Es ist ein bekanntes Bild: Die Regierungen der EU streiten über Wirtschafts- und Finanzpolitik. Italien, Spanien und Portugal fordern Coronabonds, während sich Deutschland und die Niederlande darum sorgen, dass übermäßige „Solidarität“ Fehlanreize setzt und die Staatsausgaben aufbläht. Die Debatte um die richtige europäische Antwort auf die Coronavirus-Pandemie hat zu einem reflexartigen Rückfall in unproduktive Debattenmuster geführt. Was für Südeuropa akzeptabel ist, ist in Nordeuropa politischer Sprengstoff – und umgekehrt.

Tragischerweise verläuft die Diskussion jedoch an einem zentralen Punkt vorbei. Die aktuelle Krise destabilisiert nicht nur Südeuropa, sondern auch die Eurozone und den europäischen Binnenmarkt. Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands und der Niederlande hängt zwingend am Fortbestand dieser Errungenschaften. Sie sichern ihnen vorteilhafte Exportpreise und enorme Absatzmärkte, die Erfolgsgrundlage für den „Exportweltmeister Deutschland” und für niederländische multinationale Unternehmen. Grundvoraussetzung für eine solch weitreichende wirtschaftliche Integration ist, dass Chancengleichheit zwischen Unternehmen aus unterschiedlichen Ländern herrscht. Lettische und luxemburgische Firmen müssen auf Augenhöhe konkurrieren können, nicht in Abhängigkeit von der Stärke ihres Heimatlandes.

Doch schon jetzt zeichnet sich ab, dass nicht alle Staaten gleichermaßen in der Lage sind, ihre Wirtschaft vor den enormen Kosten von Ausgangssperren und Ladenschließungen zu schützen. Ein Teufelskreis beginnt: Höher verschuldete Regierungen tun sich angesichts höherer Zinsen schwer damit, den ökonomischen Stillstand durch Konjunkturprogramme auszugleichen. Selbst hochproduktive Firmen gehen in diesen Staaten eher bankrott, Menschen werden eher arbeitslos. In der Folge schrumpft die Wirtschaft, Wissen und Humankapital gehen verloren, die Erholung verzögert sich und der Wohlstand sinkt dauerhaft. Das wiederum erhöht die Schuldenlast relativ zur Wirtschaftsleistung, was die Reaktion auf zukünftige Krisen behindert. Es ist eine Falle, aus der sich einzelne Länder in einer Währungsunion kaum befreien können. Selbst wenn die Krise ganz Europa gleich hart träfe, würde sie das Wohlstandsgefälle weiter vertiefen.

Was für Südeuropa akzeptabel ist, ist in Nordeuropa politischer Sprengstoff – und umgekehrt.

Europäische Solidarität in Krisenzeiten bedeutet bisher vor allem zwischenstaatliche Kredite, die auf nationale Schuldenstände einschlagen. Während der Krise wird das Ausfallrisiko durch EZB-Notprogramme in Schach gehalten, doch mittelfristig erzwingen sie eine dauerhafte strikte Sparpolitik. Dieser Ansatz ist in vielen Ländern nicht mehr mehrheitsfähig. Italien ist ein warnendes Beispiel: Das Land erzielt bereits seit dreißig Jahren strukturelle Haushaltsüberschüsse und hat in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich stagniert, musste aber sowohl in der Migrationskrise als nun auch in der Coronakrise die größten Kosten für den Kontinent tragen. Ganz egal, wie kritisch man die Ursachen für den hohen Schuldenstand betrachtet: Das Land trägt seit langer Zeit eine schwere Last weitgehend alleine.

Je länger die EU mit einer gemeinsamen Antwort auf diese Herausforderungen wartet, desto stärker sinkt die italienische Loyalität zum europäischen Projekt. Die radikalen Programme populistischer Parteien scheinen alternativlos. Umfragen zeigen, dass in den vergangenen Monaten die Zustimmung zu einem EU-Austrittsreferendum von 30 auf über 50 Prozent hochgeschnellt ist. Wie lange die Demokraten und vor allem die Koalitionspartner der Fünf-Sterne-Bewegung diesem Druck widerstehen können, ist fraglich: Wirtschaftsminister Stefano Patuanelli sah in der nordeuropäischen Ablehnung angesichts der Austeritäts-Erfahrungen aus der letzten Eurokrise bereits einen Versuch, Italien „Schulden aufzuzwingen, damit sie uns anschließend bestrafen können“.

Die einzige Oppositionspartei, die derzeit als mögliche Alternative zulegt, sind die post-faschistischen „Brüder Italiens“ im modernen Gewand einer emanzipierten weiblichen Führung mit mehr Disziplin als Matteo Salvinis Lega. Sollte aber Italien der EU den Rücken kehren, wären die Folgen für beide Seiten katastrophal, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Dieses Gleichgewicht des Schreckens mag populistische Parteien in Südeuropa eine Zeit lang davon abhalten, zu Extremmaßnahmen zu greifen. Doch es wäre unverantwortlich, sich weiterhin darauf zu verlassen.

Die wirtschaftliche Integration macht vor diesem Hintergrund eine europäische Lastenteilung zur politischen Notwendigkeit – und nicht nur zu einem Akt der „Solidarität“. Südeuropa gegen autoritäre Populisten zu verteidigen und die EZB nicht dauerhaft mit Notfallprogrammen zu überlasten ist im Eigeninteresse des Nordens.

Eine gemeinsame europäische Antwort selbstbewusst demokratisch zu vertreten würde auch erlauben, endlich die tiefen politischen Gräben zwischen den Mitgliedstaaten zu überwinden. Dass die Dominanz nationaler Regierungen die Problemlösung erschwert, ist kein Zufall. Müssten die Corona-Hilfsprogramme innerhalb Deutschlands durch einzelne Beiträge der Bundesländer finanziert werden, hätten wir wohl ebenfalls noch keine Antwort und stattdessen bittere Debatten darüber, warum Steuergelder aus Bayern für unproduktive Bremer verwendet werden.

Gemeinschaftlich gewählte Entscheidungsträger sind der effektivste Weg, diverse Interessen für Bürgerinnen und Bürger zufriedenstellend auszugleichen und tiefgreifende Verteilungskonflikte friedlich beizulegen. Ohne ein wirtschaftliches Krisenmanagement durch gesamteuropäisch gewählte Gremien zu ermöglichen, scheint eine nachhaltige Lösung daher nicht wahrscheinlich. Teil der Antwort ist es auch, die europäische Ebene finanziell deutlich besser auszustatten, idealerweise mit eigenen Einnahmequellen statt Beiträgen der EU-Mitglieder.

Müssten die Corona-Hilfsprogramme innerhalb Deutschlands durch einzelne Beiträge der Bundesländer finanziert werden, hätten wir wohl bittere Debatten darüber, warum Steuergelder aus Bayern für unproduktive Bremer verwendet werden.

Für solche Schritte ist im europäischen Politikbetrieb die Überzeugung nationaler Wählerschaften nötig. Hierzulande wird diese Aufgabe nur zögerlich angegangen, da man fürchtet, deutsche und niederländische Rechtspopulisten könnten im Windschatten einer Debatte über internationale Transfers weiter erstarken. Eine verständliche Sorge, doch sie übersieht, dass deren falschem Narrativ im Norden Europas bisher nicht in überzeugender Weise begegnet wurde.

Europafreundliche Politiker in Deutschland erklären ihrer Wählerschaft häufig, Zugeständnisse seien notwendig, um Südeuropäer zu retten, die aufgrund ihrer verfehlten Haushaltspolitik, ihrer niedrigen Produktivität oder ihres schlechten Gesundheitssystems in Not geraten seien. Diese Rettungserzählung kann kurzfristig funktionieren. Doch jedes Mal, wenn wir sie benutzen, wird der Raum für gemeinsames europäisches Handeln kleiner. Wenn unser Eigeninteresse an europäischem Handeln verschwiegen wird, ebnet das den Weg für Populisten. Warum sollten „wir“ schon wieder retten müssen? Wo bleibt die Dankbarkeit?

Nur Ehrlichkeit kann uns aus dieser bedrohlichen Dynamik retten. Um die Kritik am Schreckgespenst Transferunion zu zerstreuen, muss für die beiderseitigen Vorteile und das geopolitisch bedingte gemeinsame ökonomische Schicksal eingetreten werden, jenseits von schüchtern geforderten Hilfszahlungen aus „Solidarität“. Sich dieser historischen Aufgabe zu verweigern, würde nicht nur den ungleichen Status Quo weiter zementieren, sondern für progressive Parteien nach einer Dekade Austerität einen erneuten Vertrauensverlust bedeuten.

Nicht nur im Interesse der Peripherie muss Nordeuropa also die zaghafte Akzeptanz des gefährlich instabilen Status Quo überwinden. Den Fortbestand der Eurozone zu gewährleisten ist für Deutschland profitabel, aber nicht kostenlos. Dies anzuerkennen ist nicht Solidarität. Und dafür im Parteienwettstreit selbstbewusst einzutreten ist nicht politische Naivität. Es ist lediglich im gemeinsamen Eigeninteresse, den ökonomischen und politischen Teufelskreis der Eurozone endlich zu durchbrechen.