Die WM ist mit einem überragenden Finale und dem verdienten Sieg Argentiniens zu Ende gegangen. Auch wenn man den Spielern und insbesondere ihrem Ausnahmekönner Lionel Messi den ersehnten Erfolg gönnen mag – das Finale war erneut ein Höhepunkt für den Gastgeber Katar und seine Sportswashing-Strategie. Auf beiden Seiten standen die Superstars des Katar-Clubs Paris St. Germain: Youngster Kylian Mbappé, 2017 für 180 Millionen Euro verpflichtet, mit einem 2022 abgeschlossenen Vertrag soll er über 600 Millionen Euro in drei Jahren verdienen. Und eben Altmeister Messi, ablösefrei gekommen, mit einem geschätzten Gehalt von 40 Millionen Euro plus deutlich höhere Werbeeinnahmen jährlich. Dass Katars Vertretung seiner eigenen Interessen weltmeisterlich ist, zeigte Emir Tamim bin Hamad symbolisch mit dem dreisten Akt, dem argentinischen WM-Helden vor der Pokalübergabe ein schwarzes Gewand mit Goldborte umzulegen, das auf dem Siegerfoto sein Trikot teilweise verdeckte. Katar ist zwar in der Vorrunde ausgeschieden, aber trotzdem Weltmeister.
Seit der Ball rollte, besonders mit Marokkos engagiertem und überraschendem Auftritt, spätestens aber mit diesem Herzschlagfinale, lag der Fokus nicht mehr auf der Kritik am Gastgeberland. Fast vergessen schien die Debatte über Menschenrechte, getötete Arbeitsmigranten oder die Abwertung der LGBTIQ-Gemeinschaft. Eine Debatte allerdings, die im Wesentlichen eine europäische war und in anderen Weltregionen kaum geführt wurde. In Deutschland konnte eine breite Boykottbewegung, unterstützt von der Fanszene, nicht nur ihrer Kritik Luft machen, sondern auch kreative und nicht kommerzielle Alternativen anbieten: eigens organisierte Fußballturniere, mehr Aufmerksamkeit für die laufende Frauen-Bundesliga, Übertragung historischer Spiele, Kneipenquizze. Im deutschen TV brachen die Quoten drastisch ein, im Schnitt sahen diesmal nur etwas mehr als die Hälfte der Zuschauer der WM 2018 in Russland zu. Ein Trend, der anderswo jedoch nicht zu spüren war, die FIFA feierte sogar in vielen Ländern Zuschauerrekorde.
Die an der WM teilnehmenden europäischen Verbände scheiterten zudem kläglich mit ihrem Ansinnen, zumindest einen Bruchteil der Fankritik aufzunehmen und vor Ort anzubringen. Sieben Verbände hatten vollmundig angekündigt, vor Ort ein Zeichen setzen zu wollen. Mit der bunten „One Love“-Binde fiel das von vornherein wenig ambitioniert aus, denn sie sollte die in Katar unerwünschte und von der FIFA noch immer als angeblich unzulässige politische Aussage verdammte Regenbogenfahne ersetzen. Aber selbst die harmlose „One Love“-Binde war für FIFA und Gastgeber Katar zu bunt: Als die FIFA neben Geldstrafen auch noch sportliche Sanktionen in den Raum stellte – wahrscheinlich hätte es sich um nicht mehr als eine gelbe Karte für den Kapitän gehandelt –, wurde selbst dieses zweifelhafte Zeichen einkassiert. Damit verspielten die Verbände ihre sowieso schon stark angekratzte Glaubwürdigkeit nun völlig. Die „Mund zu“-Geste der deutschen Nationalspieler kann man daher getrost auch auf das Verhalten des eigenen Verbandes beziehen.
Der Maulkorb für den DFB und seine europäischen Verbündeten war eine Machtdemonstration der FIFA.
Der Maulkorb für den DFB und seine europäischen Verbündeten war eine Machtdemonstration der FIFA, insbesondere ihres Präsidenten Gianni Infantino, der jegliche Kritik an Katar bereits in seiner bizarren Eröffnungs-Pressekonferenz als unzulässige Doppelmoral verurteilte. In der arabischen Welt wurde das – durchaus nachvollziehbar – teils ähnlich gesehen: Haben doch deutsche Firmen massiv an der WM in Katar und den viel kritisierten WM-Baustellen mitverdient. Aber für Infantino war der Vorwurf der Doppelmoral ein Instrument, um Kritik an der, wie er immer wieder betonte, „besten WM aller Zeiten“ mundtot zu machen. Diese Strategie ging auf – obwohl der Korruptionsskandal um die griechische Europaabgeordnete Eva Kaili nahelegt, dass der korrupte Sumpf wohl noch viel tiefer war als gedacht. Neben Katar steht in dem Bestechungsskandal ausgerechnet die Führung des WM-Überraschungsteams Marokko im Visier, das Land versucht wegen der Westsahara-Frage seit Jahren massiv auf europäische Politik Einfluss zu nehmen. Im Rahmen der Ermittlungen wurde auch der Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes festgenommen, was die Frage aufwirft, ob möglicherweise auch die teils überschwänglichen gewerkschaftlichen Lobeshymnen auf katarische Reformen im Arbeitsrecht gekauft waren.
Deren Einschätzungen, die ansonsten eher die Geschäftspartner der Katarer wie zum Beispiel der FC Bayern vertreten, teilen große Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International nicht. Sie weisen darauf hin, dass immer dann, wenn Reformen und strengere Regeln beschlossen wurden, sie vor Ort vielfach umgangen wurden. Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass alle erlassenen Maßnahmen stillschweigend zurückgedreht werden, sobald die WM-Aufmerksamkeit weg ist. Gerade nach dem finalen Abpfiff im Al-Lusail-Stadion wäre es aber wichtig, auf die Rechte der Migranten zu schauen: Nicht nur in Katar, sondern auch in weiteren Golfstaaten. Die Aussichten dafür sind jedoch trübe. Die FIFA hat noch nicht einmal die von Menschenrechtlern geforderten Entschädigungen für Hinterbliebene der im Rahmen der WM-Vorbereitung getöteten Migranten zugesagt.
Vor allem aber gibt es noch keine Antworten auf die wichtigste aller Fragen in Folge der Katar-Diskussion: Was folgt an konkreten Veränderungen aus dieser WM, um eine baldige Wiederholung eines ähnlichen Desasters zu verhindern? Denn nach der WM ist vor der WM: Saudi-Arabien hat bereits die Absicht bekundet, die WM 2030 auszurichten. Gemeinsam mit Griechenland und Ägypten soll die Bewerbung als „Drei-Kontinente-WM“ vermarktet werden. Besonders pikant: WM-Held Lionel Messi ist seit Mai 2022 hochbezahlter Tourismus-Botschafter für Saudi-Arabien, obwohl sein eigener Verband sich mit Uruguay und Chile ebenfalls um die WM 2030 bewerben will.
Gegen die Aussicht auf ein Turnier in Saudi-Arabien wirkt die Katar-Diskussion wie ein Sturm im Wasserglas.
Gegen die Aussicht auf ein Turnier in Saudi-Arabien wirkt die Katar-Diskussion wie ein Sturm im Wasserglas: Im Land gibt es zahlreiche politische Gefangene, ihnen drohen Folter und Hinrichtungen. Minderheitenrechte werden brutal unterdrückt. Vieles deutet darauf hin, dass der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman den Mord an dem saudischen Exil-Journalisten Jamal Khashoggi persönlich anordnete. Und auch Ägypten hat unter Präsident Sisi eine erschreckende Menschenrechtsbilanz. Aber es wäre naiv zu glauben, dass dies die Chancen auf eine Vergabe schmälert. Saudi-Arabien hat bereits die Asien-Winterspiele 2029 an Land gezogen und holt bei dem Versuch, den Sport für politische und wirtschaftliche Ziele zu instrumentalisieren, nicht erst seit der Übernahme von Premier League Club Newcastle United 2021 auf. FIFA-Präsident Infantino und den saudischen Kronprinzen verbindet eine herzliche Beziehung, die sie auch in Doha zur Schau stellten.
Zwar wird die WM 2030 nicht mehr im selben zwielichtigen Format vergeben, wie die 2010 erfolgte Doppelvergabe an Russland und Katar. Damals entschieden 22 Funktionäre (von eigentlich 24 Mitgliedern, zwei waren bereits wegen Korruption suspendiert) in geheimer Abstimmung im FIFA-Exekutivrat. Die nächste Vergabe erfolgt 2024 im FIFA-Kongress, in dem alle Verbände zusammenkommen. Das erschwert zumindest Hinterzimmer-Deals. Aber Infantino hat mit seinem Klüngel längst genug Verbündete hinter sich gebracht. Er wird im März 2023 mit hoher Wahrscheinlichkeit wiedergewählt, Gegenkandidaten sind nicht in Sicht.
Europäer und DFB stehen mit ihrem Eintreten für Reformen und mehr Transparenz ziemlich alleine da – zumal ihnen selbst die Glaubwürdigkeit fehlt. So hatte der DFB Mitte November vollmundig verlauten lassen, man wolle Infantino bei der nächsten FIFA-Präsidentschaftswahl nicht unterstützen, weil man sich „ein deutlicheres Bekenntnis zu den Menschenrechten“ wünsche, ruderte aber mittlerweile schon wieder zurück. Um wirklich etwas zu ändern am destruktiven Kurs der FIFA gäbe es wohl nur einen Weg: Wenn die mächtigen europäischen Verbände ihr Gewicht in die Waagschale werfen und mit einem Boykott oder einem Austritt aus der FIFA drohen würden. Ein derart revolutionärer Schritt, wie ihn der dänische Verband kurz nach WM-Beginn ins Spiel gebracht hatte, erscheint im Lichte der „One Love“-Diskussion derzeit undenkbar. Stattdessen deutet alles darauf hin, dass die europäischen Verbände ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen wahren und sich der Linie der FIFA und ihres extravaganten Präsidenten unterordnen werden. Infantino wird aller Voraussicht nach im März 2023 wiedergewählt, die Stimmen der Europäer braucht er dazu nicht.
Sicher wird dann wieder viel von klangvollen „Reformen“ die Rede sein, die in Wirklichkeit keinerlei Veränderungen bewirken werden. Über Anti-Diskriminierungs- oder Menschenrechtsstatuten und entsprechende Gremien zu ihrer Einhaltung verfügt die FIFA bereits zur Genüge. Aber solange diese nicht verbindlich angewendet werden, bleibt das alles Augenwischerei. Viel Zeit bleibt den Europäern nicht, um noch Druck zu entfalten – ohne klare Positionierung des DFB und der UEFA droht schon bald das nächste WM-Desaster.