Die seit der EU-Gründung unablässig beschworene Harmonie und Konsensbereitschaft unter den Mitgliedstaaten brach in der Griechenland-Krise unverhohlen auf. Zum Vorschein kam eine EU, in der man sich höchst kontrovers und unerbittlich über die gemeinsamen Vorhaben und Ziele streitet. In ungewohnter Offenheit diskutiert man nunmehr Austritts-Optionen eines Mitgliedstaates oder die Beendigung etablierter Formen der Zusammenarbeit. Die in der konfliktgeladenen Krisenpolitik sichtbar werdenden Antagonismen und die Brüchigkeit der Kooperationsbereitschaft spielen sich vor dem Hintergrund neuentstandener Parteien und Bewegungen ab, die sich offen gegen supranationale Integrationsfortschritte wenden.

Der offizielle, unter dem politischen Führungspersonal gepflegte demonstrative Einigungswille scheint dahin, ebenso wie das bislang herrschende, trübe und uninteressierte, aber legitimatorisch tragfähige öffentliche Einverständnis mit allem, was sich auf der europapolitischen Bühne abspielt. Das Abrücken von einer zwanghaften Konsensrhetorik signalisiert zweifelsohne eine Bedrohung für den Fortbestand des europäischen Einigungsmodells. Aber in den Kontroversen schlummert auch ein bescheidenes Demokratisierungspotential: Wenn unterschiedliche Sichtweisen auf Europa entwickelt werden und in ihrer Gegensätzlichkeit aufeinandertreffen, dann zeugt das von öffentlicher Interpretationsarbeit am Verlauf der politischen Ereignisse. Die von der Politik Betroffenen realisieren, dass hinter allem kollektiven Handeln veränderbare Absichten, willkürliche Strategien, umstrittene Ziele und steuerbare Dynamiken stecken. Indem man auf diese Gestaltungsoffenheit und Gestaltungsnotwendigkeit aufmerksam wird, nimmt man das politische Geschehen als gemeinsamen Handlungsraum wahr und wird zum Bestandteil einer Öffentlichkeit, die sich kritisch und kontrovers mit den angemessenen Strategien für ihre kollektive Lebensbewältigung auseinandersetzt. Das ist ein gewichtiger Teil von Demokratie.

 

Drei europapolitische Narrative

Im Moment lassen sich mindestens drei europapolitische „Narrative“ ausfindig machen, die untereinander stark variierende Erzählungen vom Verlauf, von der Dynamik und vom Ziel europäischer Integration anbieten. Das erste ist das Narrativ der anzustrebenden supranationalen Staatlichkeit. Die dramatisierende Schlussfolgerung aus dem Krisenverlauf lautet: Nur eine bundesstaatliche Verfassung mit supranationaler Wirtschaftskompetenz, vergemeinschaftetem Steuerrecht und damit Finanzhoheit, supranationaler Haushaltskontrolle und der Macht wohlfahrtsstaatlicher Regulierung kann Europa retten. Dieses Leitbild des europäischen Bundesstaats ist in der Geschichte und Vorgeschichte der europäischen Integration immer wieder beschworen worden – jetzt wird es erneut als historisch konsequente „Erzählung“ aktiviert. Die Lösung der Krise liegt damit in der Ausweitung supranationaler Verfügungsgewalt, die nationalstaatliche Hoheitsansprüche in zentralen Politikfeldern unwiederbringlich tilgt.

Das zweite Narrativ handelt von den Spannungen und Widersprüchen liberalkapitalistischer Gesellschaften. Es knüpft an die gegenwärtigen ökonomischen sowie fiskalischen Krisen an, in deren Manifestationen die supranationalen Institutionen und Abläufe tief verwickelt sind. Die europäische Integration genüge vor allem den Bedürfnissen des Kapitals nach günstigen Produktionsbedingungen, Absatzmärkten und Investitionsmitteln. In diesem Blickwinkel liest sich das seit Jahrzehnten im Vordergrund stehende Projekt des „Europäischen Binnenmarkts“ als Geschichte einer wachsenden „Abtretung von Allokationsentscheidungen an freie Märkte“ (Wolfgang Streeck). Aber der wirtschaftliche Wettkampf führt nicht zur Harmonisierung unter den Mitgliedstaaten, sondern fördert deren unterschiedliche Entwicklungsniveaus. Die Krisen der EU-Südländer gelten daher als Symptome einer verhängnisvollen neoliberalen Dynamik, die spaltet, statt zu einen. Das wiederum fördert eine technokratische, von einigen führenden nationalen Regierungen dominierte Krisenpolitik. Damit geht ein eklatanter Demokratieverlust einher. Die Volkssouveränität weicht einem „Souverän in Krisenzeiten“ (Ulrike Guérot), der letztendlich aus wenigen Institutionen wie der Europäischen Zentralbank, dem IWF und einigen mächtigen nationalen Regierungschefs besteht. Eine Beendigung dieser marktfixierten Entdemokratisierung lässt sich nur durch Renationalisierung erreichen.

Das dritte Narrativ rekonstruiert die aktuelle Lage in Europa als das Ergebnis eines Kulturkampfes – nämlich als den konkurrierenden Geltungsdrang rivalisierender europäischer Wertesysteme. Weil das „protestantische“, „preußische“ Europa unter der Führung Deutschlands die Europapolitik zu beherrschen und daraus die größten Vorteile zu ziehen scheint, wird der Ruf nach einem „Europe latin“ laut, nach einem romanisch beeinflussten Europa, das nicht die rigide Sparpolitik und die zentralisierte Haushaltskontrolle in den Vordergrund stellt, sondern ein von Spontaneität, Freiheitsdrang und kreativer Lebensfreude geprägtes Miteinander. Es wird eine an der Ökonomie desinteressierte Gemeinschaftlichkeit gepredigt, die mit der protestantischen Fixierung auf das „Materielle“ unvereinbar scheint. Diese Variante verdankt sich einer Debatte, die vom italienischen Philosophen Giorgio Agamben angezettelt worden ist, der sich wiederum auf einen Text des russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beruft. Agamben und viele andere erkennen die Dominanz der germanischen Mentalität über das „Europe latin“ im deutschen Verhalten im Rahmen der aktuellen Krisenpolitik deutlich wieder. Die „civilisations latines“ müssten, so Kojève und Agamben, dagegen aufbegehren und der europäischen Integration stattdessen den Stempel der südländischen Lebensform aufdrücken. Europa wird zum Terrain eines Hegemonialkampfes unter Regionalkulturen.

 

Für eine Neuvermessung der supranationalen Ordnung

Die in den skizzierten Narrativen zum Ausdruck kommende öffentliche Auseinandersetzung mit europapolitischen Entwicklungen bleibt zwar bisweilen inhaltlich arg grobschlächtig und argumentativ schmalspurig. Sie steht aber wenigstens für eine aufmerksamere Rekapitulation des supranationalen Geschehens. Auf diese Weise wird zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Einigung der trübe öffentliche Konsens, der desinteressierte „permissive consensus“ mit allen politischen Entwicklungen, aufgebrochen. Fragen nach dem Sinn und nach der Zweckerfüllung der supranationalen politischen Ordnung rücken ins öffentliche Bewusstsein. Das ist insofern eine demokratische Errungenschaft, als eine geschärfte und kontroverse öffentliche Wahrnehmung den Nährboden liefert, auf dem eine erweiterte politische Mitwirkungsbereitschaft der Bürgerschaft gedeihen kann. Der europäische Zielkonsens gerät ins Trudeln, eine integrationspolitisch gespaltene demokratische Interventionsbereitschaft gewinnt an Fahrt.