Ohne jeden Zweifel stellt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Zäsur für die Friedensordnung in Europa dar, auf die die europäischen Regierungen bereits jetzt mit drastischen politischen Kehrtwenden reagieren. In Finnland und Schweden formieren sich Mehrheiten für einen NATO-Beitritt. Dänemark plant ein Referendum zur Beteiligung an der EU-Verteidigungspolitik. Und die deutsche Bundesregierung strebt – wie zahlreiche andere europäische Länder – eine erhebliche Anhebung des Verteidigungsetats an.

Diese durch den Ukrainekrieg verursachte Zeitenwende darf jedoch nicht bedeuten, dass wir den Blick auf unsere Verteidigungsfähigkeit verengen. Angesichts der großen Herausforderungen – von den Corona-Folgen über die wachsende soziale Ungleichheit bis hin zum Klimawandel – müssen wir ökologische und soziale Fragen gleichrangig mitdenken. Mit Blick auf die vor uns liegenden Aufgaben spielen ein handlungsfähiger Staat, dessen Ressourcen sowie die Gestaltung der öffentlichen Daseinsfürsorge eine entscheidende Rolle. Das gilt für die Sicherheit ebenso wie für die sozial-ökologische Transformation. Die Zeitenwende muss in eine Systemwende münden.

Die Pandemie rückte soziale Fragen in den Fokus der gesellschaftlichen Debatte. Eine politische Kehrtwende löste sie trotz zahlreicher Ankündigungen jedoch nicht aus.

Die sicherheitspolitische Zeitenwende ist nicht die einzige, die wir in kurzer Zeit erleben. Auch die Corona-Krise hat dazu geführt, dass wir unsere Handlungsprämissen von Grund auf überdacht und uns, zumindest teilweise, von geltenden Dogmen verabschiedet haben. Nicht nur war man erstaunt über die Bereitschaft westlicher Demokratien, weitgehende Freiheitseinschränkungen durchzusetzen – auf einmal wurden in einem nicht für möglich gehaltenen Ausmaß öffentliche Gelder mobilisiert und das rigide Austeritätsdiktat zumindest zeitweise ausgesetzt. So schuf das Außerkraftsetzen der Maastricht-Kriterien den Mitgliedsstaaten erhebliche Spielräume bei der Schuldenaufnahme, während der EU-Wiederaufbaufonds mit seinen bereitgestellten 750 Milliarden Euro mit einem Tabu brach und den Weg für eine gemeinsame Kreditaufnahme durch die EU frei machte. Die Ausnahmesituation der Gesundheitskrise führte zu einer fiskalpolitischen Zeitenwende in der EU.   

Auch rückte die Pandemie soziale Fragen unmittelbar in den Fokus der gesellschaftlichen Debatte. Eine politische Kehrtwende löste sie trotz zahlreicher Ankündigungen jedoch nicht aus. Die Corona-Pandemie legte die Unzulänglichkeiten sowohl unseres Gesundheits- und Pflegesystems als auch unseres Bildungssystems gnadenlos offen: An allen Ecken und Enden mangelt es an Pflegepersonal. Trotzdem sind die Arbeitsbedingungen und Löhne weiterhin schlecht. Schulen leiden unter einem Investitions- und Modernisierungsstau. Sie sind kaum in der Lage, den künftigen Generationen die Qualifikationen für morgen zu vermitteln. Zusätzlich werden die Kapazitäten unseres Sozialsystems nun durch die massive Fluchtbewegung aus der Ukraine auf die Probe gestellt.

Doch gerade in Zeiten von Unsicherheit und fundamentaler Transformation wirkt soziale Gerechtigkeit wie der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Ohne sie bergen Krisen und Transformation das Potenzial, Populismus zu nähren und Gesellschaften auseinanderzutreiben. Daher brauchen wir nicht nur „Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen können, Soldatinnen und Soldaten, die optimal ausgerüstet sind“, sondern auch Schulen, die Lebenschancen eröffnen, Löhne, von denen man Leben kann und soziale Sicherungssysteme, die über Lebensphasen hinweg vor sozialen Härten schützen. Die Digitalisierung muss in dieser Hinsicht als wichtiges Mittel zum Zweck gesehen werden.

Gerade in Zeiten von Unsicherheit und fundamentaler Transformation wirkt soziale Gerechtigkeit wie der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält.

Die Zeitenwende in der Klimapolitik ist bislang ebenfalls ausgeblieben. Sicher, die Atomkatastrophe von Fukushima 2011 hat in Deutschland zu einer energiepolitischen Kehrtwende geführt. Doch der große Wurf in Sachen Klimaschutz blieb aus. Selbst Erfahrungen wie die Flutkatastrophe im Ahrtal im vergangenen Jahr haben noch nicht zu einem radikalen Umdenken geführt. Der derzeitige Krieg in der Ukraine offenbart die Kurzsichtigkeit der deutschen Abhängigkeit von russischem Gas. Die explodierenden Energiepreise geben nur eine Vorahnung davon, wie schmerzhaft die Energiewende für Wirtschaft und Gesellschaft werden kann.

Trotzdem ist klar, dass es keine Alternative zur Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels und damit zur Klimaneutralität bis 2050 gibt. Die Anstrengungen zum Schutze des Klimas und unserer Lebensgrundlagen müssen gebündelt und beschleunigt werden. Entsprechend darf dieses Ziel auch bei der Abwehr anderer akuter Risiken nicht vernachlässigt werden. Vielmehr zeigt die derzeitige Krise, wie schwierig es ist, eine schnelle Energiewende zu vollziehen, ohne Wirtschaft oder Gesellschaft zurückzulassen. Daher ist die sozial gerechte Ausgestaltung klimapolitischer Maßnahmen so wichtig. Eine Abkehr vom Ziel der Klimaneutralität zugunsten kurzfristiger Sicherheitsinteressen sollte gerade für die Sozialdemokratie keine Option sein.

Angesichts dieser Mehrfachkrisen ist ein ganzheitliches Denken notwendig. Sicherheit im Sinne der Gefahrenabwehr ist wichtig, entfaltet jedoch nur ihr volles Potenzial, wenn sie die Sicherung unserer Lebensgrundlagen und deren faire Verteilung ergänzt. Erstens brauchen wir daher eine Finanzpolitik, die neue Wege geht, um nicht nur Einnahmen zu generieren und Ausgaben richtig einzusetzen, sondern die Lasten fair zu verteilen. Während Verteidigungsausgaben keine „produktiven“ Zukunftsinvestitionen sind, und daher nicht über Schulden finanziert werden sollten, verhält es sich bei Ausgaben in die Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft anders. Zusätzlich zur Schuldenaufnahme sollte auch über andere Einnahmequellen nachgedacht werden. Ganz konkret gehören die Erbschaftssteuer, eine Vermögenssteuer oder eine Vermögensabgabe wie nach dem 2. Weltkrieg auf den Verhandlungstisch, um eine nachhaltige und gerechte Finanzierung zu gewährleisten.

Wir müssen die gesamte „Ökonomie des Alltagslebens“ auf neue Füße stellen und ein anderes Verständnis von Wertschöpfung entwickeln.

Zweitens kann die Systemwende nur mit einem leistungsfähigen, agilen Staat gelingen. Die Digitalisierung, Vereinfachung und Beschleunigung von Genehmigungs- und Planungsverfahren nehmen im Koalitionsvertrag eine prominente Rolle ein. Hierbei muss es um eine Effektivitätssteigerung und nicht um eine reine Verschlankung gehen. Eine Modernisierung der Infrastruktur ist dazu ebenso notwendig wie eine ausreichende, hochwertige Personalausstattung. Staaten müssen heute auf komplexe, sich schnell verändernde Entwicklungen reagieren können. Daher müssen auch in der öffentlichen Verwaltung Flexibilität und Agilität an die Stelle traditionell hierarchischer Strukturen treten. Wir brauchen einen leistungsfähigen, starken wie wendigen Staat, der auf allen Ebenen als Ermöglicher wahrgenommen wird. Er sollte nicht nur im Dienste der Bürgerinnen und Bürger stehen, sondern im Sinne von Mariana Mazzucatos entrepreneurial state die Weichen für eine zukunftsfähige Wirtschaft und Gesellschaft stellen.

Schließlich müssen wir die gesamte „Ökonomie des Alltagslebens“ auf neue Füße stellen und ein anderes Verständnis von Wertschöpfung entwickeln. Denn zum einen hat die Corona-Krise die brutale marktwirtschaftliche Logik im Gesundheitswesen offengelegt und belegt, dass „Fundamentalökonomien“ wie medizinische Versorgung und Bildungswesen staatlich gesteuert und organisiert werden müssen, und nicht gewinnmaximierenden Privatunternehmen überlassen werden dürfen. Zum anderen hat die Pandemie kurzfristig zu einer Umkehrung der Verhältnisse geführt: diejenigen, die weit unten in der Lohnkette stehen, waren plötzlich systemrelevant. Es waren die front liners – die Pflegekräfte, die Erzieherinnen und Erzieher, die Verkäuferinnen und Verkäufer – die das Wohlergehen und den Wohlstand der Gesellschaft sicherten. Daher plädiert Mazzucato dafür, ihren Beitrag an der gesellschaftlichen Wertschöpfung neu zu bemessen. Dieser Schritt steht noch aus.

Die Parallelität von Zeitenwenden kann nur mit einer umfassenden Systemwende beantwortet werden. Das bedeutet einerseits, dass Fragen der Sicherheit unbedingt mit Fragen der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit zusammen gedacht werden müssen. Andererseits heißt es, dass die Instrumente zur Politikgestaltung wie Finanzpolitik und staatliches Handeln neu gedacht werden müssen. Zwar haben sich einige Bürgerinnen und Bürger während der Pandemie weiter vom Staat entfernt – frustriert von Föderalismus-Chaos und Masken-Affären. Grundsätzlich ist aber die Sensibilität dafür gestiegen, dass der Staat mehr investieren und wieder viele Aufgaben in die Hand nehmen muss. Das könnte ein Gelegenheitsfenster für eine Systemwende bieten, die das Fortschrittsversprechen der aktuellen Regierung ganzheitlich einlöst.