Nie zuvor war Europa so eng verbunden. Die Volkswirtschaften der EU-Mitgliedsstaaten sind praktisch untrennbar. Mit dem Binnenmarkt sind Lieferketten oder Arbeitsbeziehungen zwischen den europäischen Ländern oft genauso eng wie innerhalb eines Landes. Es macht keinen Unterschied, ob der Geschäftspartner in den Niederlanden oder in Niedersachsen arbeitet. Millionen EU-Bürger verbringen ihre Ferien in Nachbarländern oder pendeln zur Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat. Jedes Jahr studieren hunderttausende Studenten im europäischen Ausland.
Aber nicht nur im Alltag ist Europa eng verbunden, auch in der Politik. In den meisten Politikfeldern arbeitet die EU eng zusammen. Beispiel Klima- und Energiepolitik: 2017 und 2018 hat die EU den Emissionshandel grundlegend reformiert. Die Richtlinien für Erneuerbare Energien und Energieeffizienz wurden überarbeitet. Die EU ratifizierte das Pariser Klimaabkommen in Rekordzeit. Beispiel Finanzmarktregulierung: Nach der Finanzkrise überarbeitete die EU die europäische Finanzmarktregulierung und schuf Aufsichtsbehörden mit umfassenden Kompetenzen. Die Tagesordnungen von Rat und Parlament sind voll mit Gesetzgebung, die routinemäßig verhandelt wird. Anders als oft angenommen, entscheidet der Rat in der Regel im Konsens, Mitgliedstaaten werden selten überstimmt. All das ist fast unsichtbar, weil Alltag.
Trotzdem dominiert ein anderes Bild die politische Debatte: die EU gespalten in Lager. Diese Lager, so die verbreitete Wahrnehmung, stehen sich als unversöhnliche Gegenpole gegenüber: Progressive gegen Populisten, Föderalisten gegen Nationalisten, Macron gegen Salvini. Rechte und Linke pflegen gleichermaßen diese Gegensätze. Salvini sieht sich als Befreier Europas von der Brüsseler Bürokratie. Er will nach der Berliner Mauer die Brüsseler Mauer einreißen. Orbán versteht sich als Verteidiger Europas und des Christentums gegen liberale und identitätslose Eliten und ihr willfähriges Werkzeug – die EU. Auf der Linken bezichtigt Di Maio die EU des Marktterrorismus. Aber nicht nur Rechte und Linke pflegen diese Gegensätze, gelegentlich auch die Mitte: Macron findet Gefallen daran, der Hauptgegner Salvinis und Orbáns zu sein.
Macron und alle, die das Spiel der Gegensätze mitspielen, tappen in eine Falle – sie führen die Auseinandersetzung auf dem Terrain des politischen Gegners.
Die Betonung dieser Gegensätze ist oft berechtigt. Die autoritären Überzeugungen von Orbán und Salvini sind nicht mit den Grundwerten der EU vereinbar. Die sogenannte Stop-Soros-Kampagne und Gesetzgebung der ungarischen Regierung steht den Grundregeln der EU diametral entgegen, ebenso Äußerungen Salvinis gegenüber der italienischen Justiz. Statements der Regierungen Ungarns oder Polens, Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur Flüchtlingspolitik und Justizreform zu ignorieren, sind Angriffe auf das Fundament der EU. Tiefe Gegensätze bestehen in der Flüchtlingspolitik. Die Auseinandersetzung um den italienischen Haushalt macht deutlich, dass der Euro in der politischen Debatte die EU spaltet.
Der Akzent auf Gegensätzen kann das öffentliche Interesse an der EU stärken, Wähler mobilisieren und die Wahlbeteiligung für die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament erhöhen. Er ist aber aus drei Gründen für die EU ein Problem.
Erstens beschert die Betonung von Gegensätzen den Gegnern der EU ein Heimspiel. Salvini und Orbán sind für viele Wähler überzeugend, wenn sie in schrillen Farben emotionalisieren. Wir gegen die. Das Volk gegen Eliten. Europa der Nationen gegen Vereinigte Staaten von Europa. Diese Gegensätze sind Sauerstoff für Orbán und Salvini. Sie machen Schlagzeilen. Aus diesen Gründen eskalieren, provozieren und polarisieren beide – wie etwa im Streit um den italienischen Haushalt oder in der Flüchtlingspolitik. Diskussionen komplexer Sachfragen leben nicht von Gegensätzen und sind für beide eher ein Auswärtsspiel. Macron und alle, die das Spiel der Gegensätze mitspielen, tappen also in eine Falle – sie führen die Auseinandersetzung auf dem Terrain des politischen Gegners.
Der Akzent auf Gegensätzen betont zweitens das Trennende und überlagert die Gemeinsamkeiten des europäischen Alltags. Dadurch wird eine Stärke der EU fast unsichtbar: Lösung von praktischen Problemen, die nur gemeinsam gelingen kann und Kooperation in Institutionen braucht; Kompromisse unaufgeregt finden und über lange Zeiträume gemeinsam an Sachfragen arbeiten.
Die Protagonisten der Gegensätze verstärken den falschen Eindruck, die EU sei eine liberale Kopfgeburt.
Drittens suggeriert die Akzentuierung der Gegensätze, dass die EU eine liberale Idee sei. Das ist teilweise richtig – insbesondere wenn es um die Wirtschaftspolitik der EU geht. In der Absolutheit der Debatte aber ist es falsch. Selbst in der Wirtschaftspolitik ist die EU nicht nur liberal. Sie hat viele umwelt-, sozial- oder arbeitspolitische Regeln, die mit der liberalen Wirtschaftslehre und dem freien Spiel der Marktkräfte nicht viel zu tun haben. In Politikfeldern, die in der Auseinandersetzung zwischen liberal vs. illiberal besonders wichtig sind – zum Beispiel Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehe –, hat die EU kaum Kompetenzen. Mit anderen Worten: Die EU gibt Raum für liberale, konservative oder sozialdemokratische Politiken. Sie ist kein liberales Projekt. Für die Legitimität der EU ist diese Neutralität wichtig. Die Protagonisten der Gegensätze verstärken also den falschen Eindruck, die EU sei eine liberale Kopfgeburt.
Für die EU und die Zusammenarbeit in Europa ist es deshalb wichtig, die Debatte zur EU und ihrer Zukunft besser zu formulieren oder zu framen. Lieber konkret und sachorientiert als abstrakt und ideologisch. Anstatt Gegensätze und große Begriffe sollten praktische Fragen den Rahmen für die Debatte über die Zukunft der EU geben: Können Staaten grenzüberschreitende Kriminalität allein bekämpfen? Können sie den Klimawandel alleine aufhalten? Wie stellen die EU-Mitglieder sicher, dass sie in der Welt mitbestimmen und nicht herumgeschubst werden? Wie steht die EU zu Angriffen auf Justiz und Medien in den Mitgliedstaaten?
Anders als das „wir gegen die“ oder ein „Europa der Nationen gegen einen Europäischen Bundesstaat“ laden die praktischen Fragen zum Ja zur EU ein. Kein Staat kann allein Klimawandel oder grenzüberschreitende Kriminalität bekämpfen. Anders als die USA oder China kann kein EU-Mitglied allein internationale Politik gestalten. Das geht nur gemeinsam – in den Institutionen der EU. Zusammenarbeit funktioniert dort wiederum nur, wenn alle beteiligten Regierungen demokratisch legitimiert sind; dies ist Voraussetzung für die demokratische Legitimität europäischer Gesetzgebung. Praktische Fragen sind also die bessere Grundlage für eine konstruktive Debatte über die Zukunft der EU, ihre Stärken und Schwächen. Sie bescheren der EU ein Heimspiel.