerten Dokumentation Rasryw swjasi („Beziehungsabbruch“) sehr gut ihren Widerspruch: All diese Leute sind ganz normale Menschen, „liebende Eltern, Ehemänner“, wie es Loschak in einem Interview beschreibt. Aber wenn sie über die Ukraine sprechen, verlieren sie ihre Menschlichkeit. Es scheint, als stimme etwas mit ihnen nicht mehr, als ob etwas von ihnen Besitz ergreife.
Die Kriegsunterstützer versammeln sich hinter dem Buchstaben „Z“ und patriotischem Merchandising. Sie umfassen jedoch bei weitem keine 70 Prozent der russischen Bevölkerung. Wenn man aktuell durch Russland fährt, können Wochen vergehen, ohne dass man auf patriotische Symbolik stößt. Das liegt daran, dass es eben noch eine dritte große Gruppe von Menschen in der russischen Bevölkerung gibt, die sich aktuell mit dem Kriegskurs abfindet, aber weder ideologisch der Regierung nahe steht noch ihr generell vertraut.
Drittens, die Unbeteiligten: Allgemein ist weder die Unterstützung noch die Gegnerschaft zum Krieg in der russischen Bevölkerung stark verankert. Viele Russen denken fatalistisch und sehen keine Möglichkeit der politischen Einflussnahme, meint der Moskauer Soziologe Grigori Judin. Sie weisen die Verantwortung für den Krieg von sich, den „die da oben entschieden hätten“, umschreibt es der in Moskau lebende Politologe Jens Siegert. Auch andere Fachleute sehen in Russland eine dritte Gruppe neben überzeugten Kriegsgegnern und -befürwortern. Etwa der Soziologe Boris Kagarlitsky, der es so formuliert, dass viele Russen weder für noch gegen den Krieg sind und auch gar nicht auf ihn reagieren. Die meisten Russen seien völlig politikfern.
Diese Menschen sehen sich als Unbeteiligte am Krieg und deswegen werden sie hier so bezeichnet. Das ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheint. Für die meisten Russen ist die Ukraine vor allem eines: weit weg – oft tausende Kilometer. Man kennt maximal jemanden, der jemanden kennt, der dort kämpft. Im Verhältnis zur großen Bevölkerungszahl sind nur vergleichsweise wenig russische Soldaten im Einsatz.
Die Russen leben seit zwei Jahrzehnten in einem Staat, bei dem viele Analysten von einem Deal zwischen der Bevölkerung und den Herrschenden sprechen. Die Bevölkerung lässt die Herrschenden regieren und opponiert nicht – diese garantiert dafür Stabilität und einen wesentlich höheren Wohlstand als in den chaotischen neunziger Jahren. Eine große uninteressierte Bevölkerungsgruppe duldete demzufolge bis zum Krieg das System Putin ohne innere Überzeugung. Die Ferne der Politiker rund um den Kreml von den Menschen und die anhaltende Korruption der Bürokratie war ihnen bewusst – doch sie schienen besser als die Gefährdung der materiellen Existenz und die Wildwest-Zustände, wie sie Ältere aus der Jelzin-Ära kennen.
Viele Russen denken fatalistisch und sehen keine Möglichkeit der politischen Einflussnahme.
Diese Bevölkerungsgruppe wurde durch den Krieg massiv beunruhigt, opponiert bisher aber nicht gegen ihn, weshalb auch sie in Umfragen aktuell zu einer Kriegsunterstützung tendiert. Der Soziologe Lew Gudkow vom oppositionsnahen Lewada-Zentrum spricht dabei von einem inneren seelischen Unbehagen in Folge der Aggression gegen ein Nachbarland ohne einen äußeren Anlass.
Die Propaganda der russischen Regierung agierte geschickt und lieferte genau für dieses Gefühl auf allen Medienkanälen parallel ihre Rechtfertigungen für die Invasion sowie die beruhigende Behauptung, es handle sich nur um eine begrenzte Spezialoperation. Sie soll kaum begeisterten Unterstützerinnen und Unterstützern ihr „Ja“ erleichtern – es bleibe ja alles, wie es ist. Die Botschaft an die Unbeteiligten ist, man könne gut weiterleben, wenn man sich aus der Politik heraus- und an die Regeln halte. Trotz bestehender Ängste ist ein Wirtschaftszusammenbruch tatsächlich zunächst ausgeblieben und alles wirkt, als ob es in Russland weitergehe wie bisher.
Die Stabilität des Verhältnisses zwischen diesen vielen unpolitischen Russen und ihrer Führung wird jedoch momentan erschüttert. Etwa wird im Zuge des zunehmenden Totalitarismus neu ein aktives Einbringen in die „Russische Welt“ erwartet, womit viele entpolitisierte Russen nichts anfangen können. Ein „Heraushalten“ wird von oben nicht mehr als ausreichend angesehen. Die Regierung erschüttert damit selbst den Status quo.
Ob dennoch das System stabil bleibt, hängt davon ab, wie die Lebensumstände der Bevölkerung sich weiterentwickeln. Sinkt im Zuge des Wirtschaftskriegs gegen den Westen der Lebensstandard der breiten Bevölkerung, wird das stumpfe Mitziehen der Unbeteiligten sich schnell in eine ebenso stumpfe Blockade verwandeln, bis hin zu einem passiven Widerstand. Hier kann ein größerer Teil der Bevölkerung auch wieder empfänglicher werden für Ansichten abseits der Regierungspropaganda, sobald Letztere der eigenen Lebenssituation aus Armut und Arbeitslosigkeit widerspricht.
Ziel muss es sein, die Kriegsgegner nicht alleine zu lassen.
Welche Schlussfolgerungen gibt es für Europa aus der Stimmungslage der russischen Gesellschaft, wenn das Ziel die baldige Beendung des Ukrainekriegs ohne Kreml-Triumph sein soll? Ziel muss es sein, die Kriegsgegner nicht alleine zu lassen, indem man ihnen zeigt, dass eine pauschale Verteufelung aller russischer Staatsbürger nicht stattfindet. Den Unbeteiligten muss man vor Augen führen, dass die Zeiten von „Bleib unpolitisch und Dir geht es gut“ vorbei sind. In Bezug auf die Meinung aktiver und ideologischer Kriegsbefürworter ist es egal, wie sich die EU als dämonisierter Feind verhält – sie haben bereits ihr Feindbild.
Das wirkt recht allgemein, bietet jedoch eine Richtschnur bei konkreten Themen in der aktuellen Situation. So trifft die diskutierte Einschränkung von Reisen russischer Staatsbürger in die EU die Kriegsgegner wegen ihres größeren Interesses an und Bezugs zu Europa verstärkt. Unbeteiligte haben seltener Kontakte nach Europa und Kriegsbefürworter fast gar nicht (mehr) – alleine aus ideologischen Gründen. Ein Visa-Bann träfe die Falschen also am stärksten. Zusätzlich verstärkt das Aussperren aller Russen aus der EU die Isolation der russischen Gesellschaft und die dortige Meinungshoheit der Kremlpropaganda. Dagegen bringen Besucher aus dem Westen persönliche Meinungen und Eindrücke mit, die von der radikalen Propaganda abweichen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass immer der „mildeste“ Kurs gegenüber Russland auch der beste zur Beendigung des Kriegs ist. Im Gegenteil können etwa wirksame Wirtschaftssanktionen in Schlüsselbereichen genau den Effekt haben, dass das Leben der Unbeteiligten in seinen Grundfesten so erschüttert wird, dass es zu einem Umdenken in Bezug auf die eigene Regierung kommt. Werden sich Folgen des Kriegs auf das Familienleben, den Arbeitsmarkt und das eigene Privatleben auswirken, könnten handfeste Proteste entstehen, glaubt beispielsweise Boris Kagarlitsky. Bei jedem Thema ist ein Abwägen erforderlich, welche Maßnahmen in Russland welche Wirkungen entfalten.
Am Ende sei allen, die angesichts der momentanen Passivität der Russen den Kopf schütteln, Geduld und ein Blick ins Geschichtsbuch empfohlen. Putin sieht sich selbst in der Tradition der Zaren. Der letzte russische Zar schied jedoch in Folge eines Umsturzes von innen aus Amt und Leben, da er reaktionär verblichene Traditionen zum Fundament seiner Herrschaft gemacht hatte. Das muss nicht zum letzten Mal in der russischen Geschichte passiert sein. Putin selbst hat davor mehr Angst als vor dem Westen.