Im März schrieb EU-Ratspräsident Charles Michel einen Meinungsbeitrag, der in diversen europäischen Zeitungen abgedruckt wurde: Die Europäische Union müsse sich „auf Krieg vorbereiten“. Diese Sichtweise ist typisch für die weit verbreitete Auffassung der „Pro-Europäer“, dass sich die EU entweder bereits verändere oder aber sich verändern müsse. Bei dieser Frage, wie sich die EU als Reaktion auf die russische Aggression bereits verändere oder eben verändern müsse, idealisieren diese Menschen allerdings die Geschichte der EU als „Friedensprojekt“. Es zeigt sich, wie „Pro-Europäer“ dazu neigen, die EU zu idealisieren – selbst wenn sie deren aktuellen Zustand kritisieren.

Es scheint derzeit Konsens darüber zu bestehen, dass die EU „in den Modus der Kriegswirtschaft übergehen muss“, wie es Binnenmarktkommissar Thierry Breton ausdrückte. Der Chef des European Council on Foreign Relations, Mark Leonard, schrieb sogar, die Union müsse von einem Friedens- zu einem „Kriegsprojekt“ werden. Natürlich heißt das für Leute wie Breton und Leonard nicht, dass die EU damit nicht länger behaupten könnte, für Frieden zu stehen, wenn die Union zu einem solchen Kriegsprojekt würde. Die (etwas Orwell’sche) Logik ist vielmehr, dass im Namen des Friedens gegebenenfalls Krieg geführt werden muss.

In Wirklichkeit haben die Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg nie den Krieg im Allgemeinen abgelehnt, sondern nur Krieg untereinander.

Das Problem mit dieser Vorstellung eines Wandels vom Friedens- zum Kriegsprojekt (wobei die EU weiterhin von sich selbst glaubt, für Frieden zu stehen) ist, dass sie die Geschichte der EU als vermeintliches Friedensprojekt idealisiert. In Wirklichkeit haben die Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg nie den Krieg im Allgemeinen abgelehnt, sondern nur Krieg untereinander. In der „pro-europäischen“ Vorstellungswelt hat sich die spezifische Ablehnung militärischer Gewalt gegen andere EU-Mitgliedstaaten zu der Annahme gewandelt, die Europäer seien insgesamt und geradezu einzigartig friedlich.

Als der damalige französische Außenminister Robert Schuman 1950 seine berühmte Erklärung vorlegte – der Startschuss für die Idee einer Europäischen Gemeinschaft als Friedensprojekt –, führte Frankreich gerade einen brutalen Kolonialkrieg in Indochina. Auch als die Römischen Verträge 1957 unterzeichnet wurden, führte Frankreich einen Kolonialkrieg, diesmal in Algerien (und einen weiteren in Kamerun, wie Thomas Deltombe und andere dokumentiert haben). Selbst in der Zeit nach dem Kalten Krieg waren die EU-Staaten durchaus bereit, militärische Gewalt einzusetzen. Dies haben sie auch getan, und zwar häufiger als beispielsweise China. Dennoch bildeten sich die Europäerinnen und Europäer weiterhin ein, sie seien einzigartig friedlich.

Das europäische Projekt hatte schon immer externe Feinde, gegen die man sich abgrenzte.

Wenn die EU für Frieden steht, dann sollten wir diesen Frieden – in Anlehnung an Tyler Stovalls Konzept einer „weißen Freiheit“ – als „weißen Frieden“ betrachten. Das bedeutet: Frieden im Inneren und untereinander, aber nicht zwingend nach außen, mit dem Rest der Welt. In diesem Sinne ist die Mobilisierung für einen Krieg gegen Russland gar nicht so ein Bruch mit der Geschichte der EU, wie die „Pro-Europäer“ Michel und Leonard behaupten. Schließlich hatte das europäische Projekt immer externe Feinde, gegen die man sich abgrenzte. In den 1950er Jahren stellte man sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft beispielsweise als ein christlich-zivilisatorisches Bollwerk gegen eine „asiatisch-östliche“ Sowjetunion vor.

Es stimmt, dass sich vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine nun die Rolle der EU in militärischen Konflikten verändert – zum Beispiel durch die Schaffung der sogenannten Europäischen Friedensfazilität (EFF). Sie wurde 2021 gegründet, aber erst nach der russischen Invasion zum ersten Mal für die Lieferung von Waffen an ein Drittland genutzt. Die EFF ist jedoch eine eher verfahrenstechnische Änderung der Art und Weise, wie die EU-Staaten kollektiv Waffen liefern. Mit Blick auf militärische Stärke verändert das Programm zwar die Rolle der EU-Institutionen, aber nicht die EU als Ganzes (sprich: ihre Entscheidungen als Kollektiv aus 27 Mitgliedstaaten).

Die europäische Sicherheit wird nach wie vor größtenteils durch die NATO gewährleistet und nicht durch die EU.

Wie dem auch sei, die europäische Sicherheit wird nach wie vor größtenteils durch die NATO gewährleistet – deren Rolle durch den Krieg in der Ukraine eher noch gestärkt wurde – und nicht durch die EU. Trotz des Hypes um ein „geopolitisches Europa“ bleibt die Rolle der EU in Sachen Verteidigung hauptsächlich eine wirtschaftliche, sei es durch die Koordinierung von Sanktionen oder durch die Förderung der Rüstungsindustrie in den EU-Mitgliedstaaten. So erscheinen die aktuellen Veränderungen weniger bedeutsam.

Bis Februar 2022 gab es innerhalb der EU kaum Einigkeit darüber, ob Russland und/oder die Ukraine zur EU passen. So sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf dem G7-Gipfel in Biarritz 2019, dass „Russland voll und ganz in ein Werte-Europa gehört“. Umgekehrt hatten viele Zweifel, ob die Ukraine Teil der EU werden sollte. In den vergangenen zwei Jahren hat sich jedoch ein eindeutiger Konsens herausgebildet: Die Ukraine gehört dazu, Russland nicht.

Die EU verändert sich und entwickelt sich weiter, so, wie sie es immer getan hat: Die europäische Integration ist nun einmal ein Prozess. Da „Pro-Europäer“ aber die Geschichte der EU als die eines Friedensprojekts idealisieren, stellen sie den aktuellen Wandel falsch dar. Was sich ändert, ist nämlich nicht so sehr, dass die EU zu einem „Kriegsprojekt“ wird, sondern vielmehr, dass sie deutlicher definiert, wer dazugehört oder dazugehören kann – und wer nicht.

Aus dem Englischen von Tim Steins