Als Emmanuel Macron am 9. Mai 2022 in Straßburg die Gründung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) anregte, reagierte er damit auf die geopolitischen Herausforderungen, die der Großangriff der Russischen Föderation auf die Ukraine für Europa mit sich bringt. Seit die EPG am 6. Oktober 2022 in Prag aus der Taufe gehoben wurde, entfaltet sie in Europas Hauptstädten eine zunehmende Dynamik. Ein zweites Gipfeltreffen soll am 1. Juni in der Nähe von Chișinău in der Republik Moldau stattfinden. Dass die Initiative vorangetrieben werden soll, ist inzwischen Konsens. Doch welches Profil soll sie bekommen? Welche strategischen Ziele soll sie verfolgen, und wie wird sich ihre konkrete Arbeit gestalten? Hier gibt es noch viel zu tun.

Für die meisten Länder Europas kam Frankreichs Vorschlag zur Gründung der EPG überraschend. Von den osteuropäischen Staaten, die Frankreichs Beziehungen zu Russland ebenso mit Argwohn betrachten wie seine zögerliche Haltung in der Frage der EU-Erweiterung, wurde sie zunächst kritisch beäugt; Deutschland, das kaum konsultiert worden war, enthielt sich jeden Kommentars, und einige Länder vermuteten hinter dem Vorstoß den Versuch eines weiteren Störmanövers gegen die EU-Beitrittspolitik.

Der großflächige Krieg in der Ukraine und die neue geopolitische Sachlage, die er geschaffen hat, machten beherztere Schritte erforderlich, um die europäische Familie und ihre gleichgesinnten Mitglieder zusammenzuführen. Dass der Europäische Rat im Juni 2022 unter französischer Präsidentschaft der Ukraine und der Republik Moldau den Kandidatenstatus gewährte, half, die Befürchtungen zu zerstreuen, mit der EPG werde das Ende der EU-Erweiterung eingeläutet. Auch durch die Einbindung Großbritanniens machte die EPG deutlich, dass es ihr um etwas anderes geht als um Beitrittspolitik. Das alles trug dazu bei, dass die EPG mit ihrem Ziel, Europa politisch neu zu organisieren und dabei über den Tellerrand der EU hinauszuschauen, allmählich mehr Zugkraft entwickelte.

Das dringende Verlangen nach Sicherheit war der entscheidende Grund, warum die EPG über die Grenzen einer Wertegemeinschaft hinaus ausgeweitet wurde.

Am ersten Treffen der EPG, das am 6. Oktober 2022 in Prag stattfand, nahmen 44 Länder teil. Das dringende Verlangen nach Sicherheit war der entscheidende Grund, warum die EPG über die Grenzen einer Wertegemeinschaft hinaus ausgeweitet wurde und auch autoritär regierte Länder wie Aserbaidschan und die Türkei mit ins Boot geholt wurden.

Der Prager Gipfel sendete ein starkes Signal geopolitischer Einigkeit aus und legte den Grundstein für eine EPG, die sich als zwischenstaatliches und themenoffenes Forum versteht und sich vom Grundsatz der souveränen Gleichheit leiten lässt. Bei dem Gipfel konnten Vertreterinnen und Vertreter aus EU- und Nicht-EU-Staaten sich auf Augenhöhe über eine Reihe von Fragen austauschen und informelle Gespräche führen – unter Einbindung von Armenien und Aserbaidschan, Serbien und dem Kosovo. Vor allem dieses Prinzip des informellen Austauschs und der Gleichberechtigung machte den Mehrwert des Gipfels aus, bei dem zum Abschluss eine Liste mit sieben Herausforderungen formuliert wurde: Energiesicherheit, kritische Infrastrukturen, Cybersecurity, Jugend, Migration, regionale Zusammenarbeit im Kaukasus und in der Schwarzmeerregion sowie Finanzierungsoptionen für die Resilienzbildung.

Am zweiten EPG-Gipfel werden Staats- und Regierungschefs aus 47 Staaten und die Spitzen der EU-Institutionen teilnehmen. Logistisch ist die größte und hochkarätigste Veranstaltung, die je in der Republik Moldau stattfand, eine große Herausforderung, die das Land jedoch mit Begeisterung annimmt. Für die Republik Moldau, die sich mit Blick auf die „Agenda 2030“ ein ehrgeiziges Reformprogramm vorgenommen hat und den EU-Beitritt anstrebt, ist dieser Gipfel eine Gelegenheit, ihre Rolle als seriöser Partner zu festigen und sich in die europäischen Debatten einzubringen.

Die EPG-Gipfeltreffen sollen zweimal jährlich stattfinden, abwechselnd in dem Land, das zum betreffenden Zeitpunkt die – halbjährlich rotierende – EU-Ratspräsidentschaft innehat, und in einem Staat, der nicht EU-Mitglied ist. Der Gipfel in Chișinău bietet der EPG durch die unmittelbare Nachbarschaft zum Kriegsschauplatz Ukraine eine gute Gelegenheit, ein Zeichen der Solidarität zu setzen und zu demonstrieren, dass sie sich bereitwillig auch dort engagiert, wo Gegensätze am heftigsten aufeinanderprallen.

Eine formelle Rolle ist der EU im Rahmen des Forums nicht zugedacht.

Bei den hochrangigen Gesprächen, die in vier Themenkreise gegliedert werden, geht es vor allem um Sicherheit (zum Beispiel um die Abwehr von hybriden Bedrohungen und Desinformation), um Energie (unter anderem um Investitionen in Energieinfrastruktur und die Förderung umweltfreundlicher Investitionen), um Vernetzung (zum Beispiel um intensivere Verflechtung in den Bereichen Digitalisierung, Verkehr und Wirtschaft) und um Migration (intern und extern). Daneben bietet das Treffen Raum für informelle Gespräche in minilateralen Formaten und macht damit deutlich, dass die EPG bilaterale Streitfragen auf dem Schirm hat.

Um wirklich durchzustarten und ihren Mehrwert unter Beweis zu stellen, muss die EPG sich mit etlichen strukturellen Veränderungen auseinandersetzen und in der komplexen Konstellation, die sich durch die nationalen Interessen der 47 teilnehmenden Staaten ergibt, den richtigen Mittelweg finden. Das wird keine leichte Übung.

Der Hauptzweck der EPG ist nach wie vor vage, weil ihr Anspruch, Europa eine politische Struktur zu geben, zum Teil auf inkongruenten Fundamenten aufbaut. Einerseits erscheint die EPG als Versuch, die Nachbarn der EU nach allerlei unguten geopolitischen Entwicklungen – wie dem Brexit, dem Auseinanderdriften der Östlichen Partnerschaft und den stockenden Beitrittsverfahren der Westbalkanstaaten – wieder zusammenzubringen. Eine formelle Rolle ist der EU im Rahmen des Forums nicht zugedacht, aber in der Agenda und Kommunikationsarbeit der EPG ist sie auf Schritt und Tritt präsent.

Das gilt besonders für die Vernetzungsbemühungen der EPG, denn Vernetzung ist seit Jahren ein Schlüsselbegriff des Berliner Prozesses in den westlichen Balkanstaaten und besitzt für die EU eine hohe Priorität bei der Gestaltung ihrer Nachbarschaftsbeziehungen. Die EPG könnte man als – geografische und thematische – Ausweitung dieser Agenda betrachten.

Minsk und Moskau wurden von vornherein ausgeschlossen.

Andererseits sind führende Politiker Europas dafür, die EPG stärker geopolitisch auszurichten und zu einer Allianz gegen Russland aufzubauen. Nach ihren Vorstellungen soll die EPG Europas Geschlossenheit demonstrieren und den Einfluss Russlands und seiner Satellitenstaaten in Europa zurückdrängen. Minsk und Moskau wurden von vornherein ausgeschlossen, und die symbolische Dimension der Gipfel von Prag und Chișinău legt den Akzent deutlich auf die Solidarität mit der Ukraine. Doch da die EPG nicht einfach nur ein antirussischer Zusammenschluss ist, gehören zu ihren Mitgliedstaaten auch Länder wie Serbien, die ihre Bindungen zu Moskau nicht gekappt haben.

In ihrem bisherigen Format verfolgt die EPG diese beiden Stoßrichtungen: Sie soll den Beziehungen zwischen der EU und ihren Nachbarn eine Struktur geben und die europäische Familie gegen Russland mobilisieren. Diese Ziele richtig zu formulieren und auszubalancieren, wird für die EPG nicht leicht. Ein Stolperstein, den es aus dem Weg zu räumen gilt, ist zum Beispiel die Frage, ob und wie stark die EPG institutionalisiert werden sollte – ob sie also ein Sekretariat, eigene finanzielle Mittel und ein gewisses Maß an funktioneller Eigenständigkeit bekommen soll.

Mehr und mehr teilnehmende Staaten sprechen sich für eine maßvolle Institutionalisierung aus und wollen die EPG mit der Rolle, den Möglichkeiten und Ressourcen der EU verzahnen. Dies wäre wichtig, damit die Arbeit der EPG Kontinuität bekommt und die Realisierung von Vorhaben möglich wird, die große Investitionen erfordern. Andere teilnehmende Staaten wie Großbritannien, Frankreich und die Schweiz widersetzen sich diesem Institutionalisierungsdrang und sehen den besonderen Wert der Initiative gerade darin, dass sie flexibel, informell und dem Gleichberechtigungsgrundsatz verpflichtet ist.

Beim Thema Sicherheit muss es der EPG vorrangig darum gehen, die Resilienz in den Bereichen Cyber- und Informationssicherheit und Strategische Kommunikation zu stärken, um den Schutz vor böswilligen Einflüssen zu verbessern. Sie könnte zur Plattform werden, auf der Staaten, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind, ihre Ressourcen bündeln und Wissen austauschen können. Die Republik Moldau, die Ukraine und andere Staaten könnten zum Beispiel ausloten, wie sie den russischen Informationskrieg mit gemeinschaftlichen Projekten bekämpfen können.

Die EPG könnte auch zur Modernisierung und zum Ausbau der gesamteuropäischen Transportwege und zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Infrastrukturen beitragen.

Beim Thema Energiesicherheit eröffnet das Format der EPG die Möglichkeit, Fortschritte in bestimmten Bereichen stärker unter strategischen Aspekten zu beurteilen – so zum Beispiel bei der gemeinsamen Erdgasbeschaffung und bei der Versorgung mit kritischen Rohstoffen, bei der Diversifizierung des europäischen Energiemixes und seiner Abkopplung vom russischen Gas, bei der stärkeren Vernetzung der europäischen Infrastrukturen und wichtigen Versorgungsketten sowie beim Vorantreiben des ökologischen Wandels in Europa. Hierfür wird die EPG flexible Zugangsmöglichkeiten zu den Mitteln und zur Expertise der EU brauchen und sich nach zusätzlichen Finanzierungsquellen umsehen müssen.

Die EPG könnte auch zur Modernisierung und zum Ausbau der gesamteuropäischen Transportwege und zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Infrastrukturen beitragen. Das ist besonders in Osteuropa wichtig, das seine Wirtschaftsbeziehungen wieder stärker auf den Westen ausrichtet, könnte aber auch der Nord-Süd-Integration zugutekommen. Um eine Verbesserung auf zwischenmenschlicher Ebene geht es bei der schrittweisen Senkung der Roaming-Gebühren für die Republik Moldau, die die EPG auf die Tagesordnung gesetzt hat. In dieser Frage wird beim Gipfel in Chișinău möglicherweise eine Entscheidung fallen. Sollte die Republik Moldau eine solche Roaming-Vereinbarung erreichen, könnte als nächstes Land die Ukraine folgen.

Wenn die EPG sich in den Bereichen Sicherheit, Energie und Vernetzung verstärkt strategisch engagiert, wird sie wohl ein gewisses Maß an Institutionalisierung brauchen, und die EU wird sich stärker einbringen müssen. Um ihren Mehrwert zu bewahren, muss die EPG ihre flexiblen informellen Formate beibehalten, in denen die Akteure sensible Themen auf Augenhöhe besprechen und teilnehmende Staaten sich zusammentun und innovativ tätig werden können, indem sie die EPG zum Beispiel als innovationspolitisches Experimentierfeld nutzen, um die europaweite Mobilität im Sekundarschulbereich voranzubringen und bei Schülerinnen und Schülern das europäische Wir-Gefühl zu stärken. Mit einer entsprechenden Leitinitiative für die Vernetzung von Schulen und Lernenden würde die EPG einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der europäischen Identität leisten.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld