Seitdem auf europäischem Boden wieder Krieg herrscht, besinnt die Europäische Union sich wieder auf ihre geopolitischen Ambitionen und Potenziale. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie in Europa wieder eine sicherheitspolitische Nachkriegsordnung aufgebaut werden soll. Im letzten Jahr sind viele der Grundprinzipien, auf denen die globale Vision und das globale Handeln der EU aufbauen, ins Wanken geraten.

Die Union hat die Erfahrung gemacht, dass sie wegen ihrer strategischen Abhängigkeit – von der Wirtschaft über die Energie bis hin zur Verteidigung – negativen Rahmenbedingungen ausgesetzt ist und dass diese Abhängigkeit letztlich die europäische Integration gefährden kann. Die Spielräume der EU haben sich verkleinert, seit Russland zu einem Systemfeind geworden ist, China sich als wirtschaftlicher Konkurrent durchgesetzt hat und die Kritik der Länder des globalen Südens am EU-Modell immer lauter wird. Wenn die EU international glaubwürdig agieren will, liegt der Schlüssel dazu heute mehr denn je in ihrer Nachbarschaft. Um ihre globalen Ziele erreichen zu können, muss sie lernen, die Rolle eines regionalen politischen Akteurs zu übernehmen.

Die EU ist dabei, ihren Einfluss auf den europäischen Raum zu verlieren.

Doch das ist nicht gerade einfach. Die EU ist kein Archipel, und kein Ozean trennt sie von einigen der unruhigsten Regionen der Welt – ob vom Balkan oder der östlichen Nachbarschaft, vom Nahen Osten oder von Afrika. Zudem hat das Verhältnis der EU zu den Nachbarländern eine tiefgreifende und schwierige Entwicklung durchgemacht. Die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft, die zu Beginn des Jahrhunderts noch ein wichtiges außenpolitisches Instrument war, ist heute entweder unattraktiv (Vereinigtes Königreich) oder vergiftet (westlicher Balkan, Türkei), oder sie ist  ausgeschlossen (Nordafrika) oder liegt in zu weiter Ferne (Moldawien, Ukraine, Georgien). Im Laufe der Zeit hat die EU verschiedene Strategien entwickelt, um diese Länder einzubeziehen und an sich zu binden, aber Erfolg hatte sie damit wenig. Faktisch ist die EU dabei, ihren Einfluss auf den europäischen Raum zu verlieren. Dadurch entsteht ein politisches Vakuum, das schnell von anderen Akteuren gefüllt wird und Konflikte und Krisen schürt.

Gefragt ist also eine neue, politisch überzeugende Initiative für ein Comeback der EU als Regionalmacht. Der Spielraum dafür ist vorhanden. Könnte die neue Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) solch ein ambitioniertes Projekt sein? Das lässt sich nach der ersten Zusammenkunft am 6. Oktober in Prag noch nicht sagen. 44 Länder, davon 27 EU-Mitgliedsstaaten und 17 Partnerländer wie das Vereinigte Königreich und die Türkei, versammelten sich am Vortag des informellen Gipfels, der von der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft einberufen worden war.

Kann die Europäische Politische Gemeinschaft ein Comeback der EU als Regionalmacht sein?

Angesichts der russischen Offensive in der Ukraine war das eine hervorragende Gelegenheit für ein Gruppenfoto und ein deutliches Zeichen des Zusammenhalts der europäischen Familie. Zwei Themen standen auf der Tagesordnung: Energie und Sicherheit/Stabilität. Es gab sogar ein zwar begrenztes, aber doch konkretes erstes Ergebnis, das durch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron zustande kam. Eine zivile EU-Mission soll an die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan entsandt werden, um den Weg für eine Normalisierung der konfliktreichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu bereiten, die durch Russlands gewalttätiges Vorgehen gegen die Ukraine weiter zerrüttet werden. Außerdem wurde vereinbart, in sechs Monaten in der Republik Moldau und nach weiteren sechs Monaten im Vereinigten Königreich erneut zusammenzukommen.

In mancherlei Hinsicht ist dies ein überraschendes Ergebnis. Die von Macron am Europatag (9. Mai) angeschobene Initiative hat sich in einem für europäische Verhältnisse atemberaubenden Tempo entwickelt. Die europäischen Institutionen und einige europäische Staats- und Regierungschefs, darunter auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, begrüßten die Initiative und gaben ihr in der Folge neue Impulse.

Sicherlich haben der eskalierende Krieg in der Ukraine und das darauf folgende Angebot an die Ukraine und die Republik Moldau, den Status eines Beitrittskandidaten zu erhalten, den Prozess entscheidend vorangetrieben. Beschleunigend wirkte dabei die Notwendigkeit, auf die Bürgerinnen und Bürger zu reagieren, die auf der Konferenz zur Zukunft Europas ihre Präferenzen für ihren Kontinent formuliert haben. Außerdem haben die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im Vereinigten Königreich nach dem Brexit dazu beigetragen, dass die neue Premierministerin Liz Truss sich dazu bewegen ließ, an dem Treffen der europäischen Familie teilzunehmen.

Die EPG soll kein Ersatz für die EU-Erweiterung sein.

Die Initiatoren des Vorhabens mussten einige Kernpunkte klären und das Konzept in Teilen ändern, um es für die wichtigsten Partner attraktiv zu machen. Die EPG soll kein Ersatz für die EU-Erweiterung sein, wie von einigen der westlichen Balkanländer und östlichen Partner befürchtet. Sie wird auch nicht institutionalisiert werden, da dies insbesondere das Vereinigte Königreich von einer Teilnahme abgehalten hätte. Außerdem soll es keine Überschneidungen mit anderen gesamteuropäischen Organisationen geben, insbesondere nicht mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und dem Europarat.

All dies machte das inklusive Format des Gipfels in Prag möglich, an dem 44 Staats- und Regierungschefs teilnahmen. Die Klärung von Schlüsselfragen wird jedoch nicht ausreichen, um die Europäische Politische Gemeinschaft  zu einer wirksamen und nachhaltigen Initiative zu machen, die das Rückgrat der geopolitischen Zukunft Europas bilden kann. Nur wenn wir ihre Ziele klar definieren, werden wir das Format und die Mitgliedschaft entsprechend anpassen können – nicht umgekehrt.

Die EPG verfolgt vor allem zwei Ziele.

Die EPG verfolgt vor allem zwei Ziele. Zum einen will sie einen politischen Aktionsraum schaffen, um die Nachbarn der EU an sich zu binden. Dann könnte allerdings die fehlende Institutionalisierung zum Problem werden. Wenn die EU das Ruder in die Hand nehmen und eine Nationalisierung des Vorhabens vermeiden will, sollten die Institutionen in Brüssel bei der Aufstellung der Agenda und der Gewährleistung ihrer Weiterverfolgung eine Schlüsselrolle spielen.

Darüber hinaus kann nur der Zugang zu EU-Institutionen, die eine Entscheidungsfunktion haben, den Partnerländern einen Mehrwert bieten. Erste Vorschläge gibt es bereits: Treffen im Vorfeld von EU-Gipfeltreffen, die auf die Partnerländer ausgeweitet werden, und ein parlamentarisches Forum, das sich aus Vertreterinnen und Vertretern des Europäischen Parlaments und der Parlamente der Partnerländer zusammensetzt. In diesem Szenario sollte das Kriterium für den Beitritt zur EPG das Bekenntnis zu den Grundwerten der EU sein, einschließlich der Achtung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.

Man könnte die EPG auch nutzen, um die europäische Familie gegen Russland zu mobilisieren und zu versuchen, dringende Probleme und längerfristige Sicherheitsfragen anzugehen. Interessen, die über gemeinsame Werte und Regeln hinausgehen, würden dann eine gemeinsame Plattform bilden. Der in Prag gewählte informelle zwischenstaatliche Rahmen wäre hierfür geradezu ideal, denn er ermöglicht ein flexibles Format und eine große Mitgliederzahl. Doch auch wenn dieser Rahmen den aktuellen Dringlichkeiten sehr entgegenkommt, ist er als Modell für spätere Phasen weniger geeignet. Es ist schwer vorstellbar, wie sich die EPG von einem ersten Informationsaustausch über die Ukraine zu einer für die Zukunft Europas bedeutsamen Initiative entwickeln könnte.

Derzeit gibt es also keine einheitliche, klare und langfristige Perspektive, und es wird eine Herausforderung sein, ohne eine formale Struktur für eine Interessenübereinstimmung zwischen 44 Staaten und ein entsprechendes Follow-up zu sorgen. Ob die EU gut beraten ist, eine Initiative auf dem europäischen Kontinent zu unterstützen, die sie nicht kontrollieren kann – da sie eine gleichberechtigte Beteiligung aller Staaten befürwortet und eine Führungsrolle der EU-Fraktion ausschließt –, ist ebenfalls fraglich.

Es gibt aber noch eine dritte Möglichkeit: In Verbindung mit der Agenda der EU-Gipfel wird der zwischenstaatliche Rahmen der EPG als politisches Forum genutzt, um die wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Fragen zwischen der EU und den Partnerländern zu diskutieren. Denkbar wären zum Auftakt sichtbare und konkrete Projekte, die von verschiedenen Gruppen von Mitgliedern mit Unterstützung der EU-Institutionen vorgelegt und umgesetzt werden können.

Ein Ausgangspunkt dafür könnte ein Next Generation Ukraine-Paket sein, um die ukrainische Resilienz und den künftigen Wiederaufbau zu unterstützen. Damit könnte die EU weiterhin das Steuer in der Hand behalten und gleichzeitig sicherstellen, dass das Format nachhaltig und die Mitgliedschaft inklusiv ist – auch wenn einige Partner wegfallen sollten. Die wichtigste Aufgabe der EU ist es jetzt, eine klare Vorstellung davon zu entwickeln, was für sie auf dem Spiel steht und wozu die EPG da ist. Ohne eine klare Ausrichtung können selbst die vermeintlich klügsten politischen Erfindungen zum Fehlschlag werden.

Dies ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Aus dem Englischen von Christine Hardung