In den zehn Jahren vor der COVID-19-Pandemie war das wirtschaftspolitische Handeln der EU mit vielerlei Problemen behaftet. Die Eurozone hatte ein System aus Sparpolitik und Strukturreformen errichtet; sie „regierte mit Regeln und regelte mit Zahlen“, stützte sich aber auf die falschen Regeln und die falschen Zahlen. Das zog eine, wie ich es genannt habe, „Legitimitätskrise“ der EU nach sich, denn der Fokus auf Verfahrensregeln resultierte in einer schlechten Wirtschaftsleistung und einer zunehmend spalterischen Politik.

Zum Glück lassen die Pandemiemaßnahmen der EU auf einen Neubeginn schließen. Hervorzuheben sind besonders das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) der Europäischen Zentralbank, der Aufbaufonds Next Generation EU der Europäischen Kommission, der neben Investitionen in den klimabedingten Wandel und die digitale Transformation auch Maßnahmen gegen soziale Ungleichheit vorsieht, sowie der Aufbau- und Resilienzplan (RRF), der Investitionen für bedürftige Länder bereitstellen soll.

Diese Programme sind enorme Errungenschaften, die einen klaren Bruch mit der Vergangenheit erkennen lassen. Doch um die Zukunft der europäischen Wirtschaft zu sichern, muss noch deutlich mehr geschehen. Mit den neuen Ideen gewinnen in der EU und in den Mitgliedsstaaten auch die „staatlichen“ Akteure an Bedeutung: als öffentliche Unternehmer, die Wachstum fördern und Investitionen für eine klimafreundliche Wirtschaft, die Digitalisierung der Gesellschaft und größere soziale Gleichheit bereitstellen.

Zur Unterstützung muss nun die dauerhafte Möglichkeit einer Schuldenaufnahme auf EU-Ebene entwickelt werden, über die allen Mitgliedsstaaten regelmäßig Investitionsgelder zur Verfügung gestellt werden können.

Mit dem Wiederaufbaufonds Next Generation EU und dem temporären Aufbau- und Resilienzplan macht die EU einen gewaltigen Schritt nach vorn. Zur Unterstützung muss nun die dauerhafte Möglichkeit einer Schuldenaufnahme auf EU-Ebene entwickelt werden, über die allen Mitgliedsstaaten regelmäßig Investitionsgelder zur Verfügung gestellt werden können. Vorstellbar ist ein dauerhafter Aufbau- und Resilienzplan in Form eines EU-Investitionsfonds – vergleichbar einem nationalen Staatsfonds –, der Anleihen an die globalen Märkte ausgibt, um über Zuschüsse an die Mitgliedsstaaten in Bildung, Ausbildung und Sozialhilfe sowie in die Ökologisierung der Wirtschaft, die digitale Kommunikation und große Infrastrukturprojekte zu investieren.

Mit einem solchen Instrument könnte man auf EU-Ebene auch umverteilen und in grenzüberschreitende Maßnahmen investieren. Dafür könnten verschiedenste innovative EU-Fonds eingerichtet werden, etwa einer für die Arbeitslosen-Rückversicherung, einer für die Flüchtlingsintegration (zugunsten von Ländern, die besonders viele Asylsuchende aufnehmen), einer für gerechte Mobilität (und gegen den Braindrain) und sogar einer für die Linderung von Armut.

Gleichzeitig sollte sich die Europäische Zentralbank nicht mehr fast ausschließlich um ihre primären Zielen kümmern, sondern stärker auch die sekundären ins Auge fassen. So könnte sie etwa dem Kampf gegen die Inflation die Vollbeschäftigung an die Seite stellen. Sie könnte den „neutralen“ Aufkauf von Anleihen beenden (also beispielsweise keine Anleihen klimaschädlicher Industrien mehr erwerben), umweltfreundliche Anleihen auflegen oder sogar sogenanntes „Helikoptergeld“ schöpfen, um notleidende Haushalte direkt zu unterstützen. Schließlich wäre es auch überaus hilfreich, eine sichere Anlage zu schaffen und gleichzeitig das Problem des nationalen Schuldenüberhangs zu lösen (da die Umschuldung für einzelne Länder nicht möglich ist), indem der Europäische Stabilitätsmechanismus einen Teil der von der EZB gehaltenen Staatsanleihen aufkauft.

Öffentliche Investitionen, die der nächsten Generation zugutekommen sollen, dürfen nicht unter dem Blickwinkel des Haushaltsdefizits und des Schuldenstandes berechnet werden.

Die nächste Frage lautet, wie man diese neuen industrie- und sozialpolitischen Initiativen zum Erfolg führen kann. Das ideale Vehikel für Aufsicht und Unterstützung ist das Europäische Semester, also der jährliche Zyklus für die Koordinierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Voraussetzung wäre allerdings die Neuausrichtung der Ziele und Regeln. Die auf Spar- und Reformmaßnahmen ausgerichteten „Regeln und Zahlen“ sollten dauerhaft abgeschafft und durch so etwas wie „fiskalische Standards“ ersetzt werden, damit Nachhaltigkeit im Kontext bewertet werden kann.

Gelingt das nicht, muss ein deutlich flexibleres Regelwerk entwickelt werden, mit einem Schwerpunkt auf antizyklischer Wirtschaftspolitik. Der jeweilige Stand der einzelnen Mitgliedsstaaten im Geschäftszyklus in Hinblick auf Haushaltsdefizit und Schulden, Wachstumsaussichten und Investitionsziele muss dabei differenziert bewertet werden.

Darüber hinaus dürfen öffentliche Investitionen (in Industrie und Soziales), die der nächsten Generation zugutekommen sollen, nicht unter dem Blickwinkel des Haushaltsdefizits und des Schuldenstandes berechnet werden (die Goldene Regel für öffentliche Investitionen). Im aktuellen Umfeld extrem niedriger Zinsen und einer umfänglichen quantitativen Lockerung könnte man öffentliche Schulden sogar ignorieren, wenn sie nachhaltig sind (das heißt, wenn der Staat Kredite zu einem Zinssatz aufnehmen kann, der unter der durchschnittlichen Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts liegt).

Sobald die Pandemie vorüber und eine gewisse Normalität eingekehrt ist, dürften sich die Verfechter der Austeritätspolitik wieder zu Wort melden.

Bei der Umsetzung dieser neuen Ideen stehen der EU potenziell zahlreiche Hindernisse und Stolpersteine im Weg. Der Europäische Rat ist nach wie vor gespalten; besonders die sogenannten Sparsamen Vier Plus bestanden auf einer zeitlichen Befristung des Aufbau- und Resilienzplans und lehnten jegliche Zuschüsse ab. Wenn dieser Plan kein Wachstum generiert oder wenn die zusätzlichen Investitionen in den wichtigsten Nehmerländern (Italien und Spanien) nicht sinnvoll eingesetzt werden, wird der Enthusiasmus spürbar nachlassen, und die Chancen für einen dauerhaften Fonds sinken. Sobald die Pandemie vorüber und eine gewisse Normalität eingekehrt ist, dürften sich zudem die Verfechter der Austeritätspolitik wieder zu Wort melden.

Vor dem Hintergrund der anstehenden Wahlen und einem intensiven Wahlkampf in Deutschland und später auch in Frankreich – von anderen Ländern ganz zu schweigen – könnte die künftige Politik des Europäischen Rates darüber entscheiden, ob die dargestellten Ideen weiter verfolgt werden. Es macht sich bereits eine gewisse Pandemiemüdigkeit breit, und die Unzufriedenheit mit den aktuellen Regierungen wegen der anhaltenden Lockdown-Maßnahmen und der schleppenden Impfkampagne nimmt zu.

Die wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Hindernisse und Stolpersteine erfordern flexibles Denken, nicht nur in Hinblick auf die künftige Wirtschaftspolitik der Eurozone, sondern auch in Bezug auf die Zukunft der EU selbst. Wie lassen sich angesichts der bestehenden politischen Differenzen zwischen Mitgliedsstaaten und der institutionellen und rechtlichen Hindernisse die dargestellten Ideen umsetzen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mitgliedsstaaten im Gleichschritt wie auch immer geartete „Vereinigte Staaten von Europa“, eine stark integrierte „echte Sozial- und Wirtschaftsunion“, oder gar einen „harten Kern“ rund um die Eurozone ansteuern.

Vielmehr müssen wir die Integration differenzierter denken. Ich stelle mir eine solche Differenzierung gern als ein Europa des „weichen Kerns“ vor, das aus überlappenden Gruppen europäischer Länder besteht.

Vielmehr müssen wir die Integration differenzierter denken. Ich stelle mir eine solche Differenzierung gern als ein Europa des „weichen Kerns“ vor, das aus überlappenden Gruppen europäischer Länder besteht. Diese beteiligen sich an verschiedenen politischen Gemeinschaften innerhalb der EU, die jeweils von denselben EU-Institutionen verwaltet werden. Alle Mitgliedsstaaten können in jeder Gemeinschaft ihre Stimme erheben, jedoch nur dort, wo sie aktiv partizipieren, ihre Stimme abgeben.

Die Eurozone ist nur eine von vielen Gemeinschaften, und sogar sie müsste weiter differenziert werden. So könnten wir uns beispielsweise den Fall vorstellen, dass einige Mitgliedsstaaten die Einrichtung eines permanenten Fonds blockieren, andere ihn jedoch durchsetzen wollen und sich mittels verstärkter Zusammenarbeit auf die Einzahlung von Geldmitteln in ein EU-Budget einigen. Nur die Vertreter dieser Staaten könnten dann über das Budget und seine Verwendung entscheiden, auch wenn alle mitdiskutieren dürfen (es gäbe also kein separates Eurozonen-Parlament, sondern separate Abstimmungen für Europaparlamentarier in einer vertieften Haushaltsunion).

In den Kernverpflichtungen der EU in Sachen Rechtsstaatlichkeit ist eine Differenzierung allerdings ausgeschlossen. Die EU muss ohnehin mehr tun, um Repräsentation und Partizipation der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Besonders in der Eurozone müsste das zumindest durch eine stärkere Beteiligung des Europaparlaments über das Mitentscheidungsverfahren sowie der nationalen Parlamente im Rahmen des Europäischen Semesters geschehen. Auch die EZB würde davon profitieren, wenn Rechenschaft und Transparenz gefördert und das Prozedere demokratisiert würde. Eine Verbesserung der Rechenschaft gegenüber dem Europäischen Parlament ließe sich unter anderem erreichen, indem Dialoge zwischen Zentralbank und Parlament vorgeschrieben werden.

Wenn die Verträge für die Eurozone in einfache Gesetze überführt würden, so ließe sich damit der Stillstand beenden, der eine Änderung solcher Gesetze derzeit verhindert (wegen des Einstimmigkeitsprinzips). Damit könnten diese Gesetze politisch debattiert und potenziell auch verändert werden. Das Europäische Parlament müsste allerdings Mittel und Wege finden, auch die nationalen Parlamente besser in die Entscheidungsfindung auf EU-Ebene einzubinden. Und die EU als Ganzes muss auf allen Ebenen neue Formen der Bürgerbeteiligung auf den Weg bringen.

Aus dem Englischen von Anne Emmert