Auf dem Europäischen Rat am 26./27. Juni haben die Staats- und Regierungschefs erstmals eine strategische Agenda für die zukünftige EU-Kommission definiert. Zusammengefasst lässt sie sich auf zwei Kernaussagen reduzieren: erstens soll sich die EU fortan auf jene Aktivitäten beschränken, bei denen sie wirklich etwas bewirken kann, zweitens soll die EU weiterhin all das machen, was sie bislang schon gemacht hat, nur eben besser.
Keine Aussage trifft die strategische Agenda zu dem Wie, also zu den Instrumenten, mit denen diese Ziele umgesetzt werden sollen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Amtszeit der nächsten EU-Kommission maßgeblich von einer erneuten Reformdebatte geprägt sein wird. Eine wichtige Reformbaustelle sollte dabei der EU-Haushalt sein. Für den aktuellen Mehrjährigen Finanzrahmen (2014-2020) steht 2016 eine Überprüfung an. Wenn Europa bei den Bürgerinnen und Bürgern besser ankommen soll, dann muss diese Chance genutzt werden, um für mehr Wirkung, mehr Transparenz und ein besseres Verständnis des europäischen Mehrwerts zu sorgen.
Die Amtszeit der nächsten EU-Kommission wird maßgeblich von einer erneuten Reformdebatte geprägt sein. Eine wichtige Reformbaustelle sollte dabei der EU-Haushalt sein.
Die Europäische Union hat in den vergangenen zwanzig Jahren unzählige Reformen vollzogen. Der Haushalt der EU und vor allem die Systematik der mehrjährigen Finanzplanung haben sich in all diesen Jahren geradezu als Hort der Stabilität erwiesen. Seit 1988 legen die siebenjährigen Finanzpakete den Gesamtumfang und die Verteilung auf wesentliche Ausgabenkategorien fest. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde der Mehrjährige Finanzrahmen sogar als Instrument der Haushaltsplanung vertraglich festgeschrieben. Dabei gibt es guten Grund zu vermuten, dass diese Rigidität des EU-Haushaltes nicht unwesentlich zum mangelnden Verständnis der Bürgerinnen und Bürger für die EU beigetragen hat. Auch vielen Politikern scheint das Verständnis für das komplexe Haushaltssystem zu fehlen. So kann der Vorschlag des französischen Präsidenten von vergangener Woche für einen „New Deal“ Europas in Höhe von 1,2 Billionen Euro nur erstaunen, wenn man weiß, dass dies gut drei Milliarden mehr wären als der gesamte, gerade erst vereinbarte EU-Haushaltsplan für die Jahre 2014-2020. Ebenso erstaunlich war die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs im Juni 2013, für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit sechs Milliarden Euro bereit zu stellen, ohne dass aber mehr Geld in den EU-Haushalt fließen sollte. Wer je mit europäischen Programmen zu tun hatte, weiß, dass sie vieles können, nur nicht „schnell mal“ ein Problem lösen.
Im Ursprung waren die mehrjährigen Finanzrahmen eine sinnvolle Neuerung, um die Funktionsfähigkeit der EU (damals noch EG) sicherzustellen. Nachdem die ordnungsgemäße Aufstellung eines Gemeinschaftshaushaltes ab Ende der 70er Jahre mehrfach an Differenzen zwischen Europäischem Parlament (EP) und Rat gescheitert war, bot die Vereinbarung eines mehrjährigen Finanzrahmens eine Möglichkeit, die jährlichen Konflikte einzugrenzen und durch Paketlösungen den Verhandlungsspielraum zu erweitern. Zugleich leistete die Konstruktion aber zwei Entwicklungen Vorschub, die sich inzwischen als bedenkliche Erblast erweisen.
Zwangsjacke für die Reaktionsfähigkeit der EU
Zum einen entpuppt sich der Mehrjährige Finanzrahmen als Zwangsjacke für die Reaktionsfähigkeit der EU. Wo auf nationaler Ebene politische Prioritäten durch Regierung und Parlament definiert und auf dieser Grundlage der Haushalt entworfen wird, stößt jeder europäische Impuls spätestens bei der Finanzierung an seine Grenzen – siehe Initiative gegen Jugendarbeitslosigkeit. Hinzu kommt, dass sich durch die Verknüpfung der inhaltlichen Ausrichtung (insbesondere bei Agrar- und Strukturpolitik) mit dem Mehrjährigen Finanzrahmen ein System der Programmzyklen entwickelt hat, bei dem alle sieben Jahre große Teile der EU-finanzierten Maßnahmen auf neue Grundlagen gestellt werden. Nicht nur politisch werden neue Akzente gesetzt, auch technische Anforderungen werden geändert. Zwischen dem Ablauf der alten und dem Anlaufen der neuen Finanzierungsgrundlage müssen europarechtliche Vorgaben verhandelt und in allen Mitgliedstaaten entsprechende Umsetzungsakte bzw. Programme erstellt und von der Kommission genehmigt werden. Verfahren müssen neu entwickelt und erklärt werden, Anträge geschrieben und bewilligt werden. Das sorgt für Ungewissheit und irrationales Verhalten bei den beteiligten Akteuren. So wurde beispielsweise in einer Studie für die baltischen Staaten festgestellt, dass viele Unternehmen ab der zweiten Jahreshälfte 2013 Investitionen bewusst aufgeschoben haben, um die neue Programmperiode abzuwarten und ihre Investitionen entsprechend in die Förderlogik einzupassen. Ganz konkret bedeutet das für die Nutznießer von Zuwendungen, dass sie alle sieben Jahre erneut gespannt sein dürfen, ob sie in Zukunft noch förderfähig sind. Auswirkungen reichen bis in die Arbeitsverträge einzelner Mitarbeiter, die nur für die Dauer der Projektfinanzierung gelten.
Das Europäische Parlament hat schon in der Vergangenheit mehr Flexibilität im Mehrjährigen Finanzrahmen gefordert und dies auch zuletzt in begrenztem Maße durchgesetzt. Innerhalb eines Finanzrahmens kann somit besser auf die tatsächlichen Bedarfe reagiert werden. Ebenso wichtig wäre aber, über die Finanz- und Förderperioden hinweg für Verlässlichkeit zu sorgen. Neuausrichtungen der politischen Inhalte sollten sich nicht am Finanzrahmen festmachen sondern umgekehrt, der Finanzrahmen muss sich den politischen Prioritäten anpassen.
Widerstand der beitragsstarken Staaten
Diesen „bottom-up“-approach hat die EU-Kommission schon in der Vergangenheit propagiert, womit sie aber insbesondere bei den beitragsstarken Mitgliedstaaten auf Widerstand stieß. Damit kommen wir zur zweiten Erblast der mehrjährigen Finanzpakete: Die Mitgliedstaaten, insbesondere die reicheren, schätzen die großen Verhandlungspakete des Mehrjährigen Finanzrahmens nicht zuletzt aufgrund der Möglichkeit, mit „Deals“ zur Einigung zu gelangen. Die nächtelangen Ratssitzungen am Ende der Verhandlungen sind ja berühmt, ebenso wie das Beichtstuhlverfahren, die Anekdoten über Verhandlungen im Hinterzimmer und Sonderregelungen, die es den besonders sperrigen Partnern am Ende doch ermöglichen, dem Gesamtpaket zuzustimmen.
Man mag diesem „Basar“ einen gewissen dramaturgischen Charme abgewinnen, tatsächlich ist es aber ja ein Armutszeugnis, dass so über den Haushalt der EU verhandelt wird.
Man mag diesem „Basar“ einen gewissen dramaturgischen Charme abgewinnen, tatsächlich ist es aber ja ein Armutszeugnis, dass so über den Haushalt der EU verhandelt wird. Die wenigsten Bürgerinnen und Bürger dürften beeindruckt sein, wenn am Morgen danach übermüdete Staats- und Regierungschefs ihren Sieg in der nächtlichen Schlacht am Verhandlungstisch verkünden. Die nationalistische Haltung, die in diesem Verhandlungsmodus zutage tritt leistet jenem Euroskeptizismus Vorschub, den die versammelten pro-Europäer gegenwärtig gerne beklagen. Schlimmer noch: Es offenbart sich darin ein fundamentales Missverständnis europäischer Gemeinschaft. Denn die Grundannahme der Finanzverhandlungen nach geltendem Muster ist die Vorstellung, „was man selbst gibt, nutzt nur den anderen“. Dabei gehört zum kleinen Einmaleins der Europapolitik eben genau die Erkenntnis, dass die EU nicht ein solches Null-Summen-Spiel ist. Europäische Integration ist ein Positiv-Summen-Spiel. Das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelteile. Ein Beispiel: Griechenland erhält durch die Strukturfondsmittel Geld, unter anderem aus dem deutschen Anteil von rund 20 Prozent des EU-Haushaltes. Aus diesem Geld wird unter anderem der Bau eines Flughafens finanziert. Hauptauftragnehmer: Hochtief. Die Logik der Null-Summen-Spieler ist: Deutschland zahlt, Griechenland gewinnt. Die Wahrheit ist sehr viel komplexer. Denn Hochtief ist ein deutsches Unternehmen, die Arbeiter vor Ort und viele Subunternehmer sind vielleicht Griechen. Oder Italiener oder Schotten. Die fahren, dank ihres Gehaltes, vielleicht eher einen VW, als wenn es den Flughafenbau nicht gäbe. Deutschland mit seiner bedeutenden Exportwirtschaft verdient im Zweifelsfalle immer mit, wenn es Menschen im Ausland besser geht. Zugleich ist auch klar, dass der Flughafen der griechischen Wirtschaft zugute kommt und den Menschen, die dort leben. Am Ende haben alle gewonnen. Das ist europäischer Mehrwert, denn ohne die EU-Finanzierung wäre der Flughafen im Zweifelsfalle nie gebaut worden.
Die Logik der Null-Summen-Europäer
Die Logik der Null-Summen-Europäer schlägt sich besonders stark in der Fixierung vieler Mitgliedstaaten auf die Netto-Salden nieder: der Gegenüberstellung der Beiträge in den und Zuweisungen aus dem EU-Haushalt pro Mitgliedstaat, die von der EU-Kommission regelmäßig vorgelegt werden. Aus einer Null-Summen-Perspektive offenbaren die Netto-Salden, welcher Mitgliedstaat von der EU „profitiert“ und wer „verliert“. Die Kommission veröffentlicht diese Salden nicht aus eigenem Interesse, sondern ist hierzu gemäß einem Beschluss der Mitgliedstaaten verpflichtet. Als Verhandlungsbasis ist diese Aufstellung von Finanzflüssen aber äußerst irreführend, da sie den tatsächlichen Nutzen und die Kosten des gemeinsamen Haushaltes nicht korrekt wiedergibt. Das veranschaulicht das Beispiel des griechischen Flughafens. Wenngleich es unrealistisch erscheint, die Nettosalden in Zukunft nicht mehr zu veröffentlichen, so sollte doch zumindest erwogen werden, daneben eine Berechnung der tatsächlichen Finanzflüsse zu stellen.
Ein entsprechendes Gutachten der polnischen Regierung im Vorfeld der letzten Verhandlungen über den Finanzrahmen 2014-2020 ergab, dass Deutschland für jeden „investierten“ Euro rund 1,60 Euro zurückgewinnt. Über die genauen Zahlen lässt sich sicherlich streiten. Dennoch ist die grundsätzliche Erkenntnis für die zukünftigen Verhandlungen über den EU-Haushalt äußerst wichtig. Die zukünftige Kommission sollte deshalb versuchen, hierfür eine solide empirische Grundlage zu erarbeiten und das gemeinsame Verständnis des europäischen Mehrwerts zum zentralen Thema der Halbzeitüberprüfung des EU-Haushaltes zu machen.
Ziel sollte sein, dass die politischen Prioritäten den Haushalt gestalten und nicht umgekehrt.
Allzu schnell stehen im Mittelpunkt der europäischen Reformdiskussion immer wieder institutionelle Fragen, während sich die Funktionsfähigkeit häufig im technischen Detail entscheidet. Wer eine handlungsfähige EU möchte, der muss die Überprüfung des Mehrjährigen Finanzrahmens nutzen, um die notwendigen Handlungsspielräume zu schaffen und neue Akzente im gemeinsamen Diskurs zu setzen. Ziel sollte sein, dass die politischen Prioritäten den Haushalt gestalten und nicht umgekehrt. Klar sollte sein, dass es um den gemeinsamen Mehrwert geht und nicht um die rechnerische Summe der einzelnen Nettosalden. Das ist nicht nur eine Aufgabe für die Kommission und das Europäische Parlament. Deutschland als einer der großen Nettozahler kann hier wichtige Impulse setzen.
Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.