Die Krise in Europa hat die industrielle Wettbewerbsfähigkeit wieder stärker ins politische Bewusstsein gerückt. Doch von der vielbeschworenen industriellen Renaissance ist bisher herzlich wenig zu sehen. Die EU-Kommission hat 2012 das vollkommen unrealistische Ziel formuliert, den Anteil des Verarbeitenden Gewerbes in Europa bis 2020 wieder von 16 auf 20 Prozent zu steigern. Tatsächlich ist er seither weiter gesunken. Für Länder mit einer breiten und kompetitiven industriellen Basis wie Deutschland, Österreich oder Tschechien spielt es im Prinzip keine große Rolle, wie hoch der Anteil der Industrie genau ist. Wenn andere Sektoren, etwa die Gesundheitswirtschaft oder IT-Dienstleistungen, ein höheres Wachstumspotenzial haben, ist es nur positiv, wenn dort neue Jobs entstehen. Zugleich ist die Industrie in diesen Ländern gut in globale Wertschöpfungsketten eingebunden und ihre Produkte sind auf den Weltmärkten gefragt, so dass die industrielle Basis nicht gefährdet ist.

Ein langfristig erfolgreiches Wachstumsmodell ohne einen starken industriellen Kern ist für große Volkswirtschaften schlicht illusorisch.

Anders sieht es aber in den Euro-Krisenländern aus, wo die zurückgehende Bedeutung der Industrie zunehmend zu einer Bürde für den in den nächsten Jahren dringend nötigen Aufholprozess wird. Ein langfristig erfolgreiches Wachstumsmodell ohne einen starken industriellen Kern ist für große Volkswirtschaften schlicht illusorisch.

Der Begriff „Industrie“ hat einen eindrucksvollen Bedeutungswandel durchlebt. Früher assoziierte man damit eher schmutzige Schlote und einen hohen Bedarf an geringqualifizierten Fabrikarbeitern. Inzwischen sind einige industrielle Sub-Sektoren ein Synonym für technologisch hochwertige Produkte, deren Produktionsprozess durch einen hohen Automatisierungsgrad sowie einen überdurchschnittlichen Beschäftigungsanteil von Akademikern gekennzeichnet ist. Ein Schrumpfen der industriellen Basis in der Euro-Peripherie gefährdet daher nicht nur Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich, sondern auch gut bezahlte Jobs in der Industrie und in industrienahen Dienstleistungen. Damit steht letztlich auch die wirtschaftliche Konvergenz in der EU auf dem Spiel, denn allein mit einer Kombination aus Tourismus, Bauwirtschaft und europäischen Strukturgeldern wird sie sich nie erreichen lassen.

 

Schwache Industrie in Südeuropa ist Kern des Problems

Wer die aktuellen Probleme allein auf die Euro-Krise schiebt und glaubt, mit besserer Konjunktur und weniger „Austerität“ werde alles schnell wieder gut, verkennt die Ursachen. Es ist kein Zufall, dass manche Länder stärker von der Krise getroffen wurden und schwerer wieder herauskommen als andere. Die verschlechterte industrielle Wettbewerbsfähigkeit ist ein wesentlicher Grund, weshalb Griechenland, Portugal und Spanien um Jahre zurückgeworfen wurden und in Italien noch immer keine spürbare Erholung absehbar ist. Andernfalls wäre es möglich gewesen, den heimischen Nachfragerückgang besser durch Exporte in stärker wachsende Regionen zu kompensieren. Schließlich sind Industrieerzeugnisse viel leichter handelbar als die meisten Arten von Dienstleistungen. Dafür muss ein Land aber nicht nur den richtigen Produktmix und eine Reputation für gute Qualität haben, sondern zugleich auch auf der Kostenseite wettbewerbsfähig sein.

Es ist kein Zufall, dass manche Länder stärker von der Krise getroffen wurden und schwerer wieder herauskommen als andere.

Gemessen an der schwachen Produktivitätsentwicklung sind die Löhne in der Euro-Peripherie vor der Krise zu stark gestiegen, aber das ist nur ein Teil des Problems. Zugleich haben sich diese Länder in vielen Bereichen nicht ausreichend verbessert, um mit klassischen Hochlohnländern konkurrieren zu können. Dass Firmen höhere Kosten zu einem gewissen Grad verschmerzen können, wenn sie im Gegenzug qualifizierte Arbeitskräfte, eine gute Infrastruktur und eine einigermaßen effiziente und unbürokratische öffentliche Verwaltung bekommen, zeigen etwa Deutschland, Skandinavien und die USA. Auffällig ist aber, dass Italien und Griechenland beim Doing Business-Ranking der Weltbank oder dem Wettbewerbsranking des Weltwirtschaftsforums seit Beginn der Erhebungen vor einer Dekade konsequent die schlechtesten westeuropäischen Länder waren und die Probleme trotzdem politisch weitgehend ignoriert wurden. Wie soll es da verwundern, dass selbst gut geführte Firmen dort mit ihren ausländischen Konkurrenten nicht mehr mithalten konnten?

 

Effizienz und Transparenz als Schlüssel zum Erfolg?

Wenn sich Europa nicht an Niedriglohnländern orientieren will, kann es nicht sein, dass manche Schwellenländer außerhalb der EU eine effizientere Verwaltung, mehr Rechtssicherheit und weniger Korruption aufweisen. Eine bessere Überprüfung der Funktionsweise staatlicher Institutionen, die systematischere Anwendung von „Best Practice“ in der öffentlichen Verwaltung oder Unterstützung bei der Implementierung von effizienteren Verwaltungsprozessen wären Betätigungsfelder, in denen sich die EU-Kommission wertvolle Verdienste erwerben könnte und wo sie noch kaum in Erscheinung tritt. Makroökonomische Ungleichgewichte zu beobachten ist sinnvoll, aber oft sind sie Symptome tiefer liegender Ursachen. Eine effizientere Steuerverwaltung, ein kostengünstigeres öffentlicheres Beschaffungswesen, weniger Korruption und Schwarzmarktaktivitäten und eine bessere interne Kontrolle staatlicher Ausgaben tragen schließlich ebenfalls dazu bei, die Staatsverschuldung und das Budgetdefizit zu reduzieren – und zwar jedes Jahr und nicht nur dann, wenn die Konjunktur gerade gut läuft. Hier wären mehr Einflussmöglichkeiten für die EU-Kommission wünschenswert. Davon würden übrigens nicht nur Peripherie-Länder profitieren – auch Deutschland ist in einigen Bereichen der öffentlichen Verwaltung weit von der Benchmark der besten Länder entfernt.

Im Prinzip sollte sich ein Land natürlich auf seine Stärken konzentrieren, aber eine exklusive Spezialisierung auf Dienstleistungen kann nur in Ausnahmefällen bei kleinen Ländern wie Luxemburg funktionieren. Wenn die EU mehr in Forschung und Entwicklung investieren will, um ihren technologischen Vorsprung gegenüber asiatischen Schwellenländern (und in manchen Sektoren auch gegenüber den USA) aufrecht zu erhalten, kann dies nicht allein über höhere staatliche Ausgaben erreicht werden. In erfolgreichen Industrieländern stammen 65 bis 75 Prozent der gesamten Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) aus der Privatwirtschaft, und davon wiederum der überwältigende Teil aus der Industrie. Dagegen liegt der private F&E-Anteil in Portugal bei weniger als der Hälfte und in Griechenland sogar nur bei knapp einem Drittel. Durch die schwache Basis an Mittel- bis Hochtechnologiebetrieben mangelt es auch an Drittmitteln und Kooperationsmöglichkeiten für Universitäten und schlussendlich an Jobs für Absolventen in Ingenieurwissenschaften, Biochemie und Medizintechnologie.

 

EU-Südländer stehen vor Herkulesaufgabe

Wenn höherwertige Prozesse in manchen Ländern kaum mehr stattfinden, kann es auch keine Konvergenz der Einkommen geben. Entscheidend wird für die südliche Euro-Peripherie also sein, ob sie für ausländische Unternehmen so attraktiv wird, dass diese nicht nur Produktionskapazitäten sondern auch höherwertige Prozesse dorthin verlagern. Neben Investitionen in Humankapital ist ein wichtiges Element auch eine Lohnentwicklung, die sich besser an der Produktivität orientiert. Mit Lohndumping hat das wenig zu tun, denn das Einkommen in der Industrie ist im Durchschnitt höher als in Dienstleistungsberufen. Entscheidend für die langfristige und nachhaltige Konvergenz der Lebensverhältnisse in der EU ist nicht allein die Entwicklung der Einkommen, sondern auch eine niedrige Arbeitslosenquote. In dieser Hinsicht erscheint die erfolgreiche Einkommenskonvergenz von Ländern wie Polen und der Tschechischen Republik nachhaltiger als das südeuropäische Wachstumsmodell der 2000er Jahre.

Griechenland und Portugal haben teils aus eigener Einsicht, teils auf Druck von außen, Schritte in die richtige Richtung gemacht. Die eindrucksvolle Verbesserung der spanischen Exporte deutet auf einen wettbewerbsfähigen Industriekern hin, und dank vielfältiger Reformen hat Spanien durchaus das Potenzial, seinen trägeren Nachbarn Frankreich und Italien in den nächsten Jahren den Rang als attraktivstes Industrieland in Südeuropa den Rang abzulaufen. Eines ist aber auch klar: Wirtschaftsstrukturen ändern sich nur sehr langsam und es wird eine Mammutaufgabe für die Euro-Peripherie, die Bedingungen für heimische und ausländische Unternehmen zu verbessern. Gelingt das nicht, ist die Vision von stetig konvergierenden Einkommen in der EU und einem Europa mit annähernd gleichen Lebensstandards nichts weiter als eine schöne Illusion.

Der Artikel basiert auf der Studie „Re-Industrialisierung Europas: Anspruch und Wirklichkeit“ von DB Research.