Die Frage der Staatsverschuldung wirft ihre Schatten auf Europas Zukunft. Brüssel spricht lieber über andere Themen wie den Green Deal oder das soziale Europa. Die europäische Öffentlichkeit interessiert sich bei Weitem mehr für Impfstoffe, Lockdowns und Einwanderung. Doch nichts trifft das Machtzentrum der EU so sehr ins Mark wie die Staatsschuldenfrage.
Schon ihre Erwähnung weckt schmerzhafte Erinnerungen an die Krise der Eurozone. Nach dem Schock von 2020 sind die Schulden noch weiter angewachsen. Und ob es uns gefällt oder nicht: Die Debatte beginnt bereits wieder und wird mehr als jedes andere Thema über die Zukunft Europas entscheiden.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat seit der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags 1992 viele Entwicklungsstufen durchlaufen, aber zwei Eckpunkte gelten bis heute unverändert. Die Staatsverschuldung der EU-Mitgliedsstaaten darf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten, und das jährliche Haushaltsdefizit darf nicht mehr als drei Prozent betragen. Von den Ländern, die diese Kriterien nicht erfüllen, wird erwartet, dass sie entsprechende Maßnahmen ergreifen, damit sie die Vorgaben wieder einhalten.
Die Umsetzung dieser Regeln hat sich als schwierig und konfliktträchtig erwiesen. Doch allein die Existenz des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist – unabhängig davon, wie praktikabel er ist – nach wie vor eine entscheidende Legitimationsgrundlage der Währungsunion.
Wegen der Corona-Pandemie und des dringenden staatlichen Handlungsbedarfs wurden die Fiskalregeln im März 2020 ausgesetzt. Derzeit gilt dies bis 2022. Das Resultat: Nachdem die Restriktionen ausgesetzt wurden, stiegen die Staatsschulden in Europa so stark an wie nie zuvor in Friedenszeiten. Ende 2020 lag das Verhältnis der konsolidierten Bruttoverschuldung des Staates zum BIP in der EU bei 90 Prozent und in der Eurozone bei 98 Prozent. Zurzeit halten gerade einmal 14 der 27 Mitgliedsstaaten die 60-Prozent-Grenze ein.
Doch nichts trifft das Machtzentrum der EU so sehr ins Mark wie die Staatsschuldenfrage.
Die großzügigen fiskalpolitischen Gegenmaßnahmen, mit denen auf die Pandemie reagiert wurde, sind jedoch nicht bedauerlich, sondern begrüßenswert. Sie haben Europa vor einer Katastrophe bewahrt. Dennoch stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. Wenn wir gerade im Ausnahmezustand leben – wann und unter welchen Bedingungen kehrt dann die „Normalität“ zurück? Im Sommer 2020 begann das Gerangel um den EU-Haushalt. Dieser beträgt allerdings selbst dann, wenn man den Konjunkturfonds hinzurechnet, nicht einmal zwei Prozent des EU-BIP. Das eigentliche Problem ist die Begrenzung der nationalen Budgets.
Die Corona-Krise lässt nicht nur die Staatsschulden anwachsen, sondern verschärft auch die Polarisierung in der Frage der Schuldenverteilung. Sieben west- und südeuropäische Mitgliedsstaaten sind inzwischen mit mehr als 110 Prozent des BIP verschuldet – mit steigender Tendenz. Die Entscheidung darüber, welche Regeln für diese ungleiche finanzpolitische Landschaft gelten sollen, hat Auswirkungen auf alle Aspekte der staatlichen Ausgabenpolitik, der Wirtschaftspolitik und der außenwirtschaftlichen Situation Europas.
Derzeit dreht die Eurogruppe der Finanzminister der Eurozone die staatlichen Geldhähne freudig auf und setzt auf eine kräftige Konjunkturerholung. Glaubt man den Statistiken der Europäischen Kommission, so ist die Haushaltslage der EU im Jahr 2021 weitgehend ausgeglichen.
Den Defizitfalken ist das nicht genug. Sie rufen lautstark nach einer langfristigen Konsolidierungspolitik. Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat nachdrücklich betont, dass Deutschland und Europa sich auf eine Haushaltskonsolidierung einstellen müssen. In der Süddeutschen Zeitung forderte eine Koalition aus führenden Vertretern der Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen in einem eindringlichen Appell die Rückkehr zu den deutschen und europäischen Fiskalregeln. Die Initiatoren sind größtenteils im Ruhestand, aber es gibt kaum Zweifel, dass ein Großteil der Mitte-Rechts-Parteien ihren Standpunkt teilt.
Diese Meinungsäußerung ist keine Überraschung; erstaunlich ist eher der scharfe Ton. Die Große Koalition in Berlin bestreitet den Konsolidierungsbedarf nicht. Nach den derzeitigen Plänen will sie die Schuldenbremse in Deutschland 2023/24 wieder einhalten. Angesichts der Größenordnung der Defizite, die Deutschland 2020 und 2021 gemacht hat und macht, bedeutet dies drastische Sparmaßnahmen.
Die Corona-Krise lässt nicht nur die Staatsschulden anwachsen, sondern verschärft auch die Polarisierung in der Frage der Schuldenverteilung.
Deutschlands Bruttoinlandsprodukt macht 30 Prozent des BIP der Eurozone aus. Eine fiskalische Kontraktion von zwei Prozent im Jahr 2022 würde für die gesamte Eurozone etwa 0,7 Prozent ausmachen – ein erheblicher negativer Impuls. Hinzu kommt, dass Deutschland nicht das einzige Land ist, das auf Konsolidierung sinnt: Auch Frankreich und Italien haben vor, ihre Defizite massiv zu senken.
Das optimistische Szenario sieht so aus, dass die Defizite automatisch zurückgehen, sobald die Wirtschaft sich erholt. Zu befürchten ist aber, dass ein umfassender Sparzwang der öffentlichen Haushalte das Wachstum bremsen würde. Nach den Erfahrungen der letzten zehn Jahre zu urteilen, wird dies dazu führen, dass Europa noch stärker auf Exporte angewiesen sein wird, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stützen.
Das wird Europas Handelspartner unter Druck setzen. Nach 2017 konnte man für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Europa und den USA leicht Präsident Donald Trump verantwortlich machen. Im Gegensatz zu Trump ist sein Nachfolger Joe Biden zwar ein Atlantiker, aber seine Regierung wird es nicht gerne sehen, wenn Europa als Trittbrettfahrer von amerikanischen Konjunkturprogrammen profitiert.
Im Interesse des innen- und außenpolitischen Gleichgewichts wäre Europa gut beraten, die Haushaltskonsolidierung so lange aufzuschieben, bis der Aufschwung stabil gesichert ist. Wenn Deutschland die Schuldenbremse wieder anziehen will: warum nicht erst 2025 statt bereits 2023 oder 2024? Doch wie auch immer der Zeitrahmen aussieht – die Konsolidierung wird die 2020 und 2021 aufgelaufenen Schulden nicht aus der Welt schaffen.
Das würde große und anhaltende Haushaltsüberschüsse erfordern. Dies wiederum birgt die Gefahr einer fatalen Abwärtsspirale, in der die Rezession die Staatsschuldenquote in die Höhe treibt, weil sie deren Nenner schrumpfen lässt. Griechenland, Italien, Portugal, Zypern, Frankreich, Spanien und Belgien haben allesamt eine Staatsverschuldung von mehr als 110 Prozent des BIP. Dies zeigt deutlich, dass die Maastricht-Grenze von 60 Prozent komplett unrealistisch ist.
Griechenland, Italien, Portugal, Zypern, Frankreich, Spanien und Belgien haben allesamt eine Staatsverschuldung von mehr als 110 Prozent des BIP.
Anders als 2010 besteht jedoch keine akute Krisengefahr. 2020 sind die Zinssätze trotz steigender Verschuldung gesunken. Die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) wirken beruhigend auf den Markt für Staatspapiere. Zwar will die EZB ihr Notkaufprogramm 2022 beenden, aber ihre Präsidentin Christine Lagarde wird sich wohl nicht auf das Katz-und-Maus-Spiel einlassen, mit dem ihr Vorgänger Jean-Claude Trichet 2010 und 2011 die europäischen Anleihemärkte destabilisiert hat. Maßgebliche Stimmen in der EZB, insbesondere Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel, fordern, dass Geld- und Fiskalpolitik sich komplementär ergänzen.
Die Fiskalregeln sind in den 1990er Jahren in einem ganz anderen Zinsumfeld entstanden. Aufgrund der heutigen Niedrigzinsen ist die Belastung durch den Schuldendienst weitaus geringer. Es ist verlockend, auf Regeln gänzlich zu verzichten. Aber die Architektur der Währungsunion mit all ihren Besonderheiten und das gegenseitige Misstrauen in Teilen der europäischen Öffentlichkeit fordern ihren Preis. Europa braucht ein Regelwerk. Doch die Vorgaben aus dem Maastricht-Vertrag sind völlig überholt.
Sollte 2022 der alte Stabilitäts- und Wachstumspakt wieder in Kraft gesetzt werden, wären Fehlentwicklungen und gegenseitige Schuldzuweisungen die Folge. Ein solcher Schritt würde Unsicherheit auslösen und den Aufschwung behindern. Wenn es wieder ein Regelwerk geben soll, müsste man sich zuerst auf ein neues System einigen, das den fiskalischen Realitäten in Europa gerecht wird.
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 zu den Anleihekäufen der EZB pochen Konservative in puncto Geldpolitik auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Das könnte man aber auch auf die Fiskalpolitik übertragen – ein Anfang wäre, dass man damit aufhört, Ängste zu schüren. Wer die Probleme in Vokabeln wie „Fiskalklippen“, „schiefe Bahn“, „Schuldenberge“ oder „Geldschwemme“ formuliert, betreibt Panikmache und keine ausgewogene Analyse.
Zwei Studien aus jüngster Zeit – die eine von Olivier Blanchard, Álvaro Leandro und Jeromin Zettelmeyer, die andere von Philippe Martin, Jean Pisani-Ferry und Xavier Ragot – zeigen auf, dass ein ausgewogener Ansatz absolute Defizit- und Schuldenquoten nicht zum Fetisch erhebt. In erster Linie geht es darum, Schuldenkrisen zu vermeiden.
Die Fiskalregeln sind in den 1990er Jahren in einem ganz anderen Zinsumfeld entstanden.
Dafür braucht es eine glaubwürdige Selbstverpflichtung zur Schuldentragfähigkeit. Welches Verschuldungsniveau tragfähig ist, hängt jedoch von einer differenzierten Beurteilung der nationalen finanzpolitischen Spielräume und der langfristigen Rahmenbedingungen der Finanzmärkte ab. Eine solche Berechnung ist äußerst komplex und beinhaltet große Unsicherheitsfaktoren.
Darüber hinaus ist die Fiskalpolitik eine wichtige Ergänzung zur Geldpolitik der Zentralbank, wenn der Zinssatz nah an der Nullgrenze liegt. Die keynesianische Grunderkenntnis, dass Staatshaushalte makroökonomische Auswirkungen haben, lässt sich nicht ignorieren. Dies gilt umso mehr, als ein Schlüsselfaktor für die Schuldentragfähigkeit die Wirtschaftslage ist, die ihrerseits von einer soliden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage abhängt. Auch hier gibt es Spill-over-Effekte zwischen den Ländern des Euroraums.
Eine übertrieben restriktive Fiskalpolitik ist in großen Volkswirtschaften genauso problematisch wie eine übermäßige Verschuldung. Und da Schulden über einen langen Zeitraum hinweg bedient werden, kommt es nicht nur auf die aktuelle gesamtwirtschaftliche Nachfrage an, sondern auf langfristiges Wachstum. Dies wiederum setzt Investitionen voraus. Ein Fiskalregelwerk, das Investitionen blockiert, untergräbt seine eigene Tragfähigkeit. Das gilt erst recht im Kontext der Klimakrise, die langfristige Investitionen in die Dekarbonisierung erfordert.
Die beiden oben zitierten Studien stellen die in diesem umfassenden Sinn verstandene Schuldentragfähigkeit in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die fiskalische Tragfähigkeit für jedes Land individuell zu beurteilen und dabei Unsicherheitsfaktoren und Eventualitäten und auch die Qualität der Ausgabenentscheidungen zu berücksichtigen. Der Unterschied zwischen den beiden Studien liegt in ihren Vorschlägen für die Ausgestaltung der Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen.
Blanchard und Co. regen an, die Überprüfung flexibler und dafür die Durchsetzung rigider zu gestalten. Sie empfehlen, den Europäischen Gerichtshof in die Entscheidung über Verstöße gegen fiskalische Vorgaben einzubinden. Philippe Martin und seine Mitstreiter plädieren hingegen für ein konventionelleres Verfahren: Für Kontrolle und Durchsetzung soll der Rat der EU zuständig sein.
Was auch immer geschieht – Deutschland wird aus einer Position der Stärke heraus verhandeln.
Was die beiden politischen Konzepte gemeinsam haben, ist der technokratische Beigeschmack. Beide setzen in hohem Maß auf die analytischen Fähigkeiten unabhängiger Finanzaufsichtsorgane. De facto würden Haushaltsentwürfe einem makroökonomischen Stresstest unterzogen, bei dem ihre Tragfähigkeit bei Zugrundelegung verschiedener Wachstumsraten und Zinssätze beurteilt wird. Diese Tests wären Expertensache und würden von Finanzaufsichtsbehörden auf nationaler und europäischer Ebene durchgeführt.
Beide Vorschläge zielen darauf ab, die starren Maastricht-Kriterien hinter sich zu lassen. Politisch entsprechen die Vorschläge jedoch genau dem ursprünglichen Geist der Fiskalregeln. Durch diese Regeln sollten haushaltspolitische Entscheidungen entpolitisiert und einer sachkundigen Kontrolle unterstellt werden. Würde Europa diesen Weg einschlagen, so wäre dies die fiskalische Entsprechung zur Entwicklung der Zentralbankpraxis: weg von den rein schematischen monetaristischen Regeln der frühen 1980er Jahre hin zu den Expertenentscheidungen der Zentralbanken seit den 1990er Jahren.
Der Unterschied besteht darin, dass die Zentralbanker über die Zinssätze das private Kreditsystem beeinflussen, während die Fiskalpolitik die klassische Domäne der parlamentarischen Politik ist, deren Entscheidungen sich auf das gesamte Gefüge der Staatsausgaben und -einnahmen auswirken. Es geht hier also um einen weitaus dramatischeren Fall von technokratischer Usurpation. Und wie wir aus früheren Runden der Haushaltskämpfe in Europa wissen, können die Grundlagen dafür nur politischer Natur sein – sie setzen voraus, dass die nationalen Regierungen sich einigen.
Im September stehen in Deutschland Bundestagswahlen an. Die entscheidende Frage wird sein, wer im Kanzleramt und im Finanzministerium das Sagen hat. Die Grünen sind für eine kraftvolle Investitionspolitik, die von der Schuldenbremse ausgenommen ist, und für eine Überarbeitung der europäischen Finanz- und Währungsarchitektur. Sie wären vielversprechende Partner für eine europäische Fiskalreform. Ein ganz anderes Szenario würde sich ergeben, wenn der rechte CDU-Flügel den Sozialdemokraten Olaf Scholz im Finanzministerium ablöst.
Für Frankreich mit seiner Schuldenstandsquote von 115,7 Prozent sind die alten Maastricht-Kriterien außer Reichweite.
Was auch immer geschieht – Deutschland wird aus einer Position der Stärke heraus verhandeln. Sein strategischer Partner ist, wie sich 2020 einmal mehr gezeigt hat, Frankreich. Es ist kein Zufall, dass französische Ökonomen – ob in Paris, Berlin oder Washington – in dieser Diskussion als Erste aus den Startlöchern kommen.
Für Frankreich mit seiner Schuldenstandsquote von 115,7 Prozent sind die alten Maastricht-Kriterien außer Reichweite. Für Paris ist die Ausgestaltung der neuen Regeln daher von strategischer Bedeutung, denn sie wird darüber entscheiden, ob Frankreich eine Strategie des investitionsgestützten Wachstums verfolgen kann oder ob es zu demütigenden und die Gesellschaft spaltenden Einschnitten in seinem großen öffentlichen Sektor gezwungen sein wird.
Das nächste Jahr verspricht äußerst dynamisch zu werden. Nach dem derzeitigen Zeitplan enden im Frühjahr das Notfall-Anleihekaufprogramm der EZB und die Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. In der ersten Jahreshälfte 2022 wird Frankreich die rotierende EU-Ratspräsidentschaft übernehmen, und zu allem Überfluss steht im April die erste Runde der Präsidentschaftswahlen an.
Ganz Europa wird gespannt mitverfolgen, wie sich der amtierende Zentralist Emmanuel Macron erneut mit Marine Le Pen von der rechtsextremen Rassemblement National messen wird. Macron wird zweifelsohne mit einem Programm für EU-Reformen antreten wollen. Der Rest Europas sollte sich auf einiges gefasst machen. Nur eines wird es mit Sicherheit nicht geben: die Fortführung des Status quo. Und auch ein Zurück zu den Regeln der Vorkrisenzeit ist keine Option.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal
Aus dem Englischen von Christine Hardung