Wer dieser Tage mal bei der WM reingeschaut hat – und für viele in Deutschland dürfte das nach dem Ausscheiden vorerst das letzte Mal gewesen sein –, könnte verwundert sein. Denn auch wenn sich in einigen Twitterkreisen der Eindruck aufdrängt, dass dieses Turnier in Deutschland und Teilen Westeuropas weitgehend geächtet, ausgeblendet oder gar offensiv boykottiert wird, sehen das weite Teile der Welt offenbar anders. Gerade bei den Spielen der arabischen oder nordafrikanischen Teams kann von mangelnder Begeisterung keine Rede sein, auch die Fans der Mannschaften aus Afrika oder Südamerika sind offenbar mit ähnlicher Vorfreude nach Katar gereist, wie sie das auch zuvor bei den Turnieren in Russland, Brasilien oder Südafrika gemacht hatten.
In Deutschland fokussierte die Diskussion natürlich ebenfalls auf Klassiker einer Weltmeisterschaft, wie Kadernominierung, Aufstellung und Titelchancen – nach dem Ausscheiden dann eben Fehleranalyse und Rücktrittsforderungen. Neben dem rein Sportlichen rückten aber neue Faktoren in den Mittelpunkt der Berichterstattung: der Umgang Katars mit Arbeitsmigranten beim Bau der neuen Stadien, die Diskriminierung der LGBTQI-Community im Land am arabischen Golf und auch die fragwürdige Art und Weise, wie das historisch kleinste WM-Ausrichterland überhaupt zu diesem Turnier gekommen war. Damit sollte auch dem offenkundigen Versuch Katars entgegengewirkt werden, mit diesem Turnier globales Sportswashing fürs eigene Image zu betreiben. Wie sollte also damit umgegangen werden, dass hier zwei Zielsetzungen aufeinanderprallten: Die DFB-Elf wollte um den Titel mitspielen, gleichzeitig aber auch für die eigenen Werte einstehen.
Der DFB, den selbst eine nicht ganz blütenreine Vergangenheit in Bezug auf das Ausrichten einer WM plagt (Stichwort Sommermärchen), hatte sich vor dem Hintergrund dieser Probleme eine interessante Taktik zurechtgelegt. Im Verbund mit anderen westeuropäischen Verbänden wie der Schweiz, England, Wales, Niederlande, Dänemark und Belgien sollte ein Zeichen gesetzt werden. Mit dem Tragen einer Kapitänsbinde, die kreativ „One-Love“ getauft wurde, sollte ein Signal gegen Diskriminierung der LGBTQI-Community ebenso gesetzt werden wie gegen Rassismus und Antisemitismus.
Im Gegensatz zur Regenbogenflagge, die beispielsweise der Kapitän des SC Freiburg schon lange wöchentlich in der Bundesliga trägt, sollte die „One-Love-Binde“ mithin eine Art Catch-All-Signal für alle Diskriminierungen dieser Welt sein. Doch selbst dieses Zeichen wurde von der FIFA unter Androhung sportlicher Konsequenzen verboten. Gleichzeitig toppte der Weltverband die „One Love“ mit einer noch allgemeineren eigenen Kampagne. Nun stehen so plakative, wie banale Slogans wie „Protect the Planet“ oder „No Discrimination“ auf den Kapitänsbinden.
Gerade bei den Spielen der arabischen oder nordafrikanischen Teams, kann von mangelnder Begeisterung keine Rede sein.
Der DFB hat dafür eine Haltungsdebatte an der Backe. Denn kaum, dass die eigene Kampagne aufgegeben wurde, um die Chancen im Turnier nicht zu gefährden, hagelte es von allen Seiten Vorwürfe an den mitgliederstärksten Verband der Welt. „Die Nationalmannschaft solle sich schämen“, polterte der 11-Freunde-Chefredakteur Philipp Köster. Wirtschaftsminister Habeck, der erst kürzlich unter Verbeugung einen Gasdeal mit Katar abgeschlossen hatte, meinte, er würde die Binde bei der WM tragen und manche Kommentatoren sprachen gar von den DFB-Feiglingen. Nur das mediale Echo auf das Ausscheiden nach der Vorrunde dürfte noch heftiger ausfallen.
Was hier am aktuellen Beispiel sehr schön illustriert wird, ist die schwierige Balance zwischen der Einhaltung von Werten, die für unsere Gesellschaft fundamental sind, und der Verfolgung eigener Interessen, seien sie sportlicher oder auch wirtschaftlicher Natur. Der DFB hat dabei in sehr ungeschickter Weise vorgemacht, wie man es nicht tun sollte und damit ein Lehrstück dafür abgeliefert, wie wertegeleitetes Handeln in internationalen Zusammenhängen scheitern kann, wenn es planfrei erfolgt und Werte lediglich als Feigenblatt dafür fungieren, auch mitspielen zu wollen. Beim Versuch, sowohl moralisch fein dazustehen und dennoch an der Weltmeisterschaft (erfolgreich) teilzunehmen, hat er versucht, auf zwei Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen, und ist damit spektakulär gescheitert.
Indem die FIFA diese Feigenblattpolitik mit der ihr eigenen Brutalität und Chuzpe aufgedeckt hat, hat sie sowohl den DFB als auch den Rest der One-Love-Mitstreiter ein Stück weit diskreditiert. Ihre Glaubwürdigkeit für Veränderungsprozesse ist dahin, weil sie es zum einen versäumt haben, sich außerhalb ihres engen Umfelds Verbündete zu suchen, die der ganzen Kampagne vielleicht einen etwas weniger kolonialen Charakter hätten geben können, und zum anderen dann auch noch umgehend eingeknickt sind. Das vergrößert auf lange Sicht den Spielraum von Akteuren wie Katar heute, Russland 2018 oder auch Saudi-Arabien (vielleicht 2030), die mit globalen Sportereignissen versuchen, politische Ziele zu verfolgen. Denn nur wenige Motive dienen besser dazu, das eigene Image aufzubessern, als das populärste Turnier der Welt. Wenn dann noch die Moralapostel aus Deutschland vorzeitig wie begossene Pudel aus dem Wettbewerb ausscheiden, ist die Häme umso größer.
Wenn man aber einen Schritt vom Turniergeschehen zurücktritt, lohnt es sich, den Weltfußball mit der aktuell zerbröckelnden multilateralen Weltordnung zu vergleichen, denn einige Parallelen zu der Affäre rund um die One-Love-Kampagne kann man durchaus ziehen. Denn auch bei der Verurteilung des russischen Angriffs gegen die Ukraine in der UN-Vollversammlung sehen wir ein ähnliches Muster. Während der Westen inklusive einer Reihe von engen Verbündeten klar verurteilt, stellt sich eine Mehrheit der Welt an die Außenlinie und enthält sich. Der Vorwurf der Doppelmoral steht ebenfalls im Raum. Denn in Lateinamerika oder auch Afrika herrscht der Eindruck, dass bei der Verurteilung Russlands andere Maßstäbe angewandt werden als beispielsweise im Falle der amerikanischen Irak-Intervention 2003. Moralische Argumente aus dem Westen treffen in vielen Teilen der Erde zunehmend auf taube Ohren, es herrscht der Verdacht, dass damit die aktuellen unfairen Machtverteilungen eher zementiert werden sollen, wenn zugleich die Belastungen nicht gemeinsam angegangen werden. Dies hat nicht zuletzt die COP27 gezeigt, bei der die Frage der Klimafinanzierung, sprich der Zahlungen der Industrieländer für die Schäden der Klimakrise, weiterhin ungelöst blieb.
Moralische Argumente aus dem Westen treffen in vielen Teilen der Erde zunehmend auf taube Ohren.
Der DFB hat mithin exemplarisch gezeigt, wie man nicht vorgehen sollte, wenn es darum geht, die eigenen Werte glaubhaft und nachhaltig in internationale Kontexte einzubringen. Was also sollte vermieden werden:
Erstens: Werte drücken sich nicht allein in einer ad-hoc zusammengewürfelten Kampagne mit griffigem Slogan aus. Sie sind Grundlage und Leitfaden der eigenen Politik und damit langfristiger Kompass für die Gestaltung des internationalen Kontextes. Für deutsche Außenpolitik bedeutet dies, dass der bislang praktizierte Spagat aus hohen moralischen Ansprüchen einerseits und gleichbleibender wirtschaftlicher Interessenverfolgung andererseits neu austariert werden muss. Die Diversifizierung der Rohstoffversorgung sollte tunlichst nicht an Werte wie Demokratie oder Menschenrechte gekoppelt werden, wenn man gleichzeitig dem Herrscher von Katar seine Aufwartung machen muss, um die Gasversorgung zu gewährleisten. Die Idee vom Wandel durch Handel hat sich schon im Fall Russlands als Selbsttäuschung entlarvt, die nun notwendige Risikostreuung der Rohstoffabhängigkeiten sollte daher nicht erneut an unerreichbare Zielsetzungen geknüpft werden.
Zweitens: Je kleiner und homogener das Bündnis ist, desto sicherer erscheint das Scheitern. Internationale Gestaltung braucht neben einer Idee auch Verbündete, die zum einen ein gemeinsames Ziel verfolgen und zum anderen auch auf einem stabilen Netz gemeinsamen Vertrauens ruhen. Die aktuelle Einigkeit des Westens im Angesicht des russischen Angriffs ist eine wohltuende Abwechslung nach der Zeit der Zänkereien in den Jahren zuvor (Trump, Brexit etc.). Doch die Erhaltung der multilateralen Ordnung wird als alleiniges Projekt des Westens scheitern. Es bedarf eines deutlich breiteren Spektrums von Partnern, um eine weithin akzeptierte Form der Weltordnung zu etablieren. Die Vorbedingung dafür ist ein mühseliger und kleinteiliger Aufbau von Vertrauen und Partnerschaften sowie die Bereitschaft, eigene Pfründe aufzugeben. Die Energie- und Nahrungsmittelkrise infolge des russischen Krieges ist der erste Testfall, die Klimakrise wird der Lackmustest dafür sein, ob es gelingt, internationale Solidarität auch in der Praxis zu etablieren.
Seit dem 24. Februar häufen sich die Rufe nach einer deutschen Führungsrolle in Europa, aber auch weltweit. Das wird begründet mit der Größe der Herausforderungen und gleichzeitig der Werteorientierung und den Ressourcen des Landes. Die deutsche Bundesregierung kann daher vom Fußball lernen: Der DFB hat gezeigt, wie man trotz sehr großer Ressourcen Führungsaufgaben komplett versemmeln kann.
Wenn Initiativen richtungslos ausgeübt werden, nicht auf langfristig aufgebautem Vertrauen beruhen, keine diversen Partner auf Augenhöhe vorsehen und nur dem kurzfristigen Effekt dienen, scheitert der Versuch der Führungsübernahme schon am geringsten Widerstand. Der Schaden für die eigene Gestaltungsfähigkeit ist langfristig und nur schwer zu reparieren. Eine internationale Politik, die glaubhaft an Werten orientiert ist, geht offen mit eigenen Interessen um, berücksichtigt empathisch die Interessen und Perspektiven von Partnern und bezieht sie aktiv mit ein. Das hat nicht immer wirklichen Showeffekt, aber auch da wissen wir vom Fußball, dass die spektakulärste Show nicht immer die besten Ergebnisse zeitigt.