In der Eurozone wächst die Angst vor fallenden Preisen – vor Deflation. Im März stiegen die Verbraucherpreise im Euroraum um lediglich 0,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und auch für April schätzt die Europäische Zentralbank (EZB) die Inflationsrate auf nur 0,7 Prozent. Seit Monaten liegt die Preissteigerungsrate damit weit unterhalb des von der EZB angestrebten Werts von knapp zwei Prozent. In fünf Ländern der Eurozone sinken die Preise sogar.
Was für Verbraucher oder Sparer auf den ersten Blick erfreulich klingen mag, birgt erhebliche Gefahren für die wirtschaftliche Entwicklung. Denn fallende Preise könnten dazu führen, dass Verbraucher und Unternehmen größere Anschaffungen und Investitionen in die Zukunft verschieben. Selbst wenn die Preise durchschnittlich steigen, aber nur mit einer sehr niedrigen Rate (wie derzeit), kann das negative Folgen haben. Denn dann steigt die reale Schuldenlast, bestehende Verbindlichkeiten werden sozusagen „mehr wert“. Es wird immer schwieriger, bestehende Schulden aus den laufenden Einkommen zu bedienen.
Die Politik muss endlich gegensteuern, um die Wirtschaft anzukurbeln. Nur so kann die Gefahr von Deflation bekämpft und ein Rückfall in die Rezession verhindert, nur so können Arbeitsplätze geschaffen werden.
Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung (IMK) hat in einer aktuellen Studie herausgearbeitet, welche Folgen eine dauerhaft niedrige Inflationsrate haben könnte: Derzeit erwartet die EZB – trotz der aktuellen Entwicklung – langfristig eine Preissteigerungsrate von 1,9 Prozent. Sollten die Inflationserwartungen um einen Prozentpunkt, auf 0,9 Prozent sinken, würde die deutsche Wirtschaft 2014 nur um 1,2 Prozent wachsen, anstatt der bislang vom IMK erwarteten 1,6 Prozent.
Für das IMK ist auch klar: Die niedrige Inflation ist „Resultat stark unterausgelasteter Produktionskapazitäten“. Diese Unterauslastung zeigt sich zum Beispiel in der nach wie vor extrem hohen Arbeitslosigkeit in Europa. In Griechenland beträgt die Arbeitslosenquote schließlich fast 28 Prozent, in Spanien 26, in der Eurozone immer noch rund 12 Prozent.
Deshalb muss die Politik endlich gegensteuern, um die Wirtschaft anzukurbeln. Nur so kann die Gefahr von Deflation bekämpft und ein Rückfall in die Rezession verhindert, nur so können Arbeitsplätze geschaffen werden. Die EZB hat das zum Teil erkannt und einen expansiven Kurs in der Geldpolitik eingeschlagen – der Leitzins wurde auf nie dagewesene 0,25 Prozent gesenkt. Auch zusätzliche geldpolitische Maßnahmen hält die EZB immerhin explizit für möglich. Das könnte Investitionsbedingungen verbessern und deflationäre Tendenzen bekämpfen.
An anderer Stelle macht die EZB allerdings genau das Gegenteil: Als Mitglied der Troika trägt sie zusammen mit EU-Kommission und IWF dazu bei, dass in den Krisenländern Staatsausgaben und Löhne gedrückt werden. Die Folge: Nachfrage und Wirtschaftsleistung sind eingebrochen, die Preise sinken.
Um aus der Krise herauszukommen und eine wirklich stabile wirtschaftliche Erholung zu erreichen, brauchen wir einen Kurswechsel: Die Nachfrage muss gestärkt werden, damit Unternehmen wieder Aufträge erhalten, die Wirtschaft wächst und Arbeitsplätze geschaffen werden. Anstatt die Eurozone tiefer in die Krise und in eine Deflation „zu sparen“ brauchen wir eine Ausweitung der Investitionen.
Deshalb schlägt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) einen auf zehn Jahre angelegten neuen „Marshallplan für Europa“ vor. Eine Investitionsoffensive von jährlich 260 Milliarden Euro, also zwei Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts, soll nicht nur die notwendigen Impulse für wirtschaftliches Wachstum bringen, sondern auch die langfristigen Grundlagen für wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftliche Modernisierung Europas schaffen.
Ziele der Investitionsoffensive
Denn der Investitionsbedarf ist in vielen Bereichen groß: Um den Klimawandel zu bekämpfen und den CO2-Ausstoß wirksam zu senken, bräuchte es in Europa Investitionen in Höhe von jährlich 150 Milliarden Euro in erneuerbare Energien, neue Netze und energetische Gebäudesanierung. Um eine nachhaltige Verkehrsinfrastruktur in Europa zu schaffen, wären Investitionen in Höhe von 10 Milliarden Euro notwendig. 30 Milliarden Euro jährlich schaffen angemessen ausgestattete Kindertagesstätten, Universitäten und Schulen in Europa. 20 Milliarden Euro wären nötig, um die Voraussetzung für gute Dienstleistungen zu schaffen – etwa für die Modernisierung von öffentlichen Krankenhäusern, für Investitionen in den Bereichen Altenpflege oder Jugend- und Sozialarbeit, aber auch im Bereich der Entwicklung zukunftsfähiger privater Dienstleistungen. Weitere 20 Milliarden Euro sollen nach Ansicht des DGB jährlich in die Schaffung von altersgerechtem Wohnraum, bzw. entsprechender Infrastruktur, in eine nachhaltige Wasserbewirtschaftung – etwa zur Reduzierung des Wasserverbrauchs – und in einen flächendeckenden Ausbau der Breitbandinfrastruktur fließen.
Bislang haben die Reformen vor allem dazu beigetragen, den Druck auf Arbeitnehmerrechte und Löhne zu erhöhen.
Ein Großteil der bisherigen Anti-Krisenpolitik von EU-Kommission, EZB und anderen zielt darauf ab, „Strukturreformen“ zur Steigerung der „Wettbewerbsfähigkeit“ durchzusetzen. Bislang haben diese Reformen vor allem dazu beigetragen, den Druck auf Arbeitnehmerrechte und Löhne zu erhöhen. So erodieren beispielsweise die Tarifsysteme in den südlichen Staaten aufgrund von Auflagen der Troika und EU-Empfehlungen: In Griechenland gab es 2010 noch 65 Flächentarifverträge, heute sind es nur noch 14. In Spanien arbeiten statt 12 Millionen heute nur noch 4,6 Millionen Beschäftigte mit Flächentarifvertrag. Die Reallöhne in Griechenland sanken zwischen 2010 und 2013 um 23 Prozent, in Spanien und Portugal jeweils um 7 Prozent. Das drückt die Kaufkraft und die Nachfrage und lässt ganze Wirtschaftsbereiche einbrechen. Viele gut qualifizierte Arbeitskräfte verlassen mangels Aussicht auf einen guten Job ihre Heimatländer.
Auf diese Weise lassen sich keine wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstrukturen schaffen – im Gegenteil, so wird die Wirtschaft langfristig geschwächt. Was stattdessen nötig wäre, ist der systematische Auf- und Ausbau industrieller Strukturen in strukturschwachen Regionen Europas. Zulagen und zinsgünstige Kredite in Höhe von jährlich 30 Milliarden Euro könnten private Investitionen in diesem Bereich fördern und zudem Erhalt und Modernisierung bestehender industrieller Strukturen in anderen Ländern unterstützen.
Wir brauchen einen europäischen Zukunftsfonds
Geld für all diese Zukunftsaufgaben ist genug da: Wegen der Finanzkrise und der anhaltenden Niedrigzinsphase suchen viele – auch institutionelle – Anleger nach wie vor nach sicheren Anlagemöglichkeiten. Der DGB schlägt deshalb vor, einen „Europäischen Zukunftsfonds“ zu schaffen, der vom Europäischen Parlament kontrolliert wird. Dieser Fonds gibt verzinsliche Anleihen aus und schafft so Anlagemöglichkeiten. Zins- und Tilgungszahlen sollen aus den Einnahmen einer einzuführenden Finanztransaktionssteuer kommen. Das notwendige Eigenkapital des Fonds soll durch eine einmalige Vermögensabgabe aufgebracht werden.
Ein so gestalteter europäischer Marshallplan könnte die EU-Wirtschaftsleistung um rund 400 Milliarden Euro pro Jahr erhöhen – eine gute Grundlage für 9 bis 11 Millionen zusätzliche Vollzeitjobs und zusätzliche Einnahmen an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen.
Eine solche Investitionsoffensive, die sich an den tatsächlichen Bedarfen in den verschiedenen EU-Mitgliedsländern orientiert, wäre zudem eine wirklich gesamteuropäische Strategie gegen die Krise und für einen Erhalt der Zukunftsfähigkeit Europas. Deshalb hat jetzt auch der Europäische Gewerkschaftsbund unter der Überschrift „Ein neuer Weg für Europa“ („A New Path for Europe“) ein ganz ähnliches Projekt zum Kernpunkt einer Kampagne gemacht. Denn eines machen die anhaltenden wirtschaftlichen Risiken in der EU klar: Europa muss endlich einen neuen Pfad einschlagen – einen, der zu Wachstum führt, nicht zu Schrumpfung.