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Damit sich die Lebensbedingungen europäischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die noch immer unter den Folgen der Sparpolitik der letzten zehn Jahre leiden, endlich verbessern, muss die sogenannte Europäische Säule sozialer Rechte rasch umgesetzt werden. Andernfalls waren die vielen Diskussionen reine Zeitverschwendung.

Der Europäische Gewerkschaftsbund ist dennoch optimistisch, dass die Säule in der Europäischen Union echten sozialen Fortschritt einläutet, die soziale Dimension wieder in die europäische Debatte zurückkehrt und dem Wohlergehen der EU-Bürger wieder mehr Bedeutung zugemessen wird als einem „freien Markt“, der auf den Vorteil der Wirtschaft zugeschnitten ist.

Nachdem sich die EU-Mitgliedstaaten im November auf dem Gipfel in Göteborg zur Sozialen Säule bekannt haben, fordern wir die EU und die nationalen Regierungen auf, eine Reihe von Initiativen umzusetzen, die wir derzeit mit der Europäischen Kommission diskutieren.

Doch die Zeit ist knapp, und dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen muss die EU dem sozialen Fortschritt höchste Priorität einräumen, weil die Enttäuschung der Menschen nach der Sparpolitik schon jetzt Extremismus und Fremdenfeindlichkeit befördert und die europäische Solidarität gefährdet. Zweitens nähern sich die Europäische Kommission wie auch das Europaparlament dem Ende ihrer Amtszeit. Nach den Wahlen 2019 wird die EU eine neue Führung mit einer neuen Agenda haben. Das Verfahren für die Umsetzung der Sozialen Säule muss daher umgehend eingeleitet werden, damit es rechtzeitig abgeschlossen werden kann.

Die derzeit vorherrschenden neoliberalen Strategien haben in unvertretbarem Maße Arbeitslosigkeit, finanzielle Unsicherheit, Armut und soziale Ausgrenzung mit sich gebracht. Sie haben keine nachhaltige wirtschaftliche Erholung bewirkt, keine qualifizierten Arbeitsplätze geschaffen und keine stabilen öffentlichen Haushalte ermöglicht, die unverzichtbare öffentliche Dienstleistungen garantieren könnten. Es ist höchste Zeit für eine neue Strategie, die sich ein nachhaltiges und inklusives Wachstum zum Ziel setzt. Sogar Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist davon überzeugt, dass wir ein Europa brauchen, das die Menschen schützt, und eine Wirtschaft, die die Interessen der Menschen über kommerzielle Gewinne stellt.

Die derzeit vorherrschenden neoliberalen Strategien haben in unvertretbarem Maße Arbeitslosigkeit, finanzielle Unsicherheit, Armut und soziale Ausgrenzung mit sich gebracht.

Es geht hier um wichtige Maßnahmen, die jedoch nur umgesetzt werden können, wenn auf Seiten der nationalen Regierungen auch der politische Wille da ist.

Die Arbeitswelt verändert sich so schnell, dass die Regulierung nicht Schritt halten kann. Einer neuen Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge könnten etwa 9 Prozent aller Arbeitsplätze der Automatisierung zum Opfer fallen. Im Januar hat der Europäische Gewerkschaftsbund einen europaweiten Dialog zwischen Betreibern von Internetplattformen und Beschäftigten in die Wege geleitet, weil Hundertausende von Menschen in Europa derzeit ihren Lebensunterhalt mit isolierten, ungeschützten und prekären Jobs in der Gig-Economy bestreiten. Sie brauchen dringend Informationen über Arbeitgeber und Arbeitsbedingungen.

Ende 2017 veröffentlichte die Europäische Kommission willkommene Vorschläge für eine neue Richtlinie über „transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen“, die die bestehende „Richtlinie über schriftliche Erklärungen“ ersetzen soll. Danach sollen mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschützt und unfaire Bedingungen bekämpft werden. Derzeit müssen etwa Beschäftigte die eigene Aus- und Fortbildung bezahlen oder ständig auf Abruf zur Verfügung stehen, ohne für eine garantierte Stundenzahl entlohnt zu werden. Alle Beschäftigten, egal, ob sie nun in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit, in Haushaltsdienstleistungen, in der Zeitarbeit, in der Gig-Economy über Internet-Plattformen oder in flexiblen Arbeitsverhältnissen arbeiten, müssen ab dem ersten Tag der Beschäftigung einen schriftlichen Vertrag erhalten, in dem ihre Arbeitsbedingungen und Rechte festgelegt sind.

Doch ehe diese Vorschläge im Sommer an den Europäischen Rat gehen, fordern wir Gewerkschaften das Europaparlament und die nationalen Regierungen auf, den Schutz der schwächsten Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen und Null-Stunden-Verträgen zu stärken. Die bloße Zusicherung im Vorschlag für die Richtlinie, diese Menschen hätten die Möglichkeit, „sofern verfügbar, um eine Form der Beschäftigung mit planbareren und sichereren Arbeitsbedingungen zu ersuchen, garantiert weder Sicherheit, noch lassen sich damit missbräuchliche Praktiken bekämpfen. Wir erwarten außerdem einen größeren Schutz von Selbstständigen und Freiberuflern, ebenso wie ein Recht auf gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit.

Das „Paket für soziale Gerechtigkeit“, das die Kommission am 7. März vorstellen soll, steht in engem Zusammenhang mit der Umsetzung der Sozialen Säule. Es muss die Gleichbehandlung mobiler Beschäftigter ebenso im EU-Recht verankern wie den sozialen Schutz für alle, unabhängig vom Beschäftigungsstatus. Die Reform der Sozialsysteme in der gesamten EU, durch die diese fairer und inklusiver werden, ist ein entscheidendes Element der Sozialen Säule. Das Recht auf soziale Sicherheit und Sozialhilfe für alle ist ein Grundprinzip des europäischen Sozialmodells.

Wir erwarten einen größeren Schutz von Selbstständigen und Freiberuflern, ebenso wie ein Recht auf gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit.

Der Plan der Kommission, eine Europäische Arbeitsaufsichtsbehörde einzurichten, ist begrüßenswert. Bei richtiger Umsetzung könnte eine solche Behörde die Einhaltung von Tarifvereinbarungen durch die Arbeitgeber überwachen und Lohn- und Sozialdumping in den verschiedenen Ländern bekämpfen, insbesondere in Branchen wie dem Bau und dem Transportgewerbe. Die Gewerkschaften müssen daher vollständig in diese Arbeit eingebunden werden. Wir fordern ein starkes Gremium, das über die Macht verfügt, Arbeitnehmerrechte und Arbeitsnormen durchzusetzen, gegen Unternehmen mit Dumpinglöhnen Sanktionen zu verhängen und den sozialen Dialog zu stärken.

Eine größere Fairness gegenüber ausländischen EU-Beschäftigten lässt sich nur über eine Revision des Arbeitnehmerentsendegesetzes erreichen. Wir fordern ein ehrgeiziges Abkommen, das allen entsendeten Arbeitnehmern in Europa die vollständige Gleichbehandlung, angemessene Entlohnung und Vergütung sowie einen fairen Schutz garantiert. Wir werden auf Kommission, Parlament und insbesondere die Mitgliedstaaten Druck ausüben, damit diese Revision noch vor dem Frühjahr vorliegt.

Gleichzeitig müssen die nationalen Regierungen zeitnah ihre Zusicherungen für eine verbesserte Work-Life-Balance in praktische Richtlinien überführen, die Beschäftigten und ihren Familien das Leben erleichtern und den Weg in eine zukunftsfähige Wohlstandsgesellschaft öffnen. Mit der Verbesserung von Elternzeit und Pflegezeit sowie flexibleren Arbeitszeiten lässt sich die Diskriminierung von Frauen mindern und sicherstellen, dass Frauen dieselben Arbeitsmöglichkeiten und Rechte haben wie Männer.

Die Gewerkschaften werden 2018 Druck machen, damit die EU und die nationalen Regierungen diese Reformen rechtzeitig liefern. Ich habe bereits mit mehreren EU-Staatschefs persönlich gesprochen und werde diese Gespräche fortführen. Seit Jahren kämpfen wir für eine Stärkung der sozialen Dimension in der EU und haben sie in Form der Sozialen Säule erreicht. Nun müssen wir diese Chance nutzen und die Prinzipien dieser Säule in konkrete Maßnahmen überführen, damit die europäische Solidarität wiederhergestellt und ein wahrhaft soziales Europa errichtet werden kann.