Europäische Werte - Demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien sind der Markenkern europäischer Identität und das Erfolgsgeheimnis der EU. Jede Erweiterungsrunde hat das Europa der Demokratien weiter wachsen lassen und jede Vertiefung hat die EU ein Stückchen demokratischer gemacht.
Doch der bislang so verlässliche europäische Demokratiemotor ist merklich ins Stottern geraten. Der viel beschworenen Wertegemeinschaft droht ein kapitaler Getriebeschaden. Denn auf der europäischen Werteautobahn waren zuletzt immer häufiger politische Geisterfahrer unterwegs. Das viel gescholtene Ungarn ist dabei kein Einzelfall, auch in Rumänien oder Italien ist die Politik schon auf verfassungsrechtliche Abwege geraten.
Die jüngsten Problemfälle zeigen, wie hilflos die EU dasteht, wenn in einem ihrer Mitgliedstaaten demokratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien in Bedrängnis geraten.
Die jüngsten Problemfälle zeigen, wie hilflos die EU dasteht, wenn in einem ihrer Mitgliedstaaten demokratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien in Bedrängnis geraten. Von einem wirksamen Instrumentarium zum Schutz des gemeinsamen Wertekanons ist Europa weit entfernt. Vor dem EU-Beitritt müssen sich alle Kandidatenländer einem strengen Grundwerte-TÜV unterziehen. Doch wer erst einmal im Club aufgenommen ist, den kann Brüssel bei Demokratiedefiziten kaum zur Verantwortung ziehen.
EU-Integration: Die zahnlose Gemeinschaft der Werte
Beim Umgang mit Demokratiesündern bietet der europäische Instrumentenkasten bislang nur die Wahl zwischen "juristischem Zahnstocher" und "politischer Atombombe": Mit den klassischen Vertragsverletzungsverfahren kann die Europäische Kommission zwar konkrete Einzelverstöße gegen EU-Recht ahnden, doch diese erfassen meist nur die Spitze des Eisbergs der darunter verborgenen Missstände. Denn nur mit juristischen Spitzfindigkeiten vermögen die Kommission und der Europäische Gerichtshof Grundrechtsverstöße als Verletzungen des Binnenmarkts und der gemeinsamen Wettbewerbsregeln zu verfolgen. Dabei ist die EU weit mehr als nur ein Binnenmarkt und eine Währungsunion, sie ist vor allem eine Werteunion. Und diese Werte sind um ihrer selbst willen schützenswert.
Darum ist es gut, dass es seit 2009 eine europäische Grundrechtecharta gibt, die für alle Organe und Einrichtungen der EU bindend ist. Das gesamte Handeln der EU, insbesondere die europäische Gesetzgebung, muss sich seitdem an den Maßstäben der Charta messen lassen. Dagegen sind die Mitgliedstaaten nur an die Grundrechtecharta gebunden, wenn sie europäisches Recht vollziehen, beispielsweise bei der nationalen Umsetzung von EU-Richtlinien oder der Ausführung von EU-Verordnungen durch ihre Verwaltungen. Geht es dagegen um rein nationale Zuständigkeiten, fehlt der EU schlichtweg die Handhabe. Somit bleibt die Charta oft wirkungslos, wenn europäische Grundwerte in den Mitgliedstaaten missachtet werden.
Die europäische Grundrechtecharta bleibt oft wirkungslos, wenn europäische Grundwerte in den Mitgliedstaaten missachtet werden.
Selbst die vermeintlich schärfste Waffe im Arsenal der EU, das Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags, ist ein stumpfes Schwert. Einer Regierung droht nämlich nur dann der Entzug des Stimmrechts in den EU-Gremien, wenn die Staats- und Regierungschefs einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der europäischen Werte vorliegt. Doch wie groß ist schon der Abschreckungseffekt einer Sanktion, die wegen der hohen Hürden wohl nie zur Anwendung kommen wird? Für die EU, die sich selbst gerne auf die Fahnen schreibt, eine Wertegemeinschaft mit Vorbildcharakter für den Rest der Welt zu sein, ist all das ein ziemliches Armutszeugnis.
Pakt für Demokratie – Mitverantwortung statt Nichteinmischung
Gerne wird von Demokratiesündern auf das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates verwiesen. Doch dieses Argument darf nicht zum Feigenblatt gegen jegliche Kritik von außen werden. In der EU gibt es vielmehr eine Pflicht zur Einmischung, wenn ein europäisches Partnerland gegen gemeinsame Grundwerte und demokratische Standards verstößt.
Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates ist ein Relikt des 19. Jahrhunderts. Das Europa der Kleinstaaterei gibt es heute nicht mehr. In einer immer enger zusammenwachsenden Europäischen Union sind die 28 Mitgliedstaaten mittlerweile so eng miteinander verbunden, dass nationale Politik zwangsläufig auch Bestandteil einer gesamteuropäischen Innenpolitik geworden ist. Ob die dramatische Haushaltslage in Griechenland, das Ergebnis der Parlamentswahlen in Italien oder eben die Aushöhlung des Rechtsstaates in Ungarn – alle diese Entwicklungen betreffen längst nicht mehr nur die Bürger des jeweiligen Landes, sondern vielmehr alle Europäer!
In der EU gibt es eine Pflicht zur Einmischung, wenn ein europäisches Partnerland gegen gemeinsame Grundwerte und demokratische Standards verstößt.
Daher müssen wir in Europa auch gemeinsame Wege finden, wie wir mit Grundrechtsverstößen und Rechtspopulisten umgehen. Bislang hat die EU hier keine konsequente Strategie verfolgt. Es ist verheerend, wenn der Eindruck entstanden ist, dass in Europa mit zweierlei Maß gemessen wird. Die EU muss künftig kompromisslos für die Einhaltung der europäischen Grundwerte eintreten. Für alle Mitgliedstaaten müssen die demokratischen und rechtsstaatlichen Standards gleichermaßen und ohne Abstriche gelten.
Novum Grundwerte-TÜV
Dass es so auf Dauer nicht weitergehen kann, hat nach langen Monaten des Schweigens und Abwiegelns auch die alte schwarz-gelbe Bundesregierung in Berlin begriffen. Schlussendlich hat der ehemalige Außenminister Guido Westerwelle reagiert und mit seinen Amtskollegen aus Dänemark, Finnland und den Niederlanden einen neuen Mechanismus zum Schutz der europäischen Grundwerte und rechtsstaatlichen Prinzipien angeregt. Doch die gut gemeinte Initiative krankt an drei Stellen: der zentralen Rolle der Europäischen Kommission, dem Verzicht auf ein kontinuierliches flächendeckendes Monitoring und möglichen Strafmaßnahmen mit kontraproduktiver Wirkung.
Das Ministerquartett fordert, dass die EU-Kommission als "Hüterin der Verträge" auch die demokratische und rechtsstaatliche Reife der Mitgliedstaaten überprüfen soll. Doch die Kommission ist als europäischer Grundwerte-TÜV denkbar schlecht geeignet. Schließlich wird sie sich aus guten Gründen Schritt für Schritt weiter zu einer parteipolitisch orientierten EU-Exekutive entwickeln. Als politisches Organ dürfte die Kommission aber in dieselbe Falle tappen wie zuletzt schon Regierungen und Parteien. Denn die jüngsten Erfahrungen haben gezeigt, wie sehr die Parteibrille den Blick trübt, wenn es darum geht, Fehlentwicklungen in den Mitgliedstaaten sachlich zu analysieren und daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen.
Wenn die Verteidigung unserer gemeinsamen Werte nicht dauerhaft vom taktischen Parteienstreit überschattet bleiben soll, dann gehört diese Aufgabe zwingend in die Hände einer unabhängigen Instanz: einem europäischen Grundrechtebeauftragten. Dieser müsste vom Europäischen Parlament gewählt werden, um über ein entsprechendes politisches Gewicht gegenüber der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten zu verfügen. Um seine politische Unabhängigkeit zu untermauern, sollte er über eine achtjährige Amtszeit verfügen und von einer Zweidrittelmehrheit gewählt werden.
Wenn die Verteidigung unserer gemeinsamen Werte nicht vom Parteienstreit überschattet bleiben soll, dann gehört diese Aufgabe in die Hände einer unabhängigen Instanz: einem europäischen Grundrechtebeauftragten!
Unterstützt würde der Grundrechtebeauftragte von einer Institution, die man nicht einmal neu erfinden muss. Denn bereits seit 2007 gibt es mit der in Wien ansässigen Grundrechteagentur eine Behörde, die sich um den besseren Schutz der Grundrechte kümmert. Doch bislang fristet sie ein Schattendasein und ist kaum mehr als ein zahnloser Papiertiger: Daten sammeln, Gutachten schreiben, die Öffentlichkeit für Grundrechtsfragen sensibilisieren – mehr Aufgaben wollten die Mitgliedstaaten der Behörde nicht zubilligen. Dabei hätte die Grundrechteagentur durchaus das Zeug zur Keimzelle eines ambitionierten Frühwarn- und Sanktionsmechanismus für Grundrechtsverstöße in der EU. Was fehlt, ist allein der politische Wille, ihr endlich ein breiteres Mandat und neue Aufgaben zu geben.
Als Wächter über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit würde der neue Beauftragte regelmäßig Länderberichte zur Grundrechtssituation in allen Mitgliedstaaten vorlegen. Mit einem kontinuierlichen flächendeckenden Monitoring auf der Basis objektiv messbarer Kriterien ließe sich bei etwaigen Defiziten frühzeitig Alarm schlagen und konsequent gegensteuern.
Bewährt hat sich dieses Prinzip des "blame and shame" bereits im Erweiterungsprozess, wo die Beitrittsreife von Kandidatenländern regelmäßig in Fortschrittsberichten beurteilt wird. Warum sollen bald nicht auch gestandene EU-Staaten unter Beweis stellen müssen, dass sie die hohen europäischen Standards weiterhin erfüllen? Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit sein. Schließlich behalten die Kopenhagener Kriterien ihre Gültigkeit auch über den Beitritt hinaus. Die EU darf nicht den Eindruck erwecken, als seien ihr die wirtschaftliche Anpassungsfähigkeit und der Haushaltsstand wichtiger als die Einhaltung der gemeinsamen Werte.
Intelligente Sanktionen statt blindem Abstrafen
In den meisten Fällen dürfte ein "blauer Brief" aus Brüssel bereits ausreichen, damit eine betroffene Regierung die angemahnten Mängel aus freien Stücken abstellt. Wer steht schon gerne als überführter Demokratiesünder am europäischen Pranger? Doch ganz ohne Sanktionen wird man uneinsichtige Wiederholungstäter kaum ausbremsen können. Daher muss die EU auch ihren Strafkatalog gründlich überarbeiten. Die Bewertungen aus den Länderberichten müssten in eine Art Brüsseler Punktekonto einfließen, das Grundrechtsverstöße nach Quantität und Qualität bemisst und ab einer bestimmten Schwelle automatisch Sanktionen auslöst. Damit wäre die Entscheidung über Gegenmaßnahmen künftig dem Einfluss der Politik entzogen. Blockademanöver aus reiner parteipolitischer Nibelungentreue gehörten dann der Vergangenheit an.
Doch mit einer blinden Politik des Abstrafens ist letztlich niemandem geholfen. Ob einem EU-Staat bei ernsthaften Zweifeln an seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Reife in letzter Instanz auch die Fördermittel aus den Brüsseler Geldtöpfen gestrichen werden sollen, darüber scheiden sich die Geister. Denn allzu oft führen solche Sanktionen in eine Sackgasse – entweder verpuffen sie wirkungslos oder wirken gar kontraproduktiv. Daher muss sich jede Sanktion daran messen lassen, ob sie zu einer grundlegenden Verbesserung der Grundrechtssituation in dem betroffenen Land beiträgt.
Anstatt die Zahlung von Fördergeldern auszusetzen, sollte daher ein Teil der EU-Mittel zugunsten von Programmen und Projekten umgewidmet werden, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundwerte fördern.
Es kann nicht allein darum gehen, Demokratiesünder durch politischen Druck dazu zu bewegen, die beanstandeten Mängel kurzfristig auszuräumen. Vielmehr sollten Sanktionen darauf hinwirken, dass dort, wo europäische Standards missachtet werden, mittelfristig stabile Strukturen geschaffen werden, die einen erneuten Rückfall erschweren. Anstatt die Zahlung von Fördergeldern auszusetzen, sollte daher besser ein Teil der EU-Mittel zweckgebunden zugunsten von Programmen und Projekten umgewidmet werden, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundwerte gezielt fördern. Alternativ könnte auch ein fester Anteil der europäischen Fördermittel zunächst zurückgehalten und erst nach einem positiven Grundwertebericht ausgezahlt werden.
"Diktaturen sind Einbahnstraßen, in Demokratien herrscht Gegenverkehr" – so hat es der italienische Schriftsteller Alberto Moravia treffend auf den Punkt gebracht. Die EU muss den politischen Geisterfahrern in ihren Reihen unmissverständlich klarmachen, dass sie es sind, die in der falschen Richtung unterwegs sind und nicht alle anderen. Ein Grundwerte-TÜV könnte den stotternden europäischen Demokratiemotor wieder auf Touren bringen. Es wäre einen Versuch wert, damit das Europa der Grundwerte nicht weiter unter die Räder gerät.
Eine ausführlichere Version dieses Beitrags als FES-Perspektive finden Sie hier.
3 Leserbriefe
Ihr Artikel und Vorschlag gefällt mir sehr gut, gerade in einer EU in der wir eine immer schärfere und sanktionsbewehrte Überwachung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik akzeptieren!
Natürlich gibt es kleine'Abers', wie z.B., dass nicht jede Vertiefung die Demokratie in der EU stärkt. Das zeigt bisher gerade die reformierte WWU Gouvernanz.
Bei der Umsetzung Ihres Demokratieüberwachungsvorschlages ist das 'Aber' vielleicht doch etwas größer. Es betrifft den neuen Beauftragten zusammen mit der neuen Agentur. Vielleicht ist es gerade noch knapp vorstellbar, dass er mit Hilfe der Agentur 'blaue Briefe' an Regierungen verschickt - wenn überhaupt. Aber alles Weitere müsste vielleicht -wenn man es ohne Kommission und Rat tun will- mit Hilfe des EUGH erfolgen?
und die Zukunfstperspektive von mehr oder weniger Europa
abstimmen,auch die Wahlbeteiligung wird die Wertschätzung
und "Einordnung" der bisherigen Europapolitik eine wichtige
Vorentscheidung über den "Stillstand,Fortschritt,oder Rückschritt in der Weiterentwicklung wesentlich mitbestimmen.Die magere aktuelle Europa-Poltik- Bilanz zeigt z. B. Schweizer die .Abschottung, die Finanzkrise die Ökonomischen Fehlentscheidungen in Grienchenland (Troika,zeigen das "Europa" keine guten "Noten" erhalten wird.Visonen sind Mangelware,Macht und die jahrelange Ökonomische Ausrichtung in der neoliberalen Wirtschaftspoltik
sind kein Erfolgsmodell.Der "Staatenwettbewerb" schafft immer mehr soziale ungleichgewichte, fördert damit den Nationalismus und beschädigt die Zukunftsfähigkeit Europas
in einem hohe Maße,Die Europawahl 2014 wird eine
entscheidende Weichenstellung der Zukunft für Europa nach sich ziehen.