Mit der europäischen Integration verhält es sich bekanntlich wie mit einem Fahrrad: Wenn es nicht mehr vorwärtsfährt, dann fällt es um. Das soll einmal der frühere Präsident der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Walter Hallstein, gesagt haben. Seit den Römischen Verträgen hat unser Drahtesel schon viele unterschiedliche Gangarten erlebt, mal ging es schneller und mal langsamer voran bei der europäischen Einigung. 

Heutzutage rollt das europäische Fahrrad erneut auf Hochtouren, selbstverständlich zeitgemäß in der E-Bike-Version, mit starkem deutsch-französischem Motor und 27 gut geschmierten Gängen. Die zahlreichen Krisen und nicht zuletzt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine haben der europäischen Integration einen enormen Schub versetzt. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich endlich darauf geeinigt, die Umwelt nachhaltig zu schützen, Migranten menschenwürdig und gerecht auf alle Mitgliedsländer zu verteilen sowie die Entscheidungsverfahren auf europäischer Ebene zu verbessern und nationale Vetorechte abzuschaffen. Europäische Werte und Rechtsstaatlichkeit werden wieder von allen eingehalten und respektiert. Und in wenigen Jahren werden sowohl die Balkanstaaten als auch Moldau und die Ukraine der Europäischen Union beitreten. 

Wunschdenken? Leider ja. Dass dem nicht so ist, liegt auf der Hand. Dabei waren die Hoffnungen groß, dass die Herausforderungen und Probleme, mit denen die EU konfrontiert ist – die gewaltigsten seit über einem Jahrzehnt –, dazu führen würden, gemeinsam zukunftsweisende Lösungen zu finden und die europäische Integration weiter zu vertiefen. Weil die globalen Herausforderungen nicht allein auf nationaler Ebene, sondern mindestens auf europäischer Ebene bewältigt werden müssen. Krise als Chance. Stattdessen wurstelt sich Brüssel immer wieder gerade so durch und muss auf eine schwierige Lage nach der anderen reagieren. 

Es ist fraglich, wann und ob es überhaupt jemals wieder zu einer umfassenden Vertragsreform kommen wird.

Ad-hoc-Lösungen und eine kreative Auslegung der EU-Verträge haben bislang dazu geführt, dass das europäische Fahrrad noch rollt, wenn auch sehr holprig. Eigentlich gehört es dringend in die Werkstatt und generalüberholt. Vor 20 Jahren gab es dazu einen letzten großen Versuch mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa. Der Europäische Konvent (eine Konferenz aus Vertretern der EU-Institutionen und Mitgliedstaaten, die für grundlegende Änderungen der EU-Verträge eingesetzt wird) tagte damals mehr als ein Jahr und übergab im Juli 2003 einen im Konsens angenommenen Entwurf für eine europäische Verfassung. Keine zwei Jahre später war dieser Makulatur, abgelehnt bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden, auch wenn viele seiner Bestandteile in den Vertrag von Lissabon übernommen wurden. Dieser trat am 1. Dezember 2009 in Kraft und stellt bis zum heutigen Tag die vertraglichen Grundlagen der europäischen Zusammenarbeit und Integration dar. Seitdem hat es keine umfassende Vertragsreform mehr gegeben und es ist fraglich, wann und ob es überhaupt jemals wieder dazu kommen wird.

Paradoxerweise ist der vertragliche Stillstand dem Erfolg der EU anzukreiden, die seit 2004 dreizehn neue Mitglieder aufgenommen hat. Ein neuer Konvent hätte heute Mitglieder aus 27 Staaten. Er könnte zwar mit einfacher Mehrheit des Europäischen Rats einberufen werden, vor allem in Mittelosteuropa und Nordeuropa ist der Widerstand gegen eine grundlegende Reform der Verträge aber weiterhin groß.

Das Europäische Parlament ist hingegen Feuer und Flamme für eine große Vertragsreform und fordert schon länger die Einberufung eines Konvents. Nach einigem Zögern hat auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dieses Vorhaben bekräftigt, wohlwissend, dass dies ohnehin nicht in ihrer Entscheidungsbefugnis liegt. Doch wenn es auch in Brüssel viele Befürworter einer Vertragsrevision gibt, so ändert das nichts an der Tatsache, dass die Mitgliedstaaten bei allen Verhandlungen am längeren Hebel sitzen, weil die Konventsbeschlüsse am Ende auch in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssen. Ein einziges Veto reicht dabei aus, um alles zunichtezumachen.

Das Einstimmigkeitsprinzip wird zunehmend missbraucht, um Entscheidungen in anderen Feldern zu Gunsten des betroffenen Mitgliedstaats zu beeinflussen.

Das Einstimmigkeitsprinzip ist nicht nur deshalb vielen Befürwortern einer vertieften Integration ein Dorn im Auge. Es wird zunehmend missbraucht, um Entscheidungen in anderen Feldern zu Gunsten des betroffenen Mitgliedstaats zu beeinflussen, wie man am Beispiel Ungarns gut sehen kann. Bedauerlicherweise führen auch alle Wege zur Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Rat zwangsläufig zurück zum Einstimmigkeitsprinzip. Nur einstimmig können in bestimmten Politikbereichen – mithilfe der sogenannten Passerelle-Klausel – Abstimmungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit ermöglicht werden.

Das Prinzip der Einstimmigkeit im Rat und die zahlreichen Veto-Optionen der nationalen Regierungen ist auch eine der größten Hürde für die Erweiterung der EU. Der Angriff Russlands hat in dieser Hinsicht zwar zu einem ordentlichen Ruck geführt, sodass nun Moldau und die Ukraine offizielle Beitrittskandidaten geworden sind, die Beitrittsgespräche mit Albanien und Nord-Mazedonien aufgenommen wurden und Georgien, Kosovo und Bosnien der EU einen kleinen Schritt nähergekommen sind. Dennoch lässt die Zeitenwende auch hier auf sich warten. Selbst wenn der Europäische Rat Ende des Jahres beschließen sollte, die offiziellen Gespräche mit Moldau und der Ukraine aufzunehmen, werden die Verhandlungen noch Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte dauern. Zum jetzigen Zeitpunkt sind weder die nun auf zehn Länder angewachsenen Beitrittsinteressenten bereit für die EU, noch ist die EU aktuell bereit für eine Vergrößerung. Dazu müssten erst die Entscheidungsverfahren und Institutionen reformiert werden. Doch zu heterogen sind derzeit die Interessen zwischen den Mitgliedstaaten, und das quer durch fast alle Politikbereiche.

Die EU steht vor einem massiven Glaubwürdigkeitsproblem.

Manche schlagen daher einen Deal vor: Die Erweiterungsbefürworter im Osten sperren sich nicht gegen eng begrenzte Vertragsreformen. Im Gegenzug beschleunigen die Erweiterungsskeptiker im Westen, allen voran der französische Präsident Emmanuel Macron, die Verfahren und erlauben eine graduelle Integration der Balkanstaaten in die EU und den gemeinsamen Binnenmarkt. Zur schrittweisen Integration ohne Vollmitgliedschaft kursieren derzeit viele verschiedene Modelle und Vorschläge, konkret politisch weiterverfolgt werden diese aber kaum. Dabei könnte ein Verzicht auf Veto-Rechte im Rat und gegebenenfalls auch auf einen vollwertigen EU-Kommissar dazu beitragen, das Dilemma zwischen einer Vertiefung und einer Erweiterung der Union etwas abzuschwächen. Die EU steht dabei auch vor einem massiven Glaubwürdigkeitsproblem. Obwohl den Balkanländern auf dem Gipfel in Thessaloniki bereits vor 20 Jahren eine Aufnahme in die EU in Aussicht gestellt wurde, ist mit Kroatien der letzte Staat 2013 beigetreten. 

Alle zehn Beitrittsinteressenten und die derzeit acht offiziellen Kandidaten sind sicherlich keine lupenreinen Demokratien und ihnen gemein sind schwerwiegende Defizite hinsichtlich demokratischer und rechtsstaatlicher Standards, bei der Bekämpfung von Korruption und dem Aufbau einer funktionierenden Justiz und Verwaltung. Die Kopenhagener Kriterien erfüllen sie noch nicht. Bedauerlicherweise gilt das aber auch für manche gegenwärtigen EU-Mitglieder. Seit Jahren versucht Brüssel insbesondere den Regierungen in Ungarn und Polen das Handwerk zu legen, immer neue EU-Rechtsstaatsinstrumente sind in den letzten Jahren hinzugekommen, bislang zeigen sich Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński davon aber wenig beeindruckt. Auch die Einbehaltung von EU-Fördermitteln hat sie nicht zum Einlenken bewogen. Viel zu lange hat man offenbar darauf gesetzt, dass die missliebigen Regierungen bei den nächsten Wahlen wieder abgewählt werden und sich die Probleme damit von selbst lösen würden. Im Falle Ungarns hat das offensichtlich nicht gefruchtet, und ob in Polen überhaupt noch faire und freie Wahlen möglich sind, wird sich bei den kommenden Parlamentswahlen im Herbst zeigen.

Dieses Dilemma trägt sicherlich dazu bei, dass potenzielle Neumitglieder mit Argusaugen betrachtet werden und die Aufnahmekriterien immer weiter verschärft oder zumindest härter ausgelegt werden als früher. Weitere „Rechtsstaatssünder“ und Veto-Spieler kann und darf sich die EU nicht leisten, so die Devise. Geopolitische Strategien auf der einen Seite und die institutionelle Funktionsfähigkeit der EU auf der anderen Seite behindern sich dabei gegenseitig und bremsen das europäische Fahrrad. 

Die anstehenden Europawahlen im Juni 2024 stellen für all die genannten Herausforderungen eine Weggabelung dar.

Die anstehenden Europawahlen im Juni 2024 stellen für all die genannten Herausforderungen eine Weggabelung dar. Transnationale Listen wird es zwar immer noch nicht geben; mit europäischen Spitzenkandidatinnen und einem paneuropäischen Wahlkampf sowie gemeinsamen Wahlprogrammen der politischen Familien könnte aber wenigstens die europäische Dimension dieser Wahlen stärker hervorgehoben werden. Um die nötigen Reformen endlich anzugehen und auch die Erweiterung der Union voranzutreiben, bedarf es einer starken proeuropäischen und progressiven Mehrheit im EU-Parlament sowie entscheidungsstarker Kommissionsmitglieder, die ein Gegengewicht zum – in vielen Teilen Europas vorherrschenden – EU-Skeptizismus bilden. Leider ist bei den Wahlen eher mit einem Rechts- als mit einem Linksrutsch zu rechnen. Hinzu kommt, dass Teile der Europäischen Konservativen, allen voran EVP-Präsident Manfred Weber, neue Bündnispartner am rechten Rand umgarnen, um damit eine linke Mehrheit im Europäischen Parlament künftig von vornherein auszuschließen. 

Damit das europäische Fahrrad aber endlich vom Fleck kommt und wieder Fahrt aufnehmen kann, bedarf es keines rückwärtsgewandten Blicks in die Vergangenheit eines Europas der Vaterländer, sondern eines mutigen Aufbruchs zu mehr europäischer Integration und einer größeren Union, welche die globalen Herausforderungen angeht und in die Zukunft weist. Hierzu sollten die proeuropäischen Kräfte in Brüssel und den Mitgliedstaaten konkrete Vorschläge erarbeiten, wie eine Vertiefung und eine gleichzeitige Erweiterung der EU vonstattengehen könnte. Beides muss zusammengedacht werden. Ein neuer Konvent sollte nur ein begrenztes Spektrum abdecken und sich um gezielte Reformen bemühen. Insbesondere müssen auch die Entscheidungsverfahren im Rat reformiert werden. 

Angesichts der zunehmenden politischen Heterogenität in der EU sind tragfähige Lösungen für die unterschiedlichen Integrationsvorstellungen gefragt, ohne dass dabei europäische Werte und das demokratische Prinzip der Rechtsstaatlichkeit weiter beschädigt werden. Gelingt dies in der nächsten Legislaturperiode nicht, dann muss unser europäisches Rad höchstwahrscheinlich neu konzipiert werden. Auf dem Plan stünde dann eine Neugründung der Europäischen Union und die Schaffung eines föderalen europäischen Bundesstaats mit allen interessierten und demokratisch regierten Ländern Europas.