Der Präsident der Europäischen Kommission stellte letzten Monat die Tatsachen auf den Kopf, als er erklärte, die EU brauche Großbritannien, aber Großbritannien brauche nicht die EU. Zwar birgt die Dynamik eines Brexit Risiken für beide, doch für die EU ist die britische Mitgliedschaft keine Frage von Leben und Tod. Für das Vereinigte Königreich wird ein Austritt dagegen durchaus negative Folgen haben.
Ein Brexit mag für die britische Wirtschaft keine ökonomische Katastrophe sein, doch statt die Probleme zu lösen, die Großbritannien mit der EU hat, wird er neue schaffen. Wenn das Vereinigte Königreich die EU verlässt, wird die Regierung sehr wahrscheinlich versuchen, sich Zugang zum Europäischen Binnenmarkt zu verschaffen, indem sie eine Vereinbarung mit dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder – wie die Schweiz – bilaterale Freihandelsabkommen abschließt.
In beiden Fällen müssten britische Unternehmen europäische Vorschriften einhalten, ohne allerdings bei der Gestaltung dieser Vorschriften mitreden zu können. Der norwegische Politikwissenschaftler Erik Eriksen sagt zu den Erfahrungen seines Landes, das zum EWR, aber nicht zur EU gehört: »Die Norweger müssen im Flur warten, während Entscheidungen getroffen werden, die sie betreffen.« Norwegen genießt als Nicht-EU-Mitglied nicht mehr, sondern weniger Selbstbestimmung, da etwa drei Viertel der Gesetze, die für die Mitgliedstaaten gelten, auch für Norwegen bindend sind.
Auch das Schweizer Modell kann die Problematik nicht beheben. Das Land, das nicht zum EWR gehört, behält nominell seine Souveränität, und seine Legislative bringt neue europäische Gesetze formal zur Abstimmung. Doch um Zugang zum Europäischen Binnenmarkt zu erhalten, muss die Schweiz EU-Regeln einhalten.
Einige britische Euroskeptiker setzen ihre Hoffnung in bilaterale Handelsabkommen, die das Vereinigte Königreich mit Drittstaaten verhandeln könnte, sobald es nicht mehr an den Gemeinsamen Außenzoll gebunden ist. Die Realität wird vermutlich anders aussehen. Auf die Frage nach einem möglichen Handelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich nach einem Brexit erklärte der US-Handelsbeauftragte Michael Froman, die USA hätten »kein Freihandelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich, das somit denselben Zöllen – und anderen handelsbezogenen Maßnahmen – unterläge wie China, Brasilien oder Indien«. Washington sei nicht geneigt, fügte er hinzu, mit dem Vereinigten Königreich über Handelsabkommen zu sprechen, um ihm einen privilegierten Zugang zum US-Markt zu verschaffen.
Ein Brexit würde auch die Unabhängigkeit Schottlands wieder auf die Agenda setzen, denn dort findet die EU-Mitgliedschaft breite Unterstützung. Und auch wenn sich die Schotten für einen Verbleib entscheiden würden, so verlöre ein »unabhängiges« Großbritannien noch seinen letzten Einfluss auf der Weltbühne, denn dieser Einfluss hängt weitgehend davon ab, inwieweit das Land die Außen- und Sicherheitspolitik der EU mitgestalten kann.
Ob das Vereinigte Königreich die EU verlässt oder nicht, ändert an der Zukunft des europäischen Projekts wenig.
Abwägen müssen diese Fragen die britischen Wählerinnen und Wähler. Ob das Vereinigte Königreich die EU verlässt oder nicht, ändert an der Zukunft des europäischen Projekts wenig. Sein Erfolg hängt davon ab, ob es den europäischen Staatschefs gelingt, die völlig unzureichende Führungsarchitektur der EU zu verbessern. Damit die Eurozone überlebt, muss eine wirkungsvolle Plattform für eine engere Koordination der Fiskalpolitik und für strukturelle Reformen geschaffen werden. Wie die Griechenlandkrise in diesem Jahr illustriert hat, müssen die Europäerinnen und Europäer eine solche Plattform als legitim und demokratisch wahrnehmen können, nicht als technokratisch aufgezwungen.
Die EU muss dringend ihren Grenzschutz, die Einwanderung und das Asylsystem in Ordnung bringen – oder besser gesagt, die bunte Vielfalt der 28 unterschiedlichen Systeme, die in seinen Mitgliedstaaten gelten –, und zwar so, dass sie weder den Kontinent in eine von Mauern und Zäunen eingefasste Festung verwandelt, noch fremdenfeindliche populistische Gegenreaktionen provoziert.
Die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich sollten als Chance genutzt werden, um die EU-Strukturen flexibler zu machen. Doch letztendlich müssen sich die Briten zu den vier fundamentalen Freiheiten der EU bekennen, zu denen auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit gehört. Andernfalls hätte es tatsächlich wenig Sinn, wenn sie in der Union blieben.
Sollte das Vereinigte Königreich seinen Austritt beschließen, darf das nicht zu einem Modell werden, dem andere folgen. Während Großbritannien seine uralte Tradition der parlamentarischen Demokratie auch außerhalb der EU fortsetzen kann, gilt das nicht für andere Länder Europas, in denen es in der Vergangenheit bereits katastrophale Folgen hatte, als die politische Kooperation zwischen Staaten zusammenbrach.
Verfechter der freien Marktwirtschaft mögen es begrüßen, wenn sich die Briten dazu entschließen könnten, in der EU zu bleiben und sie zu tiefgehenden wirtschaftlichen Reformen zu veranlassen. Doch in Wahrheit vertritt Großbritannien den Kapitalismus des freien Marktes nicht entschiedener als Dänemark oder Deutschland. Und die Verhandlungen über seine Stellung innerhalb der EU sollten nicht von der viel größeren Aufgabe ablenken, vor der die EU-Staatschefs stehen: Ihre Aufgabe ist es, ein föderales System aufzubauen, das funktioniert und von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern als demokratisch wahrgenommen wird. Das, nicht die UKIP oder ein paar Tory-Hinterbänkler, sollte Frau Merkel und ihre Kollegen beschäftigen.





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