Die derzeitige Situation in Italien erinnert an die Lage in Ungarn vor 14 Jahren. Damals gewann die Fidesz-Partei von Viktor Orbán überraschend eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und machte sich sofort daran, die Verfassung zu ändern, um ein autoritäres Staatssystem zu errichten. In Brüssel, Berlin und Paris wurde damals beschwichtigt. Man konnte sich nicht vorstellen, dass ein EU-Mitgliedsland in Richtung Autokratie abdriften könnte.
In Italien hat die Regierung Meloni im November Vorschläge für eine umstrittene Verfassungsänderung verabschiedet, die ebenfalls den Weg in eine autoritäre Herrschaft weisen. Diese Woche wird berichtet, dass Meloni das Vorhaben rasch zur ersten Lesung ins Parlament einbringen will. Und wieder herrscht in den Hauptstädten der EU geflissentliches Schweigen. Auf den Korridoren der Politik hört man: Wir haben schon zu viele Krisen. Wir brauchen Meloni in der Flüchtlingspolitik. Immerhin ist sie pro-europäisch, gegen China und für die Ukraine.
Man hofft, dass sich das Problem in Italien von selbst löst. Die Regierung bräuchte schließlich entweder eine Einigung mit den Oppositionsparteien, wonach es derzeit nicht aussieht, oder sie müsste die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger in einem Referendum einholen. Verliert sie das Referendum, ist die Sache vom Tisch. Die Gründe für das (europäische) Schweigen sind nachvollziehbar, erscheinen jedoch kurzsichtig. Das Risiko, dass Meloni Italien, das drittgrößte EU-Mitglied, in einen autoritären Staat verwandelt, ist zu groß, um alle Hoffnungen auf ein verlorenes Referendum zu setzen.
Doch was beinhalten Melonis Verfassungsreformen? Auf dem Papier geht es lediglich um zwei Artikel. Diese haben es jedoch in sich, denn sie würden das Machtgefüge Italiens umwälzen. Die Regierung Meloni schlägt ein einzigartiges System vor, bei dem die Wähler mit einer Stimme gleichzeitig den Premierminister, eine Partei in der Abgeordnetenkammer und eine Partei im Senat wählen. Premierminister wird, wer die meisten Stimmen erhält. Die Partei des Wahlsiegers erhält jedoch zudem einen Bonus von 55 Prozent der Sitze in beiden Kammern. Auch wenn eine Kandidatin für das Amt des Ministerpräsidenten nur 20 Prozent der Stimmen erhält, wird sie mit der uneingeschränkten Kontrolle über das Parlament belohnt, sofern sie mehr Stimmen erhält als jeder andere Kandidat.
Hätte Polen bei den letzten Wahlen das gleiche Wahlsystem angewandt, würde die PiS-Partei jetzt das polnische Parlament dominieren, obwohl sie nur 35 Prozent der Stimmen erhielt, während die Opposition 52 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Das System wäre völlig unverhältnismäßig, nach dem Motto „the (relative) winner takes all“. Das Kalkül dahinter ist offensichtlich. Melonis Partei führt zwar stabil in den Umfragen, ist aber weit von einer erdrückenden Mehrheit entfernt. Mit den vorgeschlagenen Änderungen könnte sie sich mit einem relativen Vorsprung eine dominierende Stellung im Parlament sichern.
Hätte Polen bei den letzten Wahlen das gleiche Wahlsystem angewandt, würde die PiS-Partei jetzt das polnische Parlament dominieren.
Melonis Vorschlag kombiniert darüber hinaus die Ideen eines präsidentiellen und eines parlamentarischen Regierungssystems auf eine Weise, die eine massive Machtkonzentration ermöglicht. In Präsidialsystemen, wie zum Beispiel in den USA, ist die Exekutive unter dem direkt gewählten Präsidenten klar von der Legislative (in den USA der Kongress) getrennt. In parlamentarischen Systemen ist diese Trennung schwächer: Die Regierung wird von einer Mehrheit im Parlament gewählt. Melonis Plan würde die Legitimität und Macht direkter Präsidentschaftswahlen mit der schwächeren Gewaltenteilung eines parlamentarischen Systems verbinden. Sie stünde keinem starken, sondern einem von ihrer Partei dominierten Parlament gegenüber.
Meloni rechtfertigt das Vorhaben mit dem Argument, dass Italien stabilere Regierungen brauche – grundsätzlich ein berechtigtes Anliegen. In den letzten drei Jahrzehnten haben die Regierungen im Durchschnitt nur zwei Jahre gehalten. Fairerweise muss man zudem betonen, dass die Idee eines Sitzbonus für die siegreiche Partei in Italien schon lange diskutiert wird. Solche Boni spielen bei Kommunal- und Regionalwahlen bereits eine Rolle.
Sie haben allerdings auch eine dunkle Geschichte. Im November 1923 verabschiedete das italienische Parlament das berüchtigte „Acerbo-Gesetz“. Es erhielt einen massiven Bonus für die relativ stärkste Partei – um Mussolinis faschistischer Partei den Weg zu bahnen. Das Meloni-Kabinett verabschiedete seinen Vorschlag nun genau 100 Jahre später.
Meloni tut das, was extreme Parteien gerne tun. Sie greift ein legitimes Anliegen auf, in diesem Fall die Regierungsstabilität, und schüttet das Kind mit dem Bade aus. Italienische Kommentatoren haben in der Vergangenheit viele gute Vorschläge gemacht, wie das System angepasst werden könnte, damit die Regierungen länger halten. Die Zementierung einer künstlichen Mehrheit mit einer direkt gewählten Premierministerin an der Spitze gehörte nicht dazu.
Es überrascht nicht, dass es weltweit kein vergleichbares Beispiel für ein solches System gibt. In einigen wenigen Ländern wie Griechenland und Armenien gibt es zwar einen Mehrheitsbonus, dieser fällt jedoch wesentlich geringer aus. Die Konstellation eines direkt gewählten Ministerpräsidenten gibt es hingegen überhaupt nicht. Es überrascht daher nicht, dass italienische Juristen den Plan bereits heftig kritisieren.
Eine Autokratie in Italien würde auch deutsche Interessen gefährden.
Was könnten die Bundesregierung, die EU und auch die Zivilgesellschaft tun? Zunächst sollte man sich bewusst machen, dass es nicht nur um demokratische Werte geht. Eine Autokratie in Italien würde auch deutsche Interessen gefährden. Man denke nur an die hochkorrupte autoritäre Regierung in Ungarn, die für viele deutsche Unternehmen zum Problem geworden ist.
Für EU-Bürger bedeutet jede autoritäre Regierung in der EU einen Verlust an Demokratie. Schon jetzt beeinflussen nach fraglichen demokratischen Prinzipien gewählte Abgeordnete aus Ungarn die gemeinsamen EU-Gesetze. Die OSZE stellte in der Vergangenheit mehrfach – zuletzt 2022 – fest, dass ungarische Wahlen den Verpflichtungen der Organisation für demokratische Wahlen nicht entsprechen.
Die Bundesregierung sollte sich mit den EU-Partnern abstimmen und die angestrebten Reformen zunächst vertraulich gegenüber der Regierung Meloni und dann öffentlich kritisieren. Die europäischen Partner sollten nicht den Eindruck erwecken, die innere Verfasstheit Italiens wäre ihnen gleichgültig. Eine beispiellose Machtkonzentration in der Exekutive widerspricht dem Demokratieprinzip, das im Völkerrecht und im EU-Vertrag verankert ist.
Europa hat zudem Institutionen, die sich mit Verfassungsfragen befassen, insbesondere die Venedig-Kommission des Europarats. Die Bundesregierung und ihre Partner sollten versuchen, die italienische Regierung davon zu überzeugen, die Venedig-Kommission anzurufen und deren Bewertung abzuwarten. Ein Rückzug auf diese Art und Weise wäre ein gesichtswahrender Weg für die italienische Regierung.
Denn die Meloni-Reform würde einen weiteren gefährlichen Präzedenzfall in der EU schaffen, der anders gelagert ist als die Situation in Ungarn. Dort hat die Fidesz die Macht hinter der Fassade eines konventionell anmutenden Verfassungssystems zementiert: Der Teufel steckt im Detail. Melonis Reformidee würde ein anderes Signal aussenden – nämlich, dass man autoritäre Bestrebungen nicht mehr hinter komplizierter Gesetzgebung verstecken muss, sondern dass jede noch so abenteuerliche Verfassungskonstruktion in Ordnung ist.