Die Wirtschaft der Ukraine ist im freien Fall. Auch ohne den Konflikt in Osten des Landes wäre die Situation nicht einfach. Nun aber steht die ukrainische Gesellschaft vor wirklich schweren Zeiten. Im vergangenen Jahr ist die Wirtschaftsleistung nach Angaben der ukrainischen Notenbank um 7,5 Prozent geschrumpft. Das ist der schlimmste Einbruch seit der Weltwirtschaftskrise 2008/09, von dem sich die Ukraine noch gar nicht richtig erholt hatte. Hinzu kommen die Zerstörungen des Krieges, geschätzte 450.000 Binnenflüchtlinge, die auf absehbare Zeit nicht in ihre Heimat zurückkehren können, und eine beginnende Krise am Arbeitsmarkt. Ebenfalls kritisch: Eine Staatsverschuldung, die eine Refinanzierung nicht mehr am Anleihenmarkt, sondern nur noch über IWF-, EBRD- und EU-Hilfspakete zulässt. Daneben ist auch der Außenwert der ukrainischen Hryvna im Laufe des Jahres 2014 praktisch abgestürzt und hat sich gegenüber US-Dollar und Euro im Wert halbiert.

In dieser desolaten Situation setzen westliche Geber auf die üblichen austeritätspolitischen Ansätze.

In dieser desolaten Situation setzen westliche Geber auf die üblichen austeritätspolitischen Ansätze. Gefordert werden Steuererhöhungen, ein Runterfahren der Subventionen für den Gas-Endverbraucher, nur minimale Erhöhungen des Mindestlohnes, obwohl dieser ohnehin kaum zum Leben reicht, und die Abschaffung der Parität bei der Verwaltung der Sozialkassen.

Doch gerade diese Forderungen sind keine adäquate Lösung, will man die ohnehin stark unter Druck stehende Bevölkerung nicht geradezu in die Verarmung treiben. Dennoch werden sie weitgehend unhinterfragt propagiert. Und zwar sowohl von westlichen Ländern als auch von der neuen ukrainischen Regierung und dem Euromaidan.

 

Mehr von der falschen Medizin

Bezeichnenderweise holte die Übergangsregierung im Frühjahr ausgerechnet den georgischen Verfechter libertären Wirtschaftens, Kakha Bendukidze, als Wirtschaftsberater in die Ukraine. Er hatte in Georgien Expräsident Saakaschwilis Kampf gegen jegliche Marktregulierung angeführt. Allerdings konnte er vor seinem plötzlichen Tod am 13. November 2014 kaum Wirkung entfalten. Tatsächlich sind in den nunmehr neun Monaten seit dem Sturz Yanukovychs kaum welche der vom IWF vorgeschlagenen Reformen angegangen worden. Von der Prioritätenliste des IWF-Abteilungsleiters für Europa, Moghadam, vom April 2014 wurde bisher einzig im Bereich der öffentlichen Ausschreibungen und der Reform der Steuerverwaltung etwas Vorzeigbares abgearbeitet.

Einerseits ist das bezeichnend für die Beharrungskräfte des alten ukrainischen Elitengeflechts, das nach wie vor Bestand hat. Anderseits jedoch fragt man sich, weshalb angesichts der katastrophalen Auswirkungen der Austeritätspolitik in der EU die in Griechenland, Portugal und Spanien begangenen Fehler nun auch in der demnächst assoziierten Ukraine wiederholt werden müssen. Nach Albert Einstein ist die Definition von Wahnsinn, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten. Oder will die EU unter deutscher Anleitung nun noch eine weitere „verlorene Generation“ wie in den südlichen Unionsstaaten produzieren? Nun auch an der östlichen Grenze? Oder soll angesichts des Fachkräftemangels in Nord- und Mitteleuropa die Hoffnung der Ukrainer auf ein besseres Leben dazu genutzt werden, vom Brain Drain der gut Ausgebildeten zu profitieren? Es sei in dem Zusammenhang daran erinnert, dass seit der staatlichen Unabhängigkeit rund sechs Millionen Ukrainer im Verlassen des Landes den einzigen Ausweg aus ihrer Misere sahen.

Will die EU nun noch eine weitere „verlorene Generation“ wie in den südlichen Unionsstaaten produzieren?

Wie dem auch sei. Fest steht, dass die ukrainische Öffentlichkeit dieser neoliberalen Politik derzeit kaum etwas entgegenzustellen hat. Die ukrainischen Gewerkschaften etwa, die durch die Ereignisse im Februar in Kiew und im Mai in Odessa erhebliche materielle Einbußen zu verzeichnen hatten, haben durch den Verlust von Eigentum auf der annektierten Krim ihre Budgets um bis zu 40 Prozent kürzen und Mitarbeiter entlassen müssen. Das bringt sie nicht gerade in die vorteilhafteste Ausgangsposition für den anstehenden sozio-ökonomischen Reformprozess. Hinzu kommen die herkömmlichen Probleme des Mitgliederschwundes aufgrund von Überalterung, innere Konflikte unter den konkurrierenden Gewerkschaftsbünden und die Marginalisierung einst dominanter industrieller Branchen der Ukraine. Dieser Prozess hat aufgrund der Situation im Donbas noch einmal an Fahrt zugenommen.

Bislang haben die Gewerkschaften in der neuen Regierung keine Ansprechpartner gefunden. Die alte Regierungspartei »Partei der Regionen« hatte zuweilen in paternalistisch-populistischer Weise (Arbeits-)Gesetzgebung betrieben. Nun wird mehr und mehr deutlich, dass selbst damit nicht zu rechnen ist. Im Gegenteil: Seit dem Sommer 2014 kursieren fragwürdige Gesetzesvorhaben, die nur wegen der Diskontinuität des Parlamentsbetriebs noch nicht verabschiedet worden sind. Hierzu zählen etwa die Beschneidung althergebrachter Einspruchsrechte der Gewerkschaften bei Entlassungen, die faktische Abschaffung der ohnehin nur noch auf dem Papier existenten staatlichen Arbeitsinspektion und die Aufhebung der Mitwirkungsrechte bei der Verwaltung der Sozialkassen. Vor allem bei letzterem ist das Cui Bono leicht zu beantworten: Der Saat sehnt sich nach einem Griff in die Kassen.

 

Das ökonomische Schweigen des Euromaidan

Bezeichnenderweise haben es aber auch die Aktivisten des Euromaidan bisher nicht vermocht, eigene Reformmodelle für die ukrainische Wirtschaft aufzuzeigen. Ihre wirtschaftspolitischen Forderungen erschöpf(t)en sich nahezu ausschließlich im Ruf nach einem Ende der Korruption. Einzige Ausnahme sind hier einige Kandidaten auf der überraschend ins ukrainische Parlament eingezogenen Parteiliste Samopomich (Selbsthilfe). Ansonsten folgt der Maidan-Mainstream in undifferenzierter Weise dem in Westeuropa vorherrschenden neoliberalen Diskurs und schaut – abermals aufgrund des geringen Vertrauens in das bisherige Handeln der ukrainischen Politik – auf die EU als Hüterin der durch das Assoziierungsabkommen nötigen Anpassungsprozesse.

In die Umsetzung des als Teil des Assoziierungsabkommens übernommenen Deep and Comprehensive Free Trade Agreement (DCFTA) sollen dabei entlang der 15 Unterkapitel mittels begleitender „Plattformen“ und Arbeitsgruppen sowohl die Sozialpartner als auch NGOs eingebunden werden. Grundsätzlich ist die Involvierung zivilgesellschaftlicher Akteure in den closed shop des Sozialen Dialogs durchaus in Frage zu stellen. Allerdings mag man daraus angesichts des Zustandes der Gewerkschaftsbewegung zumindest die Hoffnung auf eine spätere Allianzbildung von Teilen der NGOs und der Gewerkschaften zugunsten der arbeitenden Bevölkerung schöpfen.

Auch die Aktivisten des Euromaidan haben es bisher nicht vermocht, eigene Reformmodelle für die ukrainische Wirtschaft aufzuzeigen.

Auf europäischer Seite ist der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) das Partnerorgan zur Implementierung des DCFTA. Das stellt in dieser Konstruktion eine komplette Neuheit dar. Daraus ergibt sich für die kritische Begleitung und Beeinflussung des Implementierungsprozesses zumindest die Chance, politisch über die Bande der Arbeitnehmerseite des EWSA Änderungen zu erwirken. Ebenfalls innerukrainisch liegt im Zuge der angestrebten Dezentralisierung des Landes einige Hoffnung in der Aktivierung der bereits existenten regionalen dreiseitigen Räte des Sozialen Dialogs im Sinne einer aus der Not geborenen neu aufgelegten Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und dem Staat.

Dennoch liegt auf der Hand, dass sozial abgefederte Reformen im Sinne des „rheinischen Kapitalismus“ und des oft propagierten „Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells“ einer Schocktherapie nach russischem Vorbild der 1990er-Jahre vorzuziehen sind. Wenn dies nicht geschieht, steht nicht nur der innere Zusammenhalt des Gemeinwesens in Frage. Diese Politik könnte auch eine neue, diesmal sozial begründete Protestbewegung heraufbeschwören.

 

Eine ausführlichere Version dieses Beitrags findet sich hier.