Dass Bosnien und Herzegowina nach jahrzehntelangen Hemmnissen und Unwägbarkeiten den Status eines Beitrittskandidaten zur Europäischen Union erhalten hat, ist ohne Zweifel ein wichtiger Erfolg für das Land und für die EU. Die Prüfung der nächsten Schritte auf dem Weg zur EU-Vollmitgliedschaft von Bosnien und Herzegowina wäre jedoch unvollständig, wenn man nicht den größeren Kontext in den Blick nähme – insbesondere das Verhältnis des Landes zu seinen Nachbarn.

Wenn dieser Teil Europas bereit ist, seine komparativen geopolitischen, geoökonomischen und geokulturellen Vorteile klug zu nutzen, dann könnte er zu einem Mittler werden, der Europa und Asien, Mitteleuropa und den Mittelmeerraum, die Adria und den Schwarzmeerraum tatsächlich miteinander verbindet. Um eine solche konstruktive Rolle übernehmen zu können, muss man zum einen in die Zukunft blicken und zum anderen die Lehren aus der jüngsten Vergangenheit ziehen. Dies setzt unter anderem einen neuen Kurs voraus, der auf Werten wie Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, gegenseitigem Respekt und Toleranz beruht.

Bosnien und Herzegowina hat zu lange auf den Status eines Beitrittskandidaten gewartet.

Vor dem Hintergrund, dass die zuständigen Institutionen sich sehr entschlossen zeigen, ein breiter politischer Konsens besteht und die Öffentlichkeit die Integration in die EU ganz offensichtlich unterstützt, zeigt sich eines ganz deutlich: Bosnien und Herzegowina hat zu lange auf den EU-Beitrittskandidatenstatus gewartet.

Der EU-Westbalkan-Gipfel 2003 in Thessaloniki verlief sehr vielversprechend für die Region und auch für Bosnien und Herzegowina. Mit der Verabschiedung der „Agenda von Thessaloniki für die westlichen Balkanstaaten: Auf dem Weg zur europäischen Integration“ durch den Europäischen Rat bekräftigte die EU eindeutig ihre Unterstützung für das Ziel, dass die Zukunft der westlichen Balkanstaaten in Europa liegt. Interessanterweise stand Bosnien und Herzegowina, das damals den Status eines potenziellen Kandidaten hatte, 2003 gleichauf mit der Republik Kroatien. Wegen zahlreicher interner und externer Faktoren, die den Reformprozess blockierten, unterzeichnete Bosnien und Herzegowina dennoch erst 2008 das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen und beantragte erst 2016 offiziell die EU-Mitgliedschaft – Kroatien hingegen ist schon seit 2013 EU-Mitglied.

Die Hauptverantwortlichen für die aktuellen Hürden und Blockaden auf dem Weg Bosnien und Herzegowinas nach Europa und in den euro-atlantischen Raum sind die „Anti-Europäer“ im eigenen Land. Sie begegnen der potenziellen EU-Mitgliedschaft mit Geringschätzung, weil sie sich darüber im Klaren sind, dass die kommenden Zivilisationsprozesse sie dazu zwingen werden, die Normen und Standards der EU-Gesetzgebung zu respektieren. Sie wissen, dass sie anderen Kräften auf der politischen Bühne eine Chance einräumen müssten.

Wichtig ist außerdem, dass die EU in Bezug auf Bosnien und Herzegowina keine weiteren Fehler macht. Dass in den letzten zehn Jahren destruktive Politikerinnen und Politiker, die das Friedensabkommen von Dayton und die Verfassung von Bosnien und Herzegowina offen infrage stellten, von der Politik mit Nachsicht behandelt wurden, gehörte zu den größten Fehlern der EU – wie auch ihr Zögern und die mangelnde Bereitschaft, radikale Politiker zu sanktionieren, die den Frieden in Bosnien und Herzegowina und überhaupt in der Region gefährdet haben.

Hätte die EU in den letzten zehn Jahren entschlossener gehandelt, wären Bosnien und Herzegowina viele Krisen erspart geblieben.

Hätte die EU in den letzten zehn Jahren entschlossener gehandelt, wären Bosnien und Herzegowina viele Krisen erspart geblieben. Zögern, Zaudern und Unentschlossenheit haben die separatistischen und prorussischen Kräfte nur ermutigt, die europäischen Grundwerte offen zu untergraben. Die EU sollte sich unserem Land gegenüber nie wieder schwach und unentschlossen verhalten. Die Umwandlung von Bosnien und Herzegowina in einen stabilen, friedlichen und zuverlässigen Staat hängt eng mit einem stärkeren Engagement der EU zusammen.

Gerade wegen des Stillstands kommt dem Beitrittskandidatenstatus besondere Bedeutung zu, denn er macht wieder Hoffnung, dass Bosnien und Herzegowina sich allen Hindernissen zum Trotz endlich und unwiderruflich auf den vor zwei Jahrzehnten vorgezeichneten europäischen Weg begeben wird.

Seit dem 24. Februar 2022 bleiben der EU und Bosnien und Herzegowina kaum noch eine Wahl und erst recht keine Zeit.

Nachdem die geopolitischen Verhältnisse sich seit dem 24. Februar 2022 komplett verändert haben, bleiben der EU und Bosnien und Herzegowina kaum noch eine Wahl und erst recht keine Zeit. Es ist offensichtlich, dass geopolitische und sicherheitspolitische Aspekte sowie eine deutlich veränderte Sicherheitsarchitektur in Europa die Haltung der EU zur Intensivierung des Integrationsprozesses signifikant beeinflusst haben. Die Entscheidung, Bosnien und Herzegowina den Status eines Beitrittskandidaten zu gewähren, ist ein Schritt nach vorn. Bosnien und Herzegowina und seine Institutionen schultern damit aber auch eine große Verantwortung und stehen vor vielen Herausforderungen.

Wir sollten nicht aus dem Blick verlieren, dass der Kandidatenstatus zahlreiche Vorteile für das Land mit sich bringen dürfte. Vor allem sollten wir bedenken, dass jede externe Einbindung auch innenpolitisch ein Fortschritt und ein Ansporn ist, den europäischen Weg weiterzuverfolgen – ein Signal, dass Bosnien und Herzegowina über das nötige politische Potenzial verfügt und sich auf eine europäische Zukunft zubewegen kann.

Außerdem würde das Land mit dieser Entscheidung rechtlich und formal einen Schritt näher an eine EU-Mitgliedschaft heranrücken. Der Beitrittskandidatenstatus schafft eine neue Ausgangsposition und eröffnet zusätzliche Möglichkeiten, bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich, die gemeinsam bewältigt werden müssen. Wenn sie erfolgreich gemeistert werden, wird Bosnien und Herzegowina sich in die Familie der voll entwickelten europäischen Staaten einreihen können.

Neben den politischen Vorteilen, die sich aus dem Beitrittskandidatenstatus ergeben, eröffnen sich für den Staat und seine Bürger auch zusätzliche finanzielle Möglichkeiten. Obwohl der Zufluss neuer Mittel für das Kandidatenland nicht garantiert ist, kommen zahlreiche Vorteile zum Tragen – allen voran das Instrument für Heranführungshilfe (Instrument for Pre-Accession Assistance, IPA), aber auch andere Maßnahmen zur Unterstützung einer breiten Palette von Reformen im jeweiligen Kandidatenland. Inwieweit die europäischen Fonds tatsächlich aufgestockt werden, hängt einzig und allein davon ab, was die bosnisch-herzegowinischen Institutionen zu leisten imstande sind – wie optimal sie erstens den Kandidatenstatus zu nutzen verstehen und wie schnell sie zweitens Reformen umsetzen können.

Diese beiden Prozesse hängen unmittelbar miteinander zusammen: Je mehr Reformen durchgeführt werden, desto effizienter sind die Institutionen. Dadurch eröffnen sich automatisch mehr Möglichkeiten für die Inanspruchnahme von EU-Fördermitteln und für ausländische Direktinvestitionen. So würde ein stabileres politisches und sicherheitspolitisches Umfeld entstehen, das für Wirtschaftsinvestitionen attraktiver wäre.

Bosnien und Herzegowina befindet sich am Scheideweg.

Die genannten Argumente zeigen deutlich, wie wichtig der Kandidatenstatus für Bosnien und Herzegowina ist. Optimismus ist jedoch nur dann angebracht, wenn dieser Status als eine ernsthafte Verpflichtung wahrgenommen wird. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir wissen, was uns erwartet, und dass klare Prioritäten und Fristen gesetzt werden. Die Zielvorgaben der Europäischen Kommission zu erfüllen, ist und bleibt unerlässlich. Die Reformen, die in dem besagten Dokument gefordert werden, sind die wichtigste Voraussetzung, um die Rahmenbedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu schaffen.

Im nächsten Schritt müssen Bosnien und Herzegowina Verhandlungen mit der EU aufnehmen. Es ist jetzt an der Zeit, einen Starttermin für die Verhandlungen festzulegen. Das wäre ein direktes Signal für echte Fortschritte auf dem Weg zur Mitgliedschaft und ein greifbarer Erfolg Bosnien und Herzegowinas in Sachen europäische Integration. Vor diesem Hintergrund liegt auf der Hand, dass die größte Verantwortung bei den bosnisch-herzegowinischen Institutionen liegt, die zwar gemäß den EU-Vorschriften agieren werden, aber zwangsläufig auch dem Einfluss der politischen Parteien ausgesetzt sind. Um die vereinbarten Verpflichtungen erfüllen zu können, müssen deshalb alle Akteure bei der Integration in die EU an einem Strang ziehen, statt sich von engstirnigen parteipolitischen Interessen leiten zu lassen. Dies würde allerdings bedeuten, das gesamte Betriebssystem grundlegend zu ändern, das künftig viel schneller und effizienter sein muss.

Zu einem verantwortungsvollen Umgang mit diesen Verpflichtungen gehört die Durchführung von Reformen. In der Praxis bedeutet dies, dass die erforderlichen Maßnahmen ergriffen und umgesetzt werden müssen. Dafür müssen insbesondere die politischen Hindernisse beseitigt werden, damit effizienteres Agieren ermöglicht und eine zentrale Institution etabliert werden kann, die als „einzig wahre Stimme“ von Bosnien und Herzegowina diesen Entwicklungsprozess gestaltet. Es werden neue Ministerien gebraucht, die wichtige politische Strategien der EU etwa in den Bereichen Landwirtschaft, Gesundheit, Bildung und europäische Integration umsetzen. Ferner sollte Bosnien und Herzegowina eine nationale Strategie festlegen und ein Integrationsprogramm aufstellen und – wenn der politische Wille dazu vorhanden ist – auf verantwortungsvolle Weise Reformprozesse und die Übernahme des europäischen Besitzstandes in die Wege leiten.

Die schnellen Fortschritte Bosnien und Herzegowinas auf dem Weg zur EU-Vollmitgliedschaft führen nicht nur zu einer stärkeren wirtschaftlichen Anbindung, sondern lassen auch eine neue Form von Solidarität entstehen auf der Grundlage der gemeinsamen Werte und Überzeugungen, die das Fundament der europäischen Identität bilden. Bosnien und Herzegowina befindet sich am Scheideweg und steht vor der Wahl, entweder in eine gefährliche Isolation abgedrängt zu werden oder aber das verhängnisvolle ethnokratische Staatsschema zu überwinden und die Voraussetzungen für eine stärkere Integration in die europäische Gemeinschaft zu schaffen.

Die EU ist unsere Bestimmung. Demokratie und Lebensstandard der Menschen in unserem Land werden in einem hohen Maß davon abhängen, wie schnell und wie erfolgreich unser Wunsch, in die Europäische Union einzutreten, umgesetzt wird. Es ist an der Zeit, unsere Lehren zu ziehen, Fehler zu korrigieren und entschlossen unsere Ziele zu verfolgen. Auf in die EU! Auf in die NATO!

Aus dem Englischen von Christine Hardung