Durch den Bericht des Journalistennetzwerks Correctiv hat sich in den letzten Wochen die Vorstellung verbreitet, die AfD habe auf einer Art zweiten Wannseekonferenz einen „Geheimplan gegen Deutschland“ entwickelt und plane nach der Machtergreifung die millionenfache Deportation von Menschen allein aus rassistischen Gründen. Das wirft Fragen auf. Hat Correctiv eine reale Gefahr aufgedeckt? Und welcher Umgang mit rechten Parteien wäre mit Blick auf die Stärkung der demokratischen Streitkultur angebracht?
Nüchtern betrachtet hatte das von einem rechtsradikalen Zahnarzt in Potsdam organisierte Treffen von 20 bis 25 Personen, wo Martin Sellner von der österreichischen Identitären Bewegung über das Thema „Remigration“ referierte, wohl keine allzu große Relevanz für das politische Geschehen in Deutschland. Es war schließlich kein Geheimtreffen der führenden AfD-Politiker, sondern ein Vernetzungstreffen von Geld- und Ideengebern im konservativen bis rechtsextremen Milieu. Zweifellos bieten Veranstaltungen dieser Art Grund zur Sorge. Solche Diskussionen sind aber weder ein neues, noch ein spezifisch deutsches Phänomen. Seit 20 Jahren finden Vorträge über die Theorie des „großen Austauschs“ vor viel größerem Publikum im neurechten Thüringer Institut für Staatspolitik statt. Überall in Europa sind rechte Parteien im Aufwind, in Italien ist sogar eine rechtsextreme Partei an der Regierung. Die Demokratie wird dort trotzdem nicht abgeschafft werden. In einer Zeit, in der sich kein europäisches Land die Abkoppelung von der EU leisten kann, ist dies nicht zu befürchten.
Die enorme Wirkung des Berichts und die Angst um die Demokratie, die durch das große Echo in Presse und Politik ausgelöst wurde, gehen vor allem auf den suggestiven Titel und einen Vergleich zurück. Erstens ist der Bericht mit „Geheimplan gegen Deutschland“ überschrieben, als sei dort ein Umsturz geplant worden. Und zweitens – der eigentliche Trigger – wird auf die historische Wannseekonferenz verwiesen. Daraus wurden die Behauptungen abgeleitet, die AfD hege geheime Pläne zur verfassungswidrigen, millionenfachen Deportation von eingebürgerten Deutschen nach rassistischen Kriterien. Dies sei nicht zufällig in räumlicher Nähe zur historischen Wannseekonferenz geplant worden, sei also quasi ein erster Schritt auf dem Weg zur massenmörderischen Wiederholung der Nazi-Vergangenheit.
Am Wannsee trafen sich 1942 jedoch keine rechten Zahnärzte und mittelständischen Unternehmer mit zweitrangigen Politikern zu Vorträgen, sondern ranghohe Regierungsvertreter, um die Organisation der endgültigen Vernichtung der europäischen Juden zu planen. Es ist aber offenkundig die Assoziationskette Remigration–Wannseekonferenz–Nazi-Pläne zur Ermordung von Millionen Menschen, die spezifisch deutsche Emotionen geweckt und die die von den Journalisten angestrebte Mobilisierung beträchtlicher Teile der Bevölkerung erzielt hat.
Auch im rechten europäischen Lager löste der Bericht erhebliche Rückwirkungen aus, insbesondere gegenüber der AfD.
Auch im rechten europäischen Lager löste der Bericht erhebliche Rückwirkungen aus, insbesondere gegenüber der AfD. Zwar ist die Idee, Deutsche mit Migrationshintergrund allein aufgrund rassistischer Kriterien wieder auszubürgern, gar nicht vereinbar mit dem Parteiprogramm der AfD, das eine Unterscheidung von Staatsbürgern erster und zweiter Klasse nach völkischen Kriterien explizit ausschließt. (Wie viele AfD-Mitglieder dieses Programm tatsächlich vertreten und wie viele eher völkisch denken, ist allerdings unbekannt.) Gleichwohl ging die französische Rechtsnationalistin Le Pen öffentlich auf Distanz und verlangte von der AFD eine schriftliche Distanzierung vom Gedankengut der „Remigration“.
Schon seit Monaten war vorher in Regierungs- und Journalistenkreisen darüber diskutiert worden, wie man den Zulauf zur AfD stoppen kann. Den Bericht von Correctiv verstehe ich als Versuch, eine von den beteiligten Journalisten vermutlich als durchaus real eingeschätzte Gefahr von rechts mit einem Nazi-Illusionstheater zu bekämpfen, weil man die Bevölkerung nicht für schlau oder mündig genug hält, diese Gefahr selbst zu erkennen. Das „Theater für einen guten Zweck“ erinnert an die staatsdienlichen Märchen – auch als „edle Lügen“ bezeichnet – in Platons Hauptwerk Der Staat. Sokrates argumentiert dort, dass Märchen in der Politik mitunter nötig und gerechtfertigt seien. Ein staatsdienliches Märchen ist eine Lüge oder irreführende Rede, die nicht zum Eigennutz, sondern altruistisch zum Wohle der Gemeinschaft ersonnen wird. Es dient dazu, diejenigen, die selbst nicht fähig sind, die Wahrheit zu erkennen, auf den richtigen Weg zu bringen.
In Platons idealem Staat werden solche Märchen von den herrschenden Philosophen erfunden, um möglichen Unzufriedenheiten und Revolten der unteren Klasse vorzubeugen, indem die Klassengesellschaft als natürlich ausgegeben wird. Platon wollte damit jedoch keineswegs sagen, dass jeder, der sich für klüger als andere Teile der Bevölkerung wähnt, Märchen in die Welt setzen sollte. Sein Modell galt nur für einen idealen Staat, in dem nicht diejenigen regieren, die sich nur für weise halten, sondern diejenigen, die es wirklich sind.
Eine Demokratie baut jedoch auf anderen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen auf, zu denen die Annahmen gehören, dass niemand einen privilegierten Zugang zur Wahrheit hat und dass eine gute Politik der wahrheitsorientierten und vielseitigen Diskussion aller Bürger mit ihren unterschiedlichen Perspektiven entspringt. Daher ist nicht anzunehmen, dass das edle Märchen von der Gefahr einer Wiederholung der Geschichte (Wannseekonferenz) wirklich etwas Gutes anrichtet. Die Gegenwart stellt uns vor andere politische und moralische Herausforderungen als die weit zurückliegende Vergangenheit. Darüber hinaus liegt in der Verteufelung „rechter“ Positionen eine Gefahr für die demokratische Streitkultur. „Rechts“, so wie der Begriff bei den Demonstrationen „gegen rechts“ verwendet wird, bezeichnet in Deutschland, anders als in anderen Staaten, heute eine politische Haltung, dessen Träger zunehmend nicht mehr als legitimer Gegner im politischen Wettbewerb, sondern als Feind der Demokratie betrachtet wird. Die Bedeutung von „rechtsradikal“ oder „rechtsextrem“ färbt sozusagen auf alle Positionen im konservativen Spektrum ab, die damit unter den Verdacht des verfassungsfeindlichen Rechtsextremismus gestellt werden. Umgekehrt ist für die Wählerschaft der AfD auch „linksgrün“ geradezu ein Schimpfwort geworden.
Tendenzen zur politischen Polarisierung sind auch in anderen westlichen Demokratien unübersehbar.
Tendenzen zur politischen Polarisierung sind auch in anderen westlichen Demokratien unübersehbar. In den USA hat sich eine Feindschaft zwischen zwei sich radikalisierenden politischen Lagern entwickelt, die die politische Stabilität gefährdet. Während der Präsidentschaft von Donald Trump schien der innenpolitische Gegner als größere Gefahr wahrgenommen zu werden als die äußere Bedrohung durch Russland: Trump provozierte seinen demokratischen Gegner, indem er den russischen Machthaber Putin öffentlich aufforderte, ihm belastendes Material über Familienmitglieder von Joe Biden zu liefern. Diese Erosion der Debattenkultur hat ihren Ursprung in der Verwechslung von politischer Gegnerschaft mit Feindschaft.
In einer Demokratie stehen sich Andersdenkende und politische Gegner als Konkurrenten um politischen Einfluss gegenüber, die den politischen Raum unterschiedlich gestalten wollen. Sie sind aber keine Feinde, sondern zugleich Verbündete in dem gemeinsamen Bemühen, demokratische und freiheitliche Verhältnisse zu erhalten und weiterzuentwickeln. Daraus ergibt sich eine kulturelle Aufgabe für jede Demokratie: Sie muss eine Streitkultur entwickeln, in der keine platonischen Illusionen kognitiver Überlegenheit gepflegt werden und in der der Antagonismus zwischen den politischen Gegnern entschärft wird. Der politische Diskurs muss insbesondere auf die Dämonisierung des Gegners verzichten. In den USA ging die politische Polarisierung bei den letzten Präsidentschaftswahlen so weit, dass ein erheblicher Teil der unterlegenen Partei nicht mehr bereit war, das Wahlergebnis und damit das demokratische Verfahren selbst anzuerkennen. Lieber schürte man in der eigenen Wählerschaft ein generelles Misstrauen in die demokratischen Institutionen, welches man für die eigenen Interessen instrumentalisieren konnte. So wurde schließlich eine alteingesessene Partei – die Republikanische Partei – zu einer echten Gefahr für die Demokratie.
Vor diesem Hintergrund erscheint es auch nicht unproblematisch, dass sich Regierungsmitglieder an den Demonstrationen „gegen rechts“ beteiligen. Der Anlass sind ja nicht rechtsradikale Verbrechen wie etwa die rassistischen Morde durch den NSU oder der Anschlag von Hanau. In solchen Fällen ist die Beteiligung von Politikern unverzichtbar, um zu zeigen, dass rechtsradikale Bedrohungen auf höchster Ebene sehr ernst genommen werden. Im Falle des Potsdamer Treffens geht es jedoch um politisch rechte Meinungsäußerungen, die vom Recht auf Meinungsfreiheit geschützt sind. Freilich sollte man eine derartige Vernetzung von Rechtsextremen mit Geldgebern aus dem konservativen Milieu nicht auf die leichte Schulter nehmen. Daraus folgt jedoch noch nicht, dass es eine gute, der Demokratie dienliche Politik ist, solche Meinungsbildungsprozesse schon wie Planungen zu rechtsradikalen Verbrechen zu behandeln, geschweige denn auf der Ebene der Wannseekonferenz.
Themen, über die nicht mehr gesprochen werden darf, werden dadurch nicht aus der Welt geschafft.
Die Frage muss doch umgekehrt lauten: Was macht ausgerechnet die völkisch denkende Rechte für Menschen aus der bürgerlichen Mitte attraktiv? Was erwarten sich mittelständische Unternehmer von einem identitären Aktivisten wie Martin Sellner, der sich nicht einmal selbst als großen Intellektuellen bezeichnen würde?
Die Antwort ist banal: Ein sehr großer Teil der Bevölkerung ist mit der Migrationspolitik seit 2015 unzufrieden. Viele Menschen machen sich Sorgen, unter anderem wegen der Gefahr islamistischer Anschläge, wegen der unzureichenden Infrastruktur für eine menschenwürdige Unterbringung und Integration von Flüchtlingen sowie wegen des erhöhten Sicherheitsrisikos für Frauen. Sie haben auch den Eindruck, dass die jetzige Regierung – ebenso wie die vorherige – nicht ausreichend bereit ist, die vielen verschiedenen Probleme, die sich aus der sehr hohen Zuwanderung ergeben, offen zu diskutieren, sondern sie eher „wegredet“. Und in der Tat scheint die Regierung den Bürgern – obwohl sie nicht nur 2015 gezeigt haben, dass sie heute alles andere als fremdenfeindlich sind – nicht wirklich zuzutrauen, diese Probleme offen und pragmatisch zu diskutieren.
Auch nicht wenige Journalisten beteiligen sich an dieser Strategie, indem sie Migrationskritik mit rassistischem Denken gleichsetzen. Auch diese Strategie der Tabuisierung anstatt des Ausdiskutierens von Problemen lässt ein aristokratisches Selbstmissverständnis vermuten: Die Vorstellung, die meisten Menschen seien mit der Komplexität der Materie überfordert und müssten durch die moralischen Märchen einer kleinen Schicht akademisch Besserwissender angeleitet werden, ist jedoch irreführend und wenig erfolgversprechend. Themen, über die nicht mehr gesprochen werden darf, werden dadurch nicht aus der Welt geschafft. So erzeugt man immer wieder neu die Geschäftsgrundlage, von der die neue Rechte lebt, wie auch die Zunahme an AfD-Mitgliedschaftsanträgen nach der „Aufdeckung“ des „Geheimplans gegen Deutschland“ zeigt. Denn so kann die völkisch denkende Rechte einen sicheren Raum anbieten, in dem die Probleme der Migration und der Wunsch nach weniger Zuwanderung frei diskutiert, nun aber eben auch für rechte Politik instrumentalisiert werden können. So entsteht, was man heraufbeschwört: eine wachsende Gefahr von rechts.