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In weniger als 60 Tagen übernimmt Deutschland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Noch vor wenigen Monaten sah es so aus, als würden Klimaneutralität, Brexit und die Aushandlungen des künftigen EU-Haushaltsrahmen die bestimmenden Themen der deutschen Ratspräsidentschaft werden. Nun wird der Vorsitz ganz im Zeichen der COVID-19-Pandemie und ihrer schwerwiegenden Konsequenzen für den sozialen Zusammenhalt, die Wirtschaft und die Idee des grenzlosen Europas stehen. Die kroatische Regierung, die die Präsidentschaft derzeit innehält, wurde von den Auswirkungen der Pandemie kalt erwischt; sie musste ihre sorgfältige Planung des Ratsvorsitzes zugunsten von reinem Krisenmanagement aufgeben.

Die deutsche Bundesregierung hat mehr Vorlaufzeit, um die EU unter ihrer Ratspräsidentschaft mit inhaltlichen Impulsen und guter Verhandlungsführung aus der Krise zu führen. Sie muss die Gelegenheit nutzen, den „neuen Aufbruch für Europa“ mitzugestalten, den sie sich 2018 als Ziel im Koalitionsvertrag gegeben hat. Gerade die derzeitige Krise, die die Volkswirtschaften der EU in wirtschaftliche und gesellschaftliche Not gebracht hat, erfordert entschiedenes Handeln von Deutschland. Der Anspruch an eine zukunftsorientierte Europapolitik muss in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Im Vordergrund der Ratspräsidentschaft sollten folgende Themen stehen: 1. koordinierte Krisenbewältigung, 2. gemeinsamer Wiederaufbau mit einem starken EU-Haushalt und 3. Initiierung eines Dialogs über die Zukunft eines krisenfesten Europas.

Die letzte deutsche EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2007 operierte in deutlich ruhigerem Fahrwasser, wichtigster Punkt der Agenda war die Einigung auf eine Vertragsreform nach dem Scheitern des Verfassungsprozesses. Dreizehn Jahre später sind die Ausgangsbedingungen der Ratspräsidentschaft andere: Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur unsere Verwundbarkeit gegenüber einem Virus offengelegt. Sie hat auch wieder einmal zu Tage gefördert, dass die EU nicht ausreichend krisenfest ist, wenn es hart auf hart kommt. Nationale Alleingänge und unkoordinierte Restriktionen haben die Märztage bestimmt, in denen sich das Virus rasant in Europa ausbreitete. Die rigiden Grenzkontrollen stören bis heute das Funktionieren des Binnenmarktes. Sie setzen die Errungenschaft des grenzlosen Europas aus.

Neben der Bewältigung der Krise steht die deutsche Ratspräsidentschaft auch vor der schwierigen Aufgabe, die Diskussionen zur Finanzierung des kommenden Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) der EU zu moderieren.

Inzwischen hat die EU schrittweise zur Koordination und Solidarität zurückgefunden. Patientinnen und Patienten werden von überfüllten italienischen und französischen Krankenhäusern in andere EU-Länder ausgeflogen und lebensnotwendiges medizinisches Material wird geteilt und gemeinsam beschafft. Der Europäische Rat verständigte sich am 23. April 2020 über Hilfe- und Wiederaufbaumaßnahmen und Fahrpläne zur Lockerung der Restriktionen. Die Bundesregierung sollte diese Pläne als Leitlinien für ihre Präsidentschaft nutzen, damit eine Lockerung der Präventionsmaßnahmen koordiniert erfolgt und innereuropäische Grenzen zügig wieder öffnen können. Denn dann kann grenzüberschreitende Hilfe fließen, die Versorgungssicherheit des Binnenmarktes wird wiederhergestellt und die Grundfreiheiten für die Bürgerinnen und Bürger Europas werden gewahrt.

Neben der Bewältigung der Krise steht die deutsche Ratspräsidentschaft auch vor der schwierigen Aufgabe, die Diskussionen zur Finanzierung des kommenden Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) der EU zu moderieren und vor Jahresende zu einem Abschluss zu bringen. Die Einigung des Europäischen Rates auf einen finanzstarken Wiederaufbaufonds verknüpft mit dem nächsten MFR sind wichtige Bausteine für die europäische Erholung. Doch der Zeitdruck in den Verhandlungen über die zukünftigen finanziellen Prioritäten der EU war bereits vor dem COVID-19-Ausbruch groß. Selbst ein eigens einberufenes Gipfeltreffen im Februar konnte kaum Fortschritte zu den Finanzierungsfragen der EU erzielen.

Dass die Finanzierung des europäischen Wiederaufbaus im EU-Haushalt angesiedelt sein soll, ist überaus sinnvoll. Nur so ist eine demokratische Kontrolle der Mittelvergabe durch das Europäische Parlament gesichert. Aber es erhöht die Komplexität der MFR-Verhandlungen, die angesichts des wegfallenden Beitrags des Vereinigten Königreichs und neuer politischer Anforderungen auch ohne die Corona-Pandemie schon anspruchsvoll waren. Deutschland steht als Ratsvorsitzender vor der Herausforderung, eine schnelle Einigung herbeizuführen, den künftigen EU-Haushaltsrahmen auf weit mehr als 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) der Mitgliedstaaten zu erhöhen und diesen mit den politischen Prioritäten zu verknüpfen. Mit Rücksicht auf die derzeitige Krise müssen zusätzlich die Mittelvergabe in der künftigen siebenjährigen Haushaltsperiode weiter flexibilisiert und neue Einnahmenquellen für den EU-Haushalt bestimmt werden.

Europa kann nicht allein durch neue Fonds und Hilfspakete wiederaufgebaut werden. Für den Aufbruch in ein krisenfestes Europa braucht es den breiten und bürgernahen Dialog.

Viele Ideen, wie die europäische Finanztransaktionssteuer oder eine europäische Mindeststeuer, hatte die Kommission in ihrem ersten MFR-Aufschlag bereits unterbreitet. Sie finden inzwischen auch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel Anklang. Die Kommission hat zudem angekündigt, die Eigenmittelobergrenze von 1,2 auf 2 Prozent des BNE zu erhöhen, um mit den zusätzlichen Mitteln Gelder für den Wiederaufbaufonds am Kapitalmarkt zu generieren. So begrüßenswert die Idee ist, so schwierig wird sich ihre Umsetzung gestalten. Denn eine Erhöhung der Eigenmittel muss nicht nur der Rat einstimmig beschließen, auch alle National- und einzelne Regionalparlamente müssen die Entscheidung mehrheitlich annehmen.

Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass die EU nicht krisenfest ist, weil ihre Mitgliedstaaten nationalen Aktionismus über europäische Problemlösungen stellten. Die Aufarbeitung des Solidaritätsversagens und der Dialog über Europas Zukunft müssen daher in den politischen Fokus rücken. Die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprochene Konferenz zur Zukunft Europas bietet die Möglichkeit, gemeinsam einen Blick über den nationalen Tellerrand zu werfen und Dossiers offen anzugehen, die zwischen den Regierungen seit Jahren stocken - etwa die Frage nach institutionellen Reformen oder der des Wahlrechts bei Europawahlen. Ebenso sollten zukünftige europäische Prioritäten und der Weg dorthin im Mittelpunkt der Diskussion stehen.

Wichtig ist, dass dieser Dialog von europäischen wie nationalen Politikerinnen und Politikern wie auch Bürgerinnen und Bürger gemeinsam geführt wird. Das Europaparlament, die Europäische Kommission sowie zahlreiche gesellschaftliche Kräfte haben ihre Ideen zu Themen und Gestaltung eines EU-weiten Dialogs eingebracht. Nur von Seiten des Rates steht eine Positionierung zur Zukunftskonferenz noch aus. Auch wenn die Zukunftskonferenz aufgrund der Kontaktbeschränkungen nicht wie geplant zum Europatag 2020 starten kann: Gerade die zurückliegenden Wochen haben offengelegt, dass die Debatte zur Zukunft Europas – mehr denn je – notwendig ist.

Der zweijährige Dialogprozess muss daher nach Ende der Kontaktbeschränkungen, spätestens im Winter 2020/21 beginnen, wenn er bis zur Europawahl 2024 Ergebnisse vorlegen soll. Bedauerlicherweise wird die Konferenz im ersten Entwurf zu den Prioritäten der deutschen Ratspräsidentschaft mit keinem Wort erwähnt. Hier gilt es für die Bundesregierung nachzubessern und so den Blick in Europas Zukunft fest im Programm des Vorsitzes zu verankern. Europa kann nicht allein durch neue Fonds und Hilfspakete wiederaufgebaut werden. Für den Aufbruch in ein krisenfestes Europa braucht es den breiten und bürgernahen Dialog!