Die Wahl zum Europäischen Parlament findet im Juni statt. Doch in den weitläufigen Hallen des Straßburger Europapalastes, die von den geschwungenen Holzkonstruktionen der 1970er Jahre geprägt sind, treten drei weitere Schlüsselfiguren ins Rampenlicht: Didier Reynders, Alain Berset und Indrek Saar. Ihre Kandidaturen für das Amt des Generalsekretärs des Europarates könnten das Zünglein an der Waage sein, das bestimmt, wie Regierungen und europäische politische Parteien in diesem Jahr Schlüsselpositionen besetzen und die Rolle der Organisation auf der europäischen und internationalen Bühne gestalten.
Verkannt und chronisch unterschätzt, steht der Europarat – eine von der Europäischen Union (EU) völlig unabhängige internationale Organisation – bis heute im Schatten seiner Namensvetter, dem Europäischen Rat (bestehend aus den Staats- und Regierungschefs der EU-Länder) und dem Rat der EU (bestehend aus den Ministerinnen und Ministern der nationalen Regierungen der EU). Im Mai 1949 gegründet, war er die erste europäische Nachkriegsorganisation. Heute zählt er 46 Mitglieder: Alle EU-Mitgliedstaaten sowie alle europäischen Flächenstaaten, einschließlich der Türkei, gehören dem Europarat an, mit den Ausnahmen Belarus und Kosovo. Trotz seiner historischen Bedeutung und der Schaffung bahnbrechender Standards wie der Europäischen Menschenrechtskonvention, die einen umfassenden Katalog grundlegender Menschenrechte in den Mitgliedsstaaten verankert und eine einzigartige Klagemöglichkeit geschaffen hat, sah er sich in den letzten Jahren einem schwindenden Einfluss und wachsender Kritik ausgesetzt. Als „zahnloser Tiger“ verspottet, schien er vor allem gegenüber der EU ins Hintertreffen zu geraten.
Der beispiellose Ausschluss Russlands aus der Organisation im März 2022 war eine unmissverständliche Botschaft an die Welt.
Doch Russlands Einmarsch in die Ukraine und die dadurch ausgelöste Zeitenwende haben den Europarat wieder ins Rampenlicht der internationalen Politik gerückt. Der beispiellose Ausschluss Russlands aus der Organisation im März 2022 war eine unmissverständliche Botschaft an die Welt: Der Europarat ist entschlossen, seine Grundprinzipien zu verteidigen. Das politische Erdbeben hat der Bedeutung dieser Organisation neue Dringlichkeit verliehen und sie als unverzichtbares Dialogforum für die Ukraine, den Westbalkan und den Kaukasus positioniert.
Die Beziehungen zwischen der EU und dem Europarat gleichen einem anspruchsvollen Tanz auf hohem, aber unterschiedlichem diplomatischem Parkett. Der Europarat, der ältere und erfahrenere Tänzer, rühmt sich zu Recht seiner Unabhängigkeit und seines reichen Repertoires an Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte, zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit und zur Stärkung der Demokratie. Er hat zwar weder Souveränitätsrechte noch Gesetzgebungskompetenzen, ist aber unangefochtener Meister im Verfassen von Konventionen, die wiederum von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssen. Die EU, der jüngere und dynamischere Partner, bewegt sich mit wirtschaftlicher und politischer Kraft. In dieser Choreografie muss sich der Europarat oft der dominanten Führung der EU beugen – so scheint es auf den ersten Blick. Eine feine Pointe: Die EU, deren Handlungsspielraum durch den Vertrag von Lissabon erweitert wurde, beruft sich regelmäßig auf gemeinsame Standards und nutzt Einhaltungs- und Kontrollmechanismen wie die Wahlbeobachtung durch den Europarat. So liefert der Europarat die Normen und Standards, während die EU ihre politische und wirtschaftliche Macht nutzt, um sie in ihren Außenbeziehungen durchzusetzen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ein scharfes Schwert im Arsenal des Europarates.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg strahlt wie ein Juwel der Rechtsstaatlichkeit, auch wenn er mit Tausenden von Fällen überlastet ist. Entgegen der landläufigen Meinung ist der Gerichtshof ein scharfes Schwert im Arsenal des Europarates, der als bestallter Hüter und Siegelwahrer der Menschenrechte in Europa fungiert. Die Schärfe seiner Klinge zeigt sich darin, dass alle 46 Mitgliedstaaten die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben, was bedeutet, dass die Urteile des Gerichtshofs für alle diese Staaten und Regierungen bindend sind. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das „Big Brother Watch“-Urteil von 2021 gegen das Vereinigte Königreich. Darin stellte der Gerichtshof fest, dass die Massenüberwachung durch den britischen Geheimdienst gegen das Recht auf Privatsphäre und Meinungsfreiheit verstößt. Das Urteil hatte weitreichende Folgen für die Überwachungspraxis in Europa und setzte neue Maßstäbe für das empfindliche Gleichgewicht zwischen nationaler Sicherheit und bürgerlichen Freiheiten. Der vermeintlich „zahnlose Tiger“ entpuppt sich im Zweifel als wehrhafter Hüter der Menschenrechte. Die langjährigen Drohungen der Hardliner in der Tory-Partei des britischen Premierministers Rishi Sunak, den Europarat verlassen zu wollen, bestätigen daher eher dessen tagespolitische Wirkmacht.
Doch der Europarat sieht sich im aktuellen politischen Gezeitenwechsel mit einem schwindenden Respekt für demokratische Regeln und rechtsstaatliche Prinzipien konfrontiert. Dies zeigt sich, wenn Mitgliedstaaten Empfehlungen schlicht ignorieren, Untersuchungen zur Menschenrechtslage aktiv behindern oder Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs einfach nicht umsetzen. Ein Blick auf Länder wie Ungarn, die Türkei und bis vor kurzem auch Polen vermittelt ein eindringliches Bild der Problematik. Dabei stellen sich neben vielen praktischen auch grundsätzliche Fragen: Wie viele Verstöße gegen die Normen und Regeln der Organisation können toleriert werden, ohne die Glaubwürdigkeit des Europarates zu untergraben?
Inmitten dieser Turbulenzen wird in diesem Jahr ein neuer Generalsekretär des Europarates von der Parlamentarischen Versammlung gewählt. Seit 2019 bekleidet die Kroatin Marija Pejčinović Burić das Amt, in dem sie für die Außenvertretung, die strategische Planung, das Arbeitsprogramm und den Haushalt des Europarates zuständig ist. Drei Kandidaten haben nun ihren Hut in den Ring geworfen: der belgische EU-Justizkommissar Didier Reynders, der ehemalige Schweizer Bundespräsident Alain Berset und der ehemalige estnische Kulturminister Indrek Saar. In einem nächsten Schritt wird das Ministerkomitee die Kandidaten befragen und eine Empfehlung an die Parlamentarische Versammlung aussprechen.
Andere wichtige Weichen für die Zukunft des Europarates wurden bereits im Januar 2024 gestellt: Im zweiten Wahlgang wählte die Parlamentarische Versammlung den Iren Michael O'Flaherty zum neuen Menschenrechtskommissar und den Griechen Theodoros Rousopoulos zum neuen Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung, der in seiner Antrittsrede deutlich machte, dass neben der Ukraine und der Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen die Erhöhung der Sichtbarkeit der Organisation oberste Priorität haben werde.
2024 wird zweifellos ein entscheidendes Jahr für den Europarat.
Die Wahl des Generalsekretärs im Juni und sein Amtsantritt im September 2024 sind weit mehr als Formalitäten – sie werden die Zukunft des Europarates entscheidend prägen. In einer Zeit, in der autoritäre Regime auf dem Vormarsch sind und die Pfeiler von Demokratie und Menschenrechten ins Wanken geraten, muss der Europarat den Anspruch erheben, mehr zu sein als ein symbolisches Bollwerk. Er steht vor der Aufgabe, sich als unverzichtbare Bastion im Kampf für Menschenrechte und Demokratie zu behaupten und seine strategische Bedeutung zu erhöhen. Doch wie kann das gelingen?
Eine Antwort könnte in der sich rasant entwickelnden Digitalisierung liegen, bei der der Europarat bereits eine wichtige Rolle spielt. Durch die Überarbeitung der Datenschutzkonvention stellt er sicher, dass moderne Probleme wie Big Data und KI-gestützte Überwachungssysteme angegangen werden, um die Privatsphäre und die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Die Organisation steht auch kurz vor dem Abschluss der Verhandlungen über eine KI-Konvention, die sicherstellen soll, dass der Einsatz von KI sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor transparent und den Menschenrechten verpflichtet ist. Ein weiteres Beispiel ist die Anpassung an neue Formen der Cyberkriminalität. Angesichts zunehmender Cyber-Angriffe auf kritische Infrastrukturen muss er Rahmenbedingungen schaffen, die den Mitgliedstaaten helfen, ihre digitalen Verteidigungsstrategien unter Wahrung der Bürgerrechte zu stärken. Es liegt auf der Hand, dass diese hochkomplexen Aufgaben und die koordinierte Zusammenarbeit der verschiedenen Organe eine entsprechende finanzielle Ausstattung erfordern, an der es derzeit offensichtlich mangelt.
2024 wird zweifellos ein entscheidendes Jahr für den Europarat. Auch wenn die Wahl des neuen Generalsekretärs weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen dürfte als die Wahl des Europäischen Parlaments im gläsernen Nachbargebäude, ist sie doch von immenser Bedeutung. Wie und mit welchen Maßnahmen der neue Generalsekretär den enormen Herausforderungen der Gegenwart begegnen wird, entscheidet nicht nur über die Zukunft der Organisation, sondern hat potenziell weitreichende Auswirkungen auf die gesamte politische Entwicklung Europas.