Wenn sich der Staub, den das griechische Referendum aufgewirbelt hat, nun legt, wird der Blick wieder frei für die ökonomische Krise, in der sich die Eurozone nun schon seit fünf Jahren befindet. Die eine oder andere Fata Morgana einer scheinbar einfachen Lösung – Austerität als Erfolgskonzept oder Grexit – wird sich in Luft auflösen. Nach dem wahlkampfartigen Getöse der vergangenen Wochen kann der nun wieder ungetrübte Blick die verbliebenen politischen Handlungsoptionen erkennen, die richtig ausgewählt zur Überwindung der Kalamitäten führen können.

Dazu bedarf es zunächst der verbalen Abrüstung. Die Regierung von Alexis Tsipras hat unerfahren, unberechenbar und diplomatisch ungeschickt bis unverschämt gehandelt. Was seit ihrem Amtsantritt den staunenden Bürgerinnen und Bürgern Europas auf dem Brüsseler Parkett vorgeführt wurde, war immerhin nicht Standard, doch eine vernünftige neue Choreographie ließ sich leider auch nicht erkennen. Dass der Abschlussball abgebrochen werden musste, nachdem sich die Finanzminister der Eurozonenländer gegenseitig auf den Füßen herumgetrampelt sind, kann jedoch nicht allein Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis unkonventionellem Auftreten in die Schuhe geschoben werden. „It takes two to tango“ – taktstockschwingend am Rand stehend und mit unverhohlener Vorfreude auf ein halsbrecherisches Stolpern der griechischen Regierung zu hoffen, ergibt keinen Pas de deux.

 

Warum gibt der Klügere nicht nach?

Die Vehemenz der politischen und moralischen Verurteilung des in höchster Eskalationsstufe angekündigten Referendums in Griechenland über das von Gläubigerseite vorgelegte letzte Angebot zur Verlängerung des zweiten Kredit- und Sparauflagenprogramms ist mehr als erstaunlich. Hatte nicht vor wenigen Wochen der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble als primus inter pares der Euro-Finanzminister ein solches Referendum explizit gefordert? Sobald die Volksbefragung in Griechenland im Raum stand, kippten Argumentation und Verhalten von Vertretern der übrigen Eurogruppenländer ins Irrationale: Varoufakis wurde kurzerhand vor die Tür gesetzt, jegliche weitere Gesprächsbitte der Griechen beleidigt verweigert und emsig an der Legende eines generösen Angebots gestrickt. Der Schaum vor dem Mund einiger deutscher Politiker und Journalisten, die in der deutschen Öffentlichkeit längst diskreditierte Syriza-Regierung „zum Teufel zu jagen“ und als Alternativoption einen Grexit als Ende mit Schrecken zu verherrlichen, steht Deutschland nicht gut zu Gesicht. Es ist die Abkehr vom Prinzip europäischer Kooperation hin zu einem unwürdigen Schauspiel der Konfrontation aus innen- und machtpolitischen Erwägungen. Während die einen zu feige sind, sich mit guten Argumenten gegen eine des Kasus überdrüssige deutsche Bevölkerung zu stellen, scheinen bei anderen Motive deutscher Besserwisser- und Zuchtmeisterei durch. Vom Klügeren, der nachgibt und so die Spielregeln der Eurozone auf lange Sicht mitbestimmt, kann man wahrlich nicht sprechen.

Das klare griechische OXI bei der Volksbefragung bietet sich den Gläubigern Griechenlands argumentativ nicht als ausschlachtungsfähiges Argument eines Votums gegen die europäische Idee an. Zwar wurde diese Stilisierung im Vorfeld angestrebt, doch die Entscheidung der griechischen Bürgerinnen und Bürger richtet sich nicht gegen Europa, die EU oder den Euro, sondern gegen die Weiterführung der immer gleichen, immer gleich hilflosen Austeritätspolitik. Breit angelegte Volksbeschimpfung oder Ignoranz gegenüber dem Ergebnis des Referendums sind vielleicht kurzzeitig verkaufsfähig, unter demokratischen Gesichtspunkten aber nicht nachhaltig. Der kluge Schachzug von Alexis Tsipras, trotz Bestätigung seiner politischen Linie seinen in Brüssel ungeliebten Finanzminister zurückzuziehen, eröffnet nun ein neues Fenster für Verhandlungen um ein drittes Hilfspaket.

 

Streit um zwei grundverschiedene Wirtschaftsparadigmen

Dabei sind die Vertreter der übrigen Eurostaaten gut beraten, aus ihren Käfigen technokratischer Richtig- und Wichtigkeit auszubrechen. Angeblich unpolitische Zwangsläufigkeiten hätten uns in die aktuell vertrackte Lage geführt, wird gern behauptet. Nur die Zustimmung zu noch größeren Opfern könne die Austeritätspolitik zum Erfolg führen, das sei alternativlos und daher auch nicht verhandelbar. In Wirklichkeit ist der Konflikt zwischen Griechenland und dem Euro-Establishment hoch politisch. Ausgetragen wird ein Streit um zwei grundverschiedene Wirtschaftsparadigmen: Die deutsche Bundesregierung führt das Lager derer an, die über angebotsseitige Maßnahmen zur Wettbewerbssteigerung, über die innere Abwertung infolge von Ausgabenkürzungen und Flexibilisierungen die Krisenländer gesunden möchten. Die griechische Regierung fordert dagegen mit Verweis auf die Dysfunktionalität des verordneten Merkantilismus eine Konzentration auf die Stabilisierung der Nachfrage als Voraussetzung für Wirtschaftswachstum.

Kein Krisenstaat der Eurozone hat mehr Kürzungen bei öffentlichen Investitionen, Sozialausgaben und Renten durchgeführt als Griechenland. Doch in fünf Jahren hat dies zum Zusammenbruch der Wirtschaftskreisläufe und zur Explosion der Staatsverschuldung geführt. Es gibt auch keine Erfolgsgeschichten aus anderen Krisenstaaten zu berichten, anhand derer man die Griechen über die behaupteten Segnungen der Austerität Mores lehren könnte: Wer – Dank seiner europäischen Partner – so starke Einbrüche des Bruttoinlandsprodukts infolge der Kürzungslogik hinnehmen musste wie Portugal und Spanien, der wächst konjunkturell bedingt irgendwann auch wieder ein bisschen. Von einem wirtschaftlichen Aufschwung kann in diesen Ländern angesichts stagnierender Industrieproduktion und sich nur zögerlich veränderndem Einzelhandel kaum die Rede sein. Genauso wenig übrigens wie von einem gerade in deutschen Medien herbeifabuliertem Aufschwung in Griechenland im vergangenen Jahr, der nur durch den Antritt der Regierung Tsipras gestoppt worden sein soll.

 

Suche nach dem kategorischen Imperativ europäischer Konsenskultur

Nicht nur ökonomisch, auch politisch ist die Austeritätspolitik krachend gescheitert. Die ungeliebte Regierung in Athen ist eine Folge dieses Scheiterns. Die griechische Bevölkerung wehrte sich zu Recht gegen eine einseitige Lastenverteilung, gegen eine kontraproduktive Wirtschaftspolitik, die man in Europa seit Heinrich Brünings Experimenten Anfang der 1930er Jahre für überwunden glaubte. Die Syriza-Partei entstammt dem Schoß der so oft beschworenen Alternativlosigkeit dieser falschen Rezeptur gegen die Krise und der politischen Unfähigkeit, die Defizite der Währungsunion im Ganzen zu beheben. Die griechischen Geister, vor denen das Euro-Establishment heute erschauert, hat es sehenden Auges selbst herbeigerufen.

Wie geht es weiter? Der Internationale Währungsfonds hat sowohl die Unterschätzung der negativen Wirkungen der zu streng konditionierten Kredithilfe als auch die Notwendigkeit einer Umstrukturierung der Staatsverschuldung in Griechenland eingeräumt. In einem dritten Hilfspaket wird er sehr wahrscheinlich nicht mehr an Bord der Gläubiger sein, zu weit hat er sein Statut bereits gedehnt. Die Europäische Zentralbank muss nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs die Politik der Rettungsschirme ohnehin verlassen. Europäische Kommission und die Euro-Finanzminister werden sich mit der gestärkt aus dem Referendum hervorgegangenen Regierung Tsipras nun auf ein neuartiges Paket verständigen müssen. Die Tür für Verhandlungen geschlossen zu lassen, wäre ein Sieg der ideologisch verbrämten Unvernunft; auf technokratische Details zu bestehen, wäre eine Bankrotterklärung der politischen Gestaltungsfähigkeit. Den kategorischen Imperativ europäischer Konsenskultur findet man allerdings nur, wenn man vom hohen Ross der national gefärbten Rechthaberei absteigt. Das große Ganze eines Überlebens der Eurozone im Blick zu behalten, einen für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss zwischen Angebots- und Nachfragelogik und eine gerechte Lastenteilung zu erzielen, wird nicht einfach, ist aber nicht unmöglich. Dann klappt’s vielleicht auch wieder mit dem Tango in Brüssel.