Die für die Bewältigung des coronabedingten schweren Wirtschaftsschocks erforderliche starke finanzpolitische Reaktion der EU war nur dadurch möglich, dass sich die Finanzminister am 23. März 2020 darauf einigten, erstmals die im fiskalpolitischen Regelwerk enthaltene „allgemeine Ausweichklausel“ zu aktivieren. Sehr wahrscheinlich wird diese Klausel auch 2021 und 2022 weiter gelten, aber was wird passieren, wenn die normalen Regeln wieder in Kraft treten?
In der Pandemie hat sich die Haushaltslage in allen Ländern erheblich verschlechtert. Laut Prognosen des Internationalen Währungsfonds wird das Verhältnis zwischen öffentlichem Schuldenstand und Bruttoinlandsprodukt in mehreren Ländern der Eurozone die im Maastricht-Vertrag festgelegte Obergrenze von 60 Prozent um das Doppelte (Belgien, Frankreich, Spanien und Portugal) oder gar das Dreifache (Italien, Griechenland) übersteigen.
Diese hohe Verschuldung stellt die Finanzpolitik in den Mitgliedstaaten vor riesige Herausforderungen. Mit dem sogenannten „ Sechserpaket“ ist den Mitgliedstaaten seit Dezember 2011 vorgeschrieben, die Differenz zwischen ihrem aktuellen Schuldenstand und dem Referenzwert von 60 Prozent jährlich um ein Zwanzigstel zu reduzieren. Wie aus Berechnungen des Europäischen Fiskalausschusses (EFA) hervorgeht, kann die Anforderung, die Schulden innerhalb von zwei Jahrzehnten unter den Schwellenwert zu bringen, nur mit hohen Haushaltsprimärüberschüssen erfüllt werden.
Selbst unter günstigen Bedingungen (Nominalwachstum liegt einen halben Prozentpunkt über dem Nominalzinssatz) müssen Länder mit einer Schuldenquote von 120 Prozent des BIP einen Primärüberschuss von 1,9 Prozent erzielen, Länder mit einer Schuldenquote von 150 Prozent des BIP einen Überschuss von 2,9 Prozent. Vergleicht man diese Zahlen mit den durchschnittlichen Primärüberschüssen der hochverschuldeten Länder in den Jahren 2014 bis 2019, wird ersichtlich, dass der geforderte Schuldenabbau nur mit einer brutalen Sparpolitik zu verwirklichen ist.
Die Erfahrung aus dem letzten Jahrzehnt zeigt, dass sich Haushaltskonsolidierungen negativ auf staatliche Investitionen auswirken, da Ausgaben dieser Art leichter zu kürzen sind als Sozialausgaben oder Gehälter im öffentlichen Dienst.
Die Erfahrung aus dem letzten Jahrzehnt zeigt, dass sich Haushaltskonsolidierungen negativ auf staatliche Investitionen auswirken, da Ausgaben dieser Art leichter zu kürzen sind als Sozialausgaben oder Gehälter im öffentlichen Dienst. Das ist nicht weiter verwunderlich, da öffentliche Investitionen im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts keine maßgebliche Rolle spielen. Dessen Regelbuch stützt sich in erster Linie auf das Verhältnis von Staatsverschuldung zum BIP – wobei die Verbindlichkeiten der öffentlichen Haushalte eingerechnet werden, der öffentliche Kapitalstock auf der Aktivseite aber unberücksichtigt bleibt.
Wenn es um die Haushaltsdefizit-Grenze von jährlich 3 Prozent geht, werden die öffentlichen Investitionen nicht herausgerechnet. Die EFA weist darauf hin, dass bisher nur sehr selten auf die sogenannte Investitionsklausel zurückgegriffen wurde, die den Spielraum für schuldenfinanzierte öffentliche Investitionen etwas vergrößert. Das liegt vor allem an der dafür geltenden Voraussetzung, dass ein Negativwachstum oder eine „Produktionslücke“ unter 1,5 Prozent des potenziellen BIP prognostiziert sein müssen.
Aufgrund dessen sanken in der Eurozone die staatlichen Nettoinvestitionen seit 2012 fast auf null oder gar unter null und sind weitaus niedriger als in den nicht zur Eurozone gehörenden EU-Mitgliedstaaten und den USA. Würde nach den coronabedingten Ausnahmeregelungen wieder das normale finanzpolitische Regelwerk in Kraft treten, wäre es unmöglich, die nötigen staatlichen Investitionen zu tätigen, die zur Bewältigung von gleich drei Herausforderungen gebraucht werden: Klimawandel, Pandemiefolgen und digitale Transformation.
Ein offensichtlicher Ausgangspunkt für eine Reform des Stabilitäts- und Wirtschaftspakts ist der für die Staatsverschuldung geltende Referenzwert von 60 Prozent des BIP. Dieser Wert wurde anhand des durchschnittlichen Verhältnisses von Schuldenstand zum BIP der europäischen Mitgliedstaaten von 1990 festgelegt. Mit demselben Verfahren hätte man im Jahr 2000 einen Referenzwert von 70 Prozent ermittelt, für 2010 hätte er schon 86 Prozent betragen und im Jahr 2020 liegt dieser Wert bei 101 Prozent.
Regeln führen daher zwangsläufig zu Fehlern, weil sie die Haushaltspolitik entweder zu sehr oder zu wenig einschränken.
Die Wirtschaftswissenschaft war bisher nicht in der Lage, einen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Referenzwert zu ermitteln, an den sich eine evidenzbasierte Wirtschaftspolitik halten könnte. Ein bekanntes Beispiel ist das 2010 von Reinhard und Rogoff vorgelegte Papier, das die Festsetzung des Referenzwerts auf 90 Prozent vorschlug. Allerdings wurden in dem Papier „schwerwiegende Irrtümer“ bei den Berechnungen entdeckt.
Ein IWF-Arbeitspapier kam 2014 zu dem Schluss: „Aus unseren Ergebnissen geht nicht hervor, dass es eine klare Schuldengrenze gibt, bei deren Überschreitung die Aussichten auf mittelfristiges Wachstum drastisch beeinträchtigt würden. Ganz im Gegenteil: Die Korrelation zwischen Schulden und mittelfristigem Wachstum ist bei höheren Schuldenständen eher schwach, vor allem wenn man die durchschnittlichen Wachstumsraten gleichrangiger Länder zur Kontrolle heranzieht.“
Aufgrund dieser Ambiguität unterbreiteten ein früherer IWF-Chefökonom und zwei seiner Kollegen kürzlich den Vorschlag, finanzpolitische Regeln durch „finanzpolitische Standards“ zu ersetzen: „Ob bei einer Verschuldung die Gefahr besteht, nicht mehr tragbar zu sein, hängt nicht nur von den Schulden- und Defizitständen, sondern auch von einer ganzen Reihe nicht abschätzbarer wirtschaftlicher und politischer Faktoren ab. Selbst komplexe finanzpolitische Regeln können Unsicherheiten dieser Art nicht angemessen einkalkulieren, weil es unmöglich ist, die entsprechenden Eventualitäten vorherzusehen und vorab zu präzisieren. Regeln führen daher zwangsläufig zu Fehlern, weil sie die Haushaltspolitik entweder zu sehr oder zu wenig einschränken.“
Die wichtigste Entscheidung für die Eurozonenländer ist, ob sie bereit sind, die im „Sechserpaket“ festgeschriebenen Regeln zum Schuldenabbau aufzugeben oder zumindest erheblich zu lockern. Mit einer neuen Regelung würde der Zeitraum des Schuldenabbaus vielleicht auf 50 Jahre ausgedehnt oder aber das gleiche Ziel könnte auf der Grundlage von Ermessensentscheidungen erreicht werden, bei denen die Europäische Kommission und der Rat der Europäischen Union die länderspezifischen mittelfristigen Schuldenziele festlegen.
In Abhängigkeit von Zinsraten und prognostizierten nominalen Wachstumsraten könnten solche Schuldenziele Raum für Primärdefizite lassen.
Mit staatlichen Kreditaufnahmen sollten Investitionen finanziert werden und keine alltäglichen Ausgaben. Diese Goldene Regel findet mehr Anerkennung bei Ökonomen als die Schuldenregeln.
Um sicherzustellen, dass dieser finanzpolitische Spielraum für Investitionen genutzt wird, sollte der Ansatz durch die Goldene Regel ergänzt werden – die Idee, dass mit staatlichen Kreditaufnahmen Investitionen finanziert werden sollten und keine alltäglichen Ausgaben. Diese Regel findet mehr Anerkennung bei Ökonomen als die Schuldenregeln. Selbst der konservative Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (die „fünf Wirtschaftsweisen“) hat die Goldene Regel ausdrücklich vorgesehen, als er 2007 die Schuldenbremse entwickelte.
Die Vorteile und Probleme im Zusammenhang mit der Goldenen Regel wurden intensiv diskutiert. Das Hauptproblem dabei ist eine geeignete Definition von Investitionen. Sollte die Regel für Brutto- oder Nettoinvestitionen gelten? Und sollten sie auf materielle Kapitalgüter beschränkt oder umfassender als „zukunftsorientierte“ Investitionen definiert werden – einschließlich öffentlicher Ausgaben für Erziehung, Bildung und Familien, bessere Gesundheitssysteme sowie den Kampf gegen den Klimawandel?
Eine pragmatische Lösung wäre, öffentliche Investitionen als Nettoinvestitionen plus aller Ausgaben für Bildung, Klimaschutz, Digitalisierung sowie Forschung und Entwicklung zu definieren, die über den Durchschnittsausgaben von 2014 bis 2019 liegen. Die Kategorisierung, welche Ausgaben unter die Goldene Regel fallen, sollte der Zustimmung unabhängiger nationaler Finanzkontrollinstitutionen unterliegen.
In so einem Regelwerk könnten Ausgabenvorschriften eine wichtige Rolle spielen – was in der Tat in vielen Vorschlägen zur Reform der EU-Fiskalpolitik befürwortet wird. Um aber einen konkreten Ausgabenpfad zu bestimmen, muss zunächst ein geeignetes Ziel für die Schuldenstände festgelegt werden. Dann kann mithilfe der Goldenen Regel sichergestellt werden, dass mögliche Spielräume für weitere Defizite ausschließlich für breit definierte öffentliche Investitionen genutzt werden.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.
Aus dem Englischen von Ina Görtz.