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Die Staats- und Regierungschefs haben es sich zu leicht gemacht. Mit einer geschickten Dramaturgie, die ohne Not Dringlichkeit konstruierte, hat der Europäische Rat eine Situation provoziert, die das von den Bürgerinnen und Bürgern gewählte Europäische Parlament unnötig in die Enge treibt. Nur ein paar Stunden nachdem sich das neue Parlament konstituiert hatte, nominierte der Rat eine Kandidatin. Wenn das Gremium der Regierungs- und Staatschefs ein echtes Interesse an einem Konsens mit dem Parlament gehabt hätte, wäre eine spätere Einigung möglich gewesen – die neue Kommission soll erst im November ihre Arbeit aufnehmen.

Der Vorwurf, das Parlament hätte sich nicht auf einen eigenen Kandidaten einigen können, trifft auch deshalb nicht zu, weil die neu gewählten Abgeordneten (ca. 60 Prozent aller Abgeordneten) erst seit dem 2. Juli überhaupt über ein Büro und Telefon verfügen. Für eine Verhandlung auf Augenhöhe wäre es fair gewesen, die Konstituierung des Parlaments abzuwarten. Der Wettbewerb zwischen den Fraktionen um eine Mehrheitsbildung hätte sich dann entfalten können. Weniger Tempo, dafür mehr Kommunikation zwischen Rat und Parlament hätte der Lösungsfindung gutgetan.

Solange die Verträge der EU es zulassen, dass der Rat allein das Vorschlagsrecht für den Kommissionspräsidenten hat und dabei an wenig formelle Vorgaben zu dieser Nominierung gebunden ist, kann sich diese Situation wiederholen.

Die Einbindung des Parlamentes durch den Rat in die Nominierung ist überdies nicht nur demokratische Selbstverständlichkeit und für den inter-institutionellen Frieden geboten, sondern auch durch den Vertrag über die Europäische Union vorgegeben. In Artikel 17 (7) heißt es: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen […] einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor [...]“.

Welche Auswirkungen diese Entscheidung auf das bei der Europawahl erkennbare gestiegene Interesse an europäischer Politik hat, ist leicht zu sagen: Die Bürgerinnen und Bürger werden zu Recht enttäuscht darüber sein, dass nun doch wieder jemand die Kommission führen soll, der sich nicht dem demokratischen Wettbewerb gestellt hat. Die großen europäischen Parteifamilien sind mit dem Versprechen angetreten, einen der Spitzenkandidaten oder eine der Spitzenkandidatinnen zum Kommissionschef oder -chefin zu wählen.

Doch nun soll mit Frau von der Leyen wieder eine Politikerin an die Spitze, die nicht zur Wahl stand. Es ist verständlich, wenn Bürgerinnen und Bürger hierin einen Hinterzimmer-Deal erkennen und enttäuscht sind. Der Lissabon-Vertrag räumt den Staats- und Regierungschefs das Vorschlagsrecht ein, allerdings unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses. Die Missachtung eben dieses Wahlergebnisses wird sich durch größeren EU-Frust rächen.

In der öffentlichen Diskussion versuchen nun einige Akteure das folgendermaßen zu drehen: Es sei verantwortungslos, Frau von der Leyens pauschal abzulehnen; zudem gebe es (gerade aus sozialdemokratischer Sicht) keine gute Alternative, und eine „Institutionenkrise“ wird prophezeit. Letztere wird jedoch bei einer Ablehnung von der Leyens durch das Parlament nicht plötzlich eintreten. Die jetzige Kommission ist bis Ende Oktober fest im Amt und das Verfahren bei der Ablehnung einer Kandidatin ist vertraglich geregelt: Die Staats- und Regierungschefs haben dem Parlament binnen eines Monats einen neuen Vorschlag zu unterbreiten. Sollte die Kandidatin also nicht die erforderliche Mehrheit erhalten, ist der Rat am Zug, ein akzeptables personelles Angebot zu machen. Hierbei sollte das Parlament umfänglich und frühzeitig involviert werden. Aber auch das EP muss seine Hausaufgaben machen und sich auf einen Vorschlag einigen, indem es eine indikative Abstimmung durchführt.

Ursula von der Leyen ist aber auch mit Blick auf die zu lösenden Probleme in der EU keine geeignete Kandidatin. In ihrer Befragung in der Sozialdemokratischen Fraktion konnte sie keine progressive Vision für die EU präsentieren. Ihr Auftreten war zwar freundlich und wortgewandt, doch fehlte es an konkreten Vorschlägen: Kein konkreter Plan zur Rettung Geflüchteter aus Seenot, ihr CO2-Reduktionsziel bleibt hinter dem vom EP geforderten Wert zurück, ein Plan zur Zukunft der Agrarpolitik fehlte, und vor allem im Bereich der Sicherstellung der Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Ländern leistete sie sich Schwächen.

Jetzt mag der Einwand erhoben werden, dass sie ja auch nur wenige Tage Zeit zur Vorbereitung gehabt hat. Aber genau aus diesem Grund ist das Spitzenkandidaten-System so wichtig. Die Kandidaten haben sich mit konkreten Lösungen beworben, die in monatelangen Prozessen erarbeitet wurden. Daher sind sie notwendigerweise besser in den Politikfeldern bewandert und besser mit den Problemen und Lösungen vertraut.

Ganz gleich, ob Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin gewählt wird oder nicht – die derzeitige Situation zeigt deutlich die Grenzen des bisherigen Verfahrens zur Besetzung der Kommissionsspitze. Solange die Verträge der Europäischen Union es zulassen, dass der Europäische Rat allein das Vorschlagsrecht für den Kommissionspräsidenten oder die Kommissionspräsidentin hat und dabei an wenig formelle Vorgaben zu dieser Nominierung gebunden ist, kann sich diese Situation wiederholen. Deswegen ist eine Veränderung des Verfahrens dringend geboten.

Das Spitzenkandidaten-Prinzip muss für den Rat verbindlich sein und endlich um transnationale Listen erweitert werden, wie sie die sozialdemokratische Fraktion schon vor der letzten Wahl gefordert hat. Der Vorschlag hatte im vergangenen Jahr keine Mehrheit, doch nach dem Entstehen der jetzigen, für die große Mehrheit der Abgeordneten unbefriedigenden Situation muss er neu diskutiert und dieses Mal auch beschlossen werden.