Im dritten Jahr der Pandemie zeigt sich, dass das internationale System katastrophal daran gescheitert ist, Milliarden von Menschen in Ländern des globalen Südens mit Impfstoff zu versorgen. Dort, wo es genügend Vakzine gibt, haben Regierungen mit dem Problem der Ungeimpften zu kämpfen. Diese stellen auch weiterhin die Gruppe mit der höchsten Todes- und Hospitalisierungsrate dar und bieten dem Virus jede Menge Möglichkeiten, neue und potenziell gefährliche Mutationen zu bilden.
Dieses Problem muss die Politik an der Wurzel angehen: Impfskepsis ist kein isoliertes Phänomen. Sie ist vielmehr ein Symptom des größten Übels unserer Zeit: der gebrochenen Gesellschaftsverträge, die in vielen Ländern dazu geführt haben, dass die Menschen den öffentlichen Institutionen nicht mehr vertrauen.
Ein Gesellschaftsvertrag setzt sich aus den grundsätzlichen Regeln, Normen und gegenseitigen Verpflichtungen zusammen, die die Individuen, die Unternehmen, die Zivilgesellschaft und den Staat aneinander binden. Einfach ausgedrückt definiert er, was wir einander schuldig sind. Im Kontext einer Pandemie bestimmt er das Ausmaß, in dem sich individuelle Vorlieben gegenüber gemeinsamen Interessen durchsetzen. Ob sich die Menschen verpflichtet fühlen, sich impfen zu lassen, eine Maske zu tragen oder sich bei einer Infektion selbst zu isolieren, ist keine epidemiologische, sondern eine soziale und politische Frage.
Ob sich die Menschen verpflichtet fühlen, sich impfen zu lassen, eine Maske zu tragen oder sich bei einer Infektion selbst zu isolieren, ist keine epidemiologische, sondern eine soziale und politische Frage.
Der Gesellschaftsvertrag bildet einen Rahmen für eine Vielzahl menschlicher Interaktionen. Wer ist beispielsweise in einer Gesellschaft für die Kinderbetreuung zuständig? Sollen Familien ihre Kinder zu Hause erziehen? Sollte dies durch Maßnahmen wie bezahlte Elternzeit staatlich unterstützt werden? Oder sollte die Betreuung Unternehmen überlassen werden?
Ähnliche Fragen stellen sich im Gesundheitswesen: Sollen die Kosten dafür von den Arbeitgebern, den Versicherungen, dem Staat oder den Menschen selbst übernommen werden? Und sollten wir von Arbeitgebern erwarten, dass sie Verträge mit geregelten Arbeitszeiten und Sozialleistungen anbieten? Oder sollten Beschäftigte damit zufrieden sein, von Job zu Job zu springen und selbst für ihre Zukunft vorzusorgen?
In traditionelleren Gesellschaften werden die Bedingungen des Gesellschaftsvertrags meist von Familien und Gemeinschaften erfüllt. Moderne Länder geben dagegen dem Markt und dem Staat eine größere Rolle. Aber überall wird von mündigen und fähigen Erwachsenen erwartet, dass sie zum Gemeinwohl beitragen – im Gegenzug dafür, dass sie in ihrer Kindheit, im Alter oder im Krankheitsfall unterstützt werden.
Sozialleistungen sind dazu da, den Menschen zu helfen, sich zu entwickeln und ihr Potenzial als nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu verwirklichen. Erwartet wird, dass jene, die etwas bekommen, auch etwas zurückgeben. Wenn jemand, der eigentlich leistungsfähig ist, nur empfängt und nichts beiträgt, stellt dies einen Bruch des Gesellschaftsvertrags dar, der sowohl das Zugehörigkeitsgefühl dieses Menschen zerstören kann als auch das Vertrauen und die gemeinsamen Ziele der Gesamtgesellschaft. Solche Übertretungen stören nicht nur das Leben der Einzelnen, sondern auch die Verbindungen, die eine Gesellschaft zusammenhalten.
In den meisten Ländern wurde der Gesellschaftsvertrag auf gemeinsamen Annahmen aufgebaut, die heute so nicht mehr gelten.
In den meisten Ländern wurde der Gesellschaftsvertrag auf gemeinsamen Annahmen aufgebaut, die heute so nicht mehr gelten. Traditionell wurde davon ausgegangen, dass alle Familien durch einen einzigen männlichen „Brotverdiener“ finanziert würden, während sich die Frauen um die Kinder und die Alten kümmerten. Es wurde erwartet, dass die Menschen bis zu ihrem Tod verheiratet blieben und Kinder nur innerhalb einer Ehe geboren würden. Männer hatten langfristige Arbeitsverhältnisse und im Laufe ihrer Karrieren wechselten sie nur selten den Arbeitgeber. Die in Schule und Ausbildung in jungen Jahren erworbenen Fähigkeiten sollten für das ganze Leben ausreichen. Die Menschen, die bis zur Rente durchhielten, benötigten bis zu ihrem Tod nur wenige Jahre Unterstützung.
Trotz ihrer zunehmenden Irrelevanz prägen diese Annahmen noch immer viele der Klauseln des Gesellschaftsvertrags. Weltweit nimmt heute – mit erheblichen regionalen Unterschieden – fast die Hälfte der Frauen am Arbeitsmarkt teil. In den reicheren Ländern werden zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Ehen geschieden. Auch im globalen Süden entwickelt sich der Trend in diese Richtung. Ein wachsender Anteil von Kindern wird unehelich geboren.
Heute durchläuft der durchschnittliche Beschäftigte in seinem Leben viel mehr Arbeitsverhältnisse als in früheren Generationen – eine Tendenz, die der technologische Wandel vermutlich noch weiter verstärken wird. Während sich die Entwicklungsländer bemühen, mehr Arbeitnehmer in formelle Beschäftigung zu bringen, scheint in den reicheren Ländern der informelle Sektor auf dem Vormarsch zu sein. Immer mehr Menschen geraten dort in prekäre Arbeitsverhältnisse mit wenigen oder gar keinen Sozialleistungen.
Für diese Entwicklung gibt es viele Gründe. Die beiden größten Faktoren sind bislang die veränderten Geschlechterrollen, die die traditionellen Systeme der Kinder- und Altenbetreuung ausgehebelt haben, und der technologische Fortschritt, der Arbeit und Ausbildung stark beeinflusst hat. Hinzu kommt, dass in vielen Ländern durch Migration und eine alternde Bevölkerung erhebliche demografische Veränderungen stattfinden. Schlimmer noch, der Klimawandel droht, ganze Volkswirtschaften und Lebensweisen zu untergraben.
Trotz der disruptiven Entwicklungen haben wir die Bedingungen unserer Gesellschaftsverträge nicht auf den aktuellen Stand gebracht.
Trotz dieser disruptiven Entwicklungen haben wir die Bedingungen unserer Gesellschaftsverträge nicht auf den aktuellen Stand gebracht. Deshalb leiden wir unter einer verwirrenden und zunehmend unhaltbaren Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Bürger und der Wirklichkeit. Kann eine Gesellschaft ihre einstigen Versprechen nicht mehr halten und merken die Menschen, dass ihre Beiträge nicht mehr wie früher belohnt werden, führt das zu Misstrauen und Entfremdung.
Diese Art von Zusammenbruch ist in vielen Ländern offensichtlich – und bietet eine viel vollständigere Erklärung für die Wut und die Unruhen der Gegenwart als die häufig zitierten stagnierenden oder sinkenden Lebensstandards. Oberflächlich betrachtet ähneln sich die beiden Erklärungen, aber die zweite reicht letztlich nicht aus. Es steht außer Frage, dass Ungleichheit und Armut mit einer Vielzahl sozialer Probleme zusammenhängen. Dies genügt jedoch nicht als Erklärung dafür, warum es in der Mittelklasse der reichen Welt immer mehr politischen Extremismus, Verschwörungstheorien, Drogensucht und Impfverweigerung gibt.
Die Epidemie der Einsamkeit und Depression in wohlhabenden, gut ausgebildeten Bevölkerungsschichten zeigt, dass sich hinter der sozialen Entfremdung mehr als materielle Entbehrung verbirgt. Persönliches Wohlbefinden hängt stark vom Gefühl der Zugehörigkeit und des Beitrags zu einer Gemeinschaft ab – also genau davon, was durch einen Gesellschaftsvertrag geregelt werden sollte.
Kann eine Gesellschaft ihre einstigen Versprechen nicht mehr halten und merken die Menschen, dass ihre Beiträge nicht mehr wie früher belohnt werden, führt das zu Misstrauen und Entfremdung.
Offensichtlich müssen unsere Gesellschaftsverträge überholt werden. Aber in welche Richtung? Im frühen 20. Jahrhundert erklärte die Sozialwissenschaftlerin Beatrice Webb, was ein Gesellschaftsvertrag leisten sollte. Ihre Beschreibung einer fairen Einigung zwischen Gesellschaft und Individuum hat bis heute nichts an Relevanz eingebüßt. Webb identifiziert drei übergeordnete Prinzipien: ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Sicherheit für alle, maximale Investitionen in die menschlichen Fähigkeiten und eine breitere Risikoverteilung.
Ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Sicherheit bedeutet, dass jede Gesellschaft eine soziale Grundsicherung schaffen muss, unter die Menschen nicht fallen können. Dafür gibt es viele Methoden: von Cash-Transfer-Programmen in Entwicklungsländern bis hin zu Steuererleichterungen für Geringverdiener in den Industriestaaten. Dazu gehören auch eine grundlegende Gesundheitsversorgung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, eine Arbeitslosenversicherung sowie eine angemessene Rente, um Altersarmut zu verhindern. In Entwicklungsländern bedeutet dies, mehr Arbeitnehmer in den formellen Sektor zu bringen. In reichen Ländern heißt es unter anderem, die Arbeitgeber zu verpflichten, Plattformarbeitern entsprechend ihres Arbeitsumfangs Sozialleistungen zu gewähren.
Dieser letzte Punkt ist entscheidend, da er verdeutlicht, dass Gesellschaftsverträge anpassungsfähig sein müssen. Sicherheit auf den Arbeitsmärkten ist nicht gleichbedeutend mit starren Regeln. Es bedarf vielmehr eines optimalen Kompromisses aus Sicherheit und einem hohen Maß an Flexibilität – was der ehemalige dänische Ministerpräsident Poul Nyrup Rasmussen als „Flexicurity“ bezeichnete. Die technologische Umwälzung und unvermeidliche Revolution in der Arbeitswelt erfordern, dass wir ein solches Gleichgewicht finden.
Schafft eine Gesellschaft keine Bedingungen, die es allen ermöglichen, ihr Potenzial zu verwirklichen, schadet sie nicht nur benachteiligten Gruppen, sondern auch allen anderen.
Das zweite Prinzip, das der maximalen Investition in Fähigkeiten, wurde zu häufig vernachlässigt. Sowohl in armen Ländern als auch in armen Bevölkerungsteilen in reicheren Ländern wird systematisch Talent vernichtet. Für die wirtschaftlichen Chancen, die für soziale Mobilität erforderlich sind, ist nicht ausreichend gesorgt. Ein Großteil dieses verschwendeten Talents findet sich bei Frauen und Minderheiten sowie bei Kindern, die in Familien oder Gemeinschaften geboren wurden, in denen sie keine Möglichkeit bekommen, ihre Fähigkeiten zu nutzen. Kann eine Gesellschaft keine Bedingungen schaffen, die es allen ermöglichen, ihr Potenzial zu verwirklichen, schadet sie nicht nur benachteiligten Gruppen, sondern auch allen anderen.
In den USA sind 20 bis 40 Prozent der Produktivitätszuwächse zwischen 1960 und 2010 auf die bessere Nutzung latenter Talente zurückzuführen. Veränderte Gesetze und Normen haben dazu geführt, dass Arbeitgeber aus einem viel größeren Pool an Fähigkeiten auswählten und Menschen einstellten, die die Anforderungen am besten erfüllten, anstatt nur aus einer kleinen Gruppe weißer Männer zu rekrutieren.
Dementsprechend wird eine Gesellschaft, die begabte Kinder aus unterprivilegierten Gemeinschaften fördert, erhebliche Innovationsgewinne erzielen. Forschungen an der London School of Economics zeigen, dass sich die Innovationen in den USA vervierfachen könnten, wenn „verlorene Einsteins“ aus ärmeren Familien ebenso viele Patente anmelden würden wie ähnlich talentierte Kinder aus wohlhabenderen Familien.
Eine Gesellschaft, die begabte Kinder aus unterprivilegierten Gemeinschaften fördert, wird erhebliche Innovationsgewinne erzielen.
Die erfolgreichen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts müssen aber nicht nur in die frühen Jahre ihrer Bürgerinnen und Bürger investieren, sondern auch gleichen Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten schaffen – etwa durch lebenslange Zuwendungen für Universitätsbesuche oder Fortbildungen. Obwohl die meisten Länder die Ausbildungsmöglichkeiten der Geschlechter angeglichen haben, werden Frauen am Arbeitsplatz immer noch benachteiligt. Durchschnittlich leisten sie zwei Stunden mehr unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit pro Tag als Männer. Durch eine großzügigere Elternzeit, eine öffentliche Unterstützung für Familien und eine fairere Arbeitsteilung zu Hause könnten sich weibliche Talente besser entfalten, wovon auch die Gesellschaft insgesamt profitieren würde.
Und schließlich muss der Gesellschaftsvertrag die Risikoverteilung auf eine breitere Basis stellen. Ein viel zu großer Anteil der Belastungen muss individuell gestemmt werden, obwohl es gemeinschaftlich viel leichter ginge. Beispielsweise ist es einfacher, Arbeitgebern mehr Flexibilität bei der Einstellung und Entlassung von Beschäftigten zu geben, wenn es Mechanismen gibt, die Entlassenen Arbeitslosenversicherung und Umschulung gewähren. Letztlich verteilen solche Maßnahmen das Risiko der Arbeitslosigkeit auf die gesamte Gesellschaft, anstatt Einzelpersonen und Haushalten verheerende Kosten aufzubürden.
Ähnliche Erkenntnisse gelten für Kinderbetreuung, Gesundheit und Altersversorgung. Es macht wenig Sinn, dass die Arbeitgeber die Kosten für Elternzeit übernehmen müssen. Durch eine öffentliche Finanzierung wird das gleiche Ziel erreicht und dabei nicht nur die Belastung für kleine Betriebe verringert, sondern auch mehr Fairness zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt geschaffen.
Ebenso ist es effizienter und kosteneffektiver für alle, wenn Gesundheitsrisiken auf eine größere Gruppe umgelegt werden. Noch besser funktioniert eine solche Umverteilung, wenn individuelle Anreize geschaffen werden, das eigene Risiko durch Ernährung und Bewegung zu minimieren. Maßnahmen wie eine automatische Mitgliedschaft in der Renten- und Pflegeversicherung geben Menschen mehr Sicherheit am Ende ihres Lebens, während sie gleichzeitig die Belastung anderer verringern. Deutschland und Japan verpflichten ihre Bürgerinnen und Bürger deswegen bereits dazu, sich für die Pflege im Alter zu versichern.
Der Gesellschaftsvertrag ist weder ein üblicher juristischer Vertrag noch ein Allheilmittel, das für so unterschiedliche Länder wie die USA, Japan, Chile oder Ghana gleich aussehen könnte. Jede Gesellschaft muss die Bedingungen der gesellschaftlichen Fürsorge – die auf Familien, Unternehmen, der Zivilgesellschaft und dem Staat beruht – entsprechend ihrer Geschichte selbst festlegen.
Was aber alle Länder gemeinsam haben, sind globale Herausforderungen wie den Klimawandel oder die Pandemie. Sich ihnen stückweise zu stellen, ist kein gangbarer Weg. Sie ohne einen Sinn für gemeinsame Interessen lösen zu wollen, wird unmöglich sein. Wir müssen unsere globale Verbundenheit erkennen und gleichzeitig die gegenseitigen Verbindungen neu knüpfen, die unsere Gesellschaften jeweils zusammenhalten. Nur durch neue Gesellschaftsverträge auf nationaler Ebene – die für unser modernes Leben zeitgemäß und relevant sind – können wir das Vertrauen wieder aufbauen, das nötig ist, um sowohl innerhalb unserer Länder als auch zwischen ihnen Solidarität zu schaffen.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Die ungekürzte englische Version erschien bei Project Syndicate.