In Griechenland gibt es eine passende Umschreibung für das, was die Europäische Union vor einigen Wochen bewerkstelligt hat: In einem Rennen mit nur einem Teilnehmer Zweiter werden. Dieses Rennen, eher eine Langstrecke, findet in Südosteuropa statt und nennt sich EU-Erweiterung. Einst ein Grundpfeiler der europäischen Idee, ist die Erweiterungspolitik zu einer Glaubwürdigkeitsprüfung für die EU geworden, die sie nicht bestanden hat. Der Prozess hat einen Schaden genommen, der nach der erneuten Entscheidung gegen die Eröffnung von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien zunächst irreversibel scheint.
In den beiden Ländern fragt man sich, inwieweit das eigene Handeln, die eigenen Reformen denn in Zukunft einen Unterschied machen sollen. Wie sollen solche Reformen innenpolitisch vermittelt und der Bevölkerung als notwendig dargestellt werden? Wie sollen Anstrengungen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ihrer Komplexität und Langfristigkeit gegen die einfachen Antworten von Populismus und Nationalismus bestehen?
In einer bewegten Welt droht der Balkan stillzustehen, auch Rückschritte werden infolge der Zurückweisung wahrscheinlicher. Historisch war das nie förderlich für Frieden und Verständigung, sondern vor allem für Geschichtsvergessenheit und Nationalismus. Verliert die europäische Idee weiter an Strahlkraft, könnten andere politische Erzählungen attraktiver werden. Die Gefahr, dass Gräben entstehen, wo eigentlich Grenzen überwunden werden sollten, ist gewachsen.
Die EU bietet die einzige positive Zukunftsperspektive für die kleinen Länder des westlichen Balkan.
In den vergangenen zwei Jahren war die Kraft der europäischen Idee nirgends so spürbar wie in Nordmazedonien. Nach dem Regierungswechsel hatte der sozialdemokratische Premierminister Zoran Zaev einen couragierten Reformkurs eingeschlagen und damit eine Hundertachtziggradwendung nach Jahren repressiver und nationalistischer Herrschaft zunehmend korrupter Eliten bewirkt. Dabei war das Ziel klar: Die Eröffnung von Beitrittsgesprächen mit der EU. Diesem Ziel wurde alles untergeordnet, denn die EU bietet die einzige positive Zukunftsperspektive für die kleinen Länder des westlichen Balkan.
Das gilt auch für Albanien. In keinem anderen Land Europas ist die Zustimmung zur europäischen Integration so hoch wie hier. Während die EU zwischen Brexit-Debakel und erstarktem Populismus um die eigene Identität ringt, ist sich die albanische Bevölkerung laut Umfragen bisher zu weiten Teilen sicher, was das europäische Versprechen von Wohlstand, aber gerade auch von Rechtsstaatlichkeit, sozialer Sicherheit, Freiheit und Demokratie angeht. Diese Perspektive zeigte Wirkung. Reformen wurden angegangen, die es ohne die Aussicht auf Verhandlungen und ohne Unterstützung durch europäische und amerikanische Partner nicht gegeben hätte. Immer wieder und zu Recht genannt wird in diesem Zusammenhang die umfassende Justizreform, von der eine transformative Wirkung erwartet werden kann.
Doch trotz der erfolgten Reformen und Verhandlungsempfehlung durch die Europäische Kommission ist die Entscheidung über Beitrittsverhandlungen keine technische Checkliste. Vielmehr war es eine politische Entscheidung der EU, auch in schwierigen Zeiten für eine Orientierung Nordmazedoniens in Richtung EU zu plädieren und Beitrittsgespräche in Aussicht zu stellen, sollten denn die Anforderungen erfüllt werden. Seit 2008 schrumpften dort in einer zunehmend autokratischen Entwicklung die Freiheiten für Medien und Zivilgesellschaft immer weiter. Damals sprach eine EU-Expertenkommission gezielt die Bedenken im Bereich Rechtsstaatlichkeit an und bereitete damit einen Wandel vor.
Das Ziel der EU-Erweiterung rückte mit der Regierungsübernahme durch Zoran Zaev und seinem Einsatz in der Beilegung aller bilateralen Dispute mit den Nachbarländern in greifbare Nähe. Es handelte sich um eine Kraftanstrengung der Regierung, die innenpolitisch hoch riskant war, aber die Zukunft der europäischen Perspektive innerhalb der mazedonischen Gesellschaft wieder mit Leben füllte. Der Europäische Rat konnte sich dennoch nicht auf die Eröffnung von Verhandlungen einigen – auch das ist politisch und hat Folgen.
Sicher, in beiden Ländern gibt es weiterhin schwerwiegende Probleme. Die Korruption ist massiv und die Demokratien sind längst nicht konsolidiert. Aber genau hier ist es die europäische Perspektive, die Wandel ermöglicht.
Sicher, in beiden Ländern gibt es weiterhin schwerwiegende Probleme. Die Korruption ist massiv und die Demokratien sind längst nicht konsolidiert. Aber genau hier ist es die europäische Perspektive, die Wandel ermöglicht. Am meisten profitieren würde die Bevölkerung. Sie ist es auch, die unter dem Ausbleiben von Reformen am meisten leidet und die täglichen Konsequenzen trägt. Während Beitrittsgespräche den Reformdruck auf die Regierungen erhöhen können, bleibt nun viel Raum für Worte ohne Taten und Beteuerungen ohne Verantwortlichkeit.
Eine immer vagere europäische Perspektive wird immer schwerer bestehen können neben der einfachen Losung, die populistische Kräfte in allen Staaten der Region ausgeben. Diese Kräfte profitieren von Lücken im Rechtsstaat, von Korruption und von Defiziten in demokratischer Kontrolle und Mitwirkung. Populisten und Nationalisten spalten, sie liefern keine Grundlage für nachhaltigen Frieden in den Ländern, in der Region und in Europa.
So hat der mazedonische Premierminister Zoran Zaev direkt nach dem negativen Signal der EU Konsequenzen gezogen und die eigentlich für Ende 2020 geplanten Wahlen auf April vorgezogen. Dort könnte er dann für genau die Reformagenda abgestraft werden, für die er Ende 2016 ins Amt gehoben wurde. Denn die Bevölkerung zweifelt nach dem erneuten Vertagen der Eröffnung von Beitrittsgesprächen an der Ernsthaftigkeit der Unterstützung der EU. Die Opposition macht Stimmung und mahnt an, der Landesname sei für nichts verscherbelt worden. Sie kann damit in den Umfragen punkten und bereitet so den Nährboden für Spannungen, die aus der nahen Vergangenheit noch bekannt sind.
Die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten müssen einsehen: Wer Demokraten will, muss innerhalb von Regierungszyklen Taten sprechen lassen. Sonst können die demokratischen Kräfte schnell verschwinden.
Nationalistische Gruppen hatten jahrelang entlang vorgeblich ethnischen Linien Spaltungen verstärkt, um vom eigenen Reformunwillen abzulenken. Sowohl im eigenen Land als auch in Abgrenzung zu den Nachbarn machten rückwärtsgewandte Eliten, oft im Verbund mit mächtigen Tycoons, immer die anderen für eigene Defizite verantwortlich. Es waren stets die anderen – die andere Ethnie, die andere Religion, die andere Sprache –, sei es in Bezug auf Rechtsstaat und Medienfreiheit oder auf die schlechten PISA-Ergebnisse und die Luftverschmutzung.
Die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten müssen einsehen: Wer Demokraten will, muss innerhalb von Regierungszyklen Taten sprechen lassen. Sonst können die demokratischen Kräfte schnell verschwinden, entweder, weil sie durch Wahlen abgestraft werden oder aber, weil mit schwindenden Perspektiven die verbleibenden Reformkräfte mit den Füßen abstimmen und ihre Länder verlassen.
Die Entwicklungen in Albanien sind mit Nordmazedonien nicht vergleichbar. Die Regierung unter dem Sozialisten Edi Rama musste nicht ihr gesamtes politisches Kapital auf die europäische Perspektive verwetten. Sie beschwört weiterhin, Reformen im Sinne von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit umsetzen zu wollen. Die Umsetzung dieser Reformen bedarf jedoch breiter politischer und gesellschaftlicher Unterstützung, während einflussreiche Profiteure des Status Quo versuchen werden, Veränderungen zu blockieren. Es bleibt also abzuwarten, wie weitreichend die Regierung ihrer Ankündigung ohne den Hebel der klaren Beitrittsperspektive Folge leisten kann und wird. Hört man sich unter denjenigen um, die in den Fachministerien für die Harmonisierung mit dem Acquis eingesetzt werden sollen, herrscht Ratlosigkeit. Ist es das wirklich wert, Ressourcen für die langwierigen Anpassungsprozesse bereitzuhalten?
Nicht nur wurde Nationalisten wissentlich mehr Spielfläche in unmittelbarer Nachbarschaft zur EU gegeben, sondern auch der wichtigste und wirksamste Reformmotor ausgebremst.
Die EU hat mit dem Nein die Anziehungs- und Überzeugungskraft verloren. Welcher Regierungschef in der Region wird nach dieser Absage erneut sein politisches Kapital in die Annäherung an die EU investieren? Auch die Bevölkerung in Nordmazedonien und Albanien hatte auf Unterstützung der Wertegemeinschaft gesetzt, deren Teil sie werden will. Nun haben viele Menschen den Eindruck, als könnten sie dies langfristig nur durch die Migration erreichen und nicht durch Wandel in ihren Ländern. Die korrupten und gestrigen Kräfte, die endlich nachhaltig abgelöst werden sollten, haben Rückenwind erhalten. Sie profitieren vom Status Quo, der sich durch das französische Nein, das ein europäisches Nein wurde, auf unbestimmte Zeit verlängert.
Emmanuel Macron möchte vor der Eröffnung weiterer Gespräche die Erweiterungspolitik reformieren. Das ist legitim. Dass er diese Forderung erst jetzt vorbringt und nicht bereits im Sommer 2018, als beide Länder bereits hingehalten wurden, wirft Fragen auf. In den Kandidatenländern scheint der Zeitpunkt wie ein Alibi für eine weitere Verschiebung, da ein Beitritt eigentlich nicht gewünscht wird. Bereits im Juni 2019 hätte die Reform der Erweiterung im Ratsgipfel angesprochen werden können. Zu allem Überfluss mahnt Macron kurz nach dem Nein zur Erweiterung in einem Interview an, die EU müsse endlich ein geostrategischer Akteur werden. Die beste Chance dafür hatte er mit seinem Nein wenige Wochen zuvor zunichte gemacht.
Europas Problem ist noch größer. Nicht nur wurde Nationalisten wissentlich mehr Spielfläche in unmittelbarer Nachbarschaft zur EU gegeben, sondern auch der wichtigste und wirksamste Reformmotor ausgebremst: die Aussicht vom Beitrittskandidaten, durch Fleißarbeit und Reformwillen in Beitrittsgespräche aufzurücken. Und ganz nebenbei wurde auch den EU-idealisierenden Bevölkerungen klar, wie Einzelstaaten das europäische Projekt bremsen können, wie der Populismus der europäischen Idee Kraft entzieht. So haben sich doch das Europäische Parlament, die Kommission, die Mehrheit der Mitgliedsstaaten und sämtliche wichtigen Einzelpersonen für Beitrittsverhandlungen ausgesprochen, was spätestens durch den breiten Aufschrei der Empörung nach der Gesprächsverweigerung deutlich wurde. Doch reichte ein Regierungschef aus, um die Glaubwürdigkeit der gesamten Union zu unterminieren. Dabei liegen seine Beweggründe eher im eigenen Land und innerhalb der EU als auf dem Balkan.
Jetzt muss die Chance genutzt werden, den Mechanismus so zu überarbeiten, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nachhaltig gestärkt und Rückschritte verhindert werden können bei einem gleichzeitig raschen Verhandlungsbeginn mit beiden Staaten.
Was nun? In den nächsten Monaten wird sich die Zukunft der europäischen Erweiterungspolitik entscheiden, mit allen denkbaren Konsequenzen für den Westbalkan. Die neue Kommission wird eine Strategie ausarbeiten, und schon im März 2020 wird die Frage der Erweiterungspolitik wieder im Europäischen Rat behandelt werden. In diese Debatte ist nun Bewegung bekommen. Die Kritik am Beitrittsmechanismus ist nicht unberechtigt, denn wirksame Sanktionsmechanismen bei stillstehenden Verhandlungen oder negativen Entwicklungen sind bislang begrenzt. Die zu erreichenden Kriterien sind oftmals zu vage formuliert, so dass sie auf dem Papier erfüllt werden können, während in der Praxis eine Lücke klafft.
Jetzt muss die Chance genutzt werden, den Mechanismus so zu überarbeiten, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nachhaltig gestärkt und Rückschritte verhindert werden können bei einem gleichzeitig raschen Verhandlungsbeginn mit beiden Staaten. Nur so können der Erweiterungsprozess mit seiner Hebelwirkung wiederbelebt und die progressiven Kräfte in der Region gestützt werden. Nun gilt es, gegen die konservative Blockade eine progressive Mehrheit zu schaffen und in den Mitgliedsstaaten zu vermitteln. Denn auch das macht eine starke EU aus: eine friedensorientierte und demokratiefördernde Außen- und Erweiterungspolitik.