Am kommenden Wochenende finden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt und es wird allgemein angenommen, dass diese nicht gut ausgehen. Rechte, ultrarechte und rechtsextreme Parteien werden in vielen Mitgliedsländern an Boden gewinnen. Damit wird sich auch die Machtbalance im Parlament sowie in den anderen EU-Institutionen verändern. Im Grunde läuft schon der Wahlkampf „nicht gut“: Alles starrt derzeit auf die Rechtsparteien. Eine Woge des Rechtspopulismus hat den Kontinent erfasst und dies hat Auswirkungen auf die Ordnung der Diskurse. Die Zuspitzung lautet zumeist: antieuropäische Parteien versus proeuropäische Parteien. Unter „proeuropäisch“ wird alles subsumiert, was nicht antieuropäisch ist, also alles von den Sozialdemokraten über die Christdemokraten, die Liberalen, die Grünen bis hin zu den meisten akzentuierteren Linksparteien. Dies nivelliert faktisch alle anderen Differenzen und macht die Debatte nicht gerade klüger.
Klar, schon in der Vergangenheit waren Europawahlen nicht immer geprägt vom Streit um die verschiedenen Politikkonzepte sowie um die Richtung, in die sich die EU entwickeln soll. Ohnehin wird die Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger eher durch die Kontroversen auf der nationalen Ebene – wie die Frustration über die Regierungsparteien – motiviert und eher selten durch deren europapolitische Grundausrichtung. Häufig verbleibt die Debatte jedoch mittlerweile auf der Ebene von Slogans und der Jargonhaftigkeit. Man sei etwa gegen das „Europa der Konzerne“ oder gegen den „Neoliberalismus in Europa“. Nur wenige haben dabei mitbekommen, dass in der Europäischen Union in den letzten Jahren ordentlich etwas vorangegangen ist. Vieles hat sich zum Besseren verändert, wenn auch langsam und mühselig.
Der Unterschied ist frappierend, vergleicht man den heutigen „Zeitgeist“ und die Politik der letzten Jahre etwa mit dem Beginn der 2010er Jahre. Schon bald nach Beginn der Finanzmarktkrise schaltete die Europäische Union auf eine brutale Austeritätspolitik um. Besonders betroffene Länder wurden gemaßregelt und ihnen wurde ein Sparkurs verordnet, der diese Länder um Jahre zurückwarf. In der Eurozone führte dies zu beinahe zehn Jahren Stagnation. Das Gegeneinander der Nationen zerriss die Union beinahe. Üble nationalkulturelle Zungenschläge vergifteten die Europäische Union, oft war von „faulen Südländern“ auf der einen Seite sowie „fleißigen“ und „sparsamen Nordländern“ auf der anderen die Rede.
Das Gegeneinander der Nationen zerriss die Union beinahe.
Doch dieses Paradigma hat sich seit 2015 allmählich verändert. Auf die Covid-19-Krise wurde schließlich ganz anders reagiert. Der Europäische „Wiederaufbaufonds“ war ein Programm wie aus dem keynesianischen Lehrbuch: Erstmals nahm die EU als Gemeinschaft Kredite auf den Finanzmärkten auf, um die Wirtschaft und die Konjunktur zu stützen, vor allem die der besonders betroffenen Staaten, wie etwa Italien. Immerhin 700 Milliarden Euro. Die strengen Austeritätsregeln wurden aufgeweicht und auch auf anderen Politikfeldern wurde vom strikten Wirtschaftsliberalismus abgewichen. Eine Mindestlohnrichtlinie verpflichtete die meisten Mitgliedstaaten, die Löhne in den unteren Segmenten anzuheben. Gewerkschaften wurden gestärkt, indem in einer Richtlinie festgeschrieben wurde, dass die Tarifbindung markant angehoben werden soll.
All das sind bemerkenswerte Schritte weg vom radikalen Wirtschaftsliberalismus und weg von den Maximen der Austeritätspolitik gewesen. Doch nun droht eine Austerität 2.0, da in der Fiskalpolitik wieder „Disziplin“ angesagt ist und das Paradigma der Wettbewerbsfähigkeit erneut benutzt wird, um die Lohnentwicklung zu bremsen und Kosten für die Unternehmen zu senken. Ein politischer Rechtsruck könnte also zu einer neuerlichen Kehrtwende führen. Wenn die Linke geschwächt würde und sich die Konservativen auf die „gemäßigten“ Teile der Rechtspopulisten stützen würden, bedeutete dies eine Verschiebung des Kräftegleichgewichts, die auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht ohne Folgen bleiben würde – ganz zu schweigen von der sozial-ökologischen Transformation und der Klimapolitik.
Dasselbe gilt natürlich auch für nationale Wahlen: Werden eher linke Regierungen in den Mitgliedstaaten von rechten Regierungen abgelöst, blockieren diese sofort progressive Politik in den EU-Institutionen. Das konnte man bereits in den vergangenen Monaten gut beobachten, nachdem etwa in Finnland und in Schweden Rechtsregierungen an die Macht gekommen sind. In Finnland will die Mitte-rechts-Regierung von Petteri Orpo das Streikrecht massiv einschränken. Verbündete für eine Wirtschaftspolitik, die die Wohlfahrt der normalen Bürger stärkt und die Löhne anhebt, sind diese Regierungen sicherlich nicht. Dass in der Berliner Ampelregierung ausgerechnet der halsstarrige Neoliberale Christian Lindner das Finanzministerium besetzt, ist hier auch nicht gerade eine Hilfe. Dieser versucht derzeit auf allen Ebenen alle sozialen und wirtschaftspolitischen Fortschritte zu torpedieren. Der relativ fortschrittliche Geist der vergangenen Jahre kann so schnell wieder Vergangenheit sein.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Publikation von Social Europe und dem IPG-Journal.