Wieder kämpft Europa darum, die Covid-19-Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Bemühungen um Eindämmung konzentrieren sich derzeit darauf, möglichst viele Menschen möglichst schnell zu impfen. Die Nachbarn im Osten halten das nicht anders. Und doch stellt sich die Lage für die Länder der Östlichen Partnerschaft der EU gänzlich anders dar (im Rahmen dieser „Östlichen Partnerschaft“ intensiviert die EU ihre politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen zu den Nachbarstaaten Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und Ukraine).
Während die EU fieberhaft daran arbeitet, die Impfstoffe sechs westlicher Unternehmen zuzulassen und zu verteilen, steht weder das chinesische Serum (des Herstellers Sinovac Biotech) noch das russische (Sputnik V) auf der Liste der EU-Verantwortlichen. Diesen Luxus können sich die meisten östlichen Partnerländer der EU derzeit nicht leisten. Die politischen Eliten in Georgien, der Republik Moldau und der Ukraine üben durchaus Kritik am russischen Impfstoff. Ihnen ist Sputnik V suspekt, nicht nur wegen angeblicher Wirkungslosigkeit, sondern auch wegen der russischen Propaganda im Ausland. Die Erinnerung an die Desinformationskampagnen 2020 um mutmaßliche Hilfen für Italien und Serbien ist noch frisch.
In der Ukraine hat indes die Weigerung, die Einfuhr von Sputnik V auch nur zu prüfen, die Stimmung zwischen Regierung und prorussischer Opposition weiter verschlechtert. Außenminister Dmytro Kuleba verwies auf die für sein Land schädliche Propaganda, die mit einer Einfuhr des russischen Impfstoffs verbunden sei. Um die chinesische Propaganda kümmert sich die Regierung in Kiew allerdings weniger, denn sie ist bereit, neben den westlichen Impfstoffen auch das chinesische Präparat zu kaufen.
Die Chinesen vermeiden negative Reaktionen, indem sie betont unauffällig agieren und um ihren Covid-19-Impfstoff wenig Aufhebens machen.
In Belarus und Armenien hingegen gibt es kaum Vorbehalte gegen den russischen Impfstoff. Dort hat man entweder schon Importe in die Wege geleitet oder ist in den bilateralen Verhandlungen schon recht weit gediehen. In der gesamten Region ist auch das Misstrauen gegenüber China nicht sehr ausgeprägt. Die Chinesen vermeiden allerdings auch negative Reaktionen, indem sie betont unauffällig agieren und um ihren Covid-19-Impfstoff wenig Aufhebens machen. Solange die östlichen Partnerländer der EU keine Impfstoffe von westlichen Pharmaunternehmen erhalten, bestellen sie natürlich das chinesische oder gar das russische Serum.
Zwar hat die EU eine institutionelle Impfstrategie entwickelt, doch die Entwicklung einer proaktiven Impfstoffdiplomatie, die den Nachbarregionen im Osten und Süden helfen würde, kommt nur langsam voran. Derzeit hat die Stabilisierung der epidemiologischen Lage in der EU Vorrang vor geopolitischen Überlegungen oder der Impfhilfe durch internationale Institutionen. So vergibt Brüssel die Chance, für die Regionen in seiner Nachbarschaft, angefangen mit den östlichen Partnerstaaten, einen „Marshallplan gegen Covid-19“ zu entwickeln.
Mit ihren rund 500 Millionen Euro Zuschuss für die WHO-Plattform COVAX zur Verbesserung der Impfstoffversorgung in etwa 90 weniger entwickelten Ländern verfügt die EU natürlich über ein humanitäres Mandat. Aber wer aus der strategischen Lieferung von Impfstoffen mit EU-Geldern Vorteile zieht, leistet damit noch lange keinen Beitrag zur Weltgesundheit. Russland und China werden das entstandene Vakuum im Handumdrehen zu füllen wissen.
Von strategischen Erwägungen einmal abgesehen, haben die Staaten der Östlichen Partnerschaft – und insbesondere Länder mit Assoziierungsabkommen wie Georgien, die Republik Moldau und die Ukraine – ein moralisches Recht auf konkrete Impfstoffhilfe aus Brüssel. Die ukrainische Regierung hat in Brüssel bereits um Unterstützung bei der Beschaffung von Impfstoffen gebeten. Belarus und in geringerem Maße auch Armenien verlassen sich zwar auf den russischen Impfstoff, doch auch der Bevölkerung dieser Länder sollte die Hilfe der EU in Aussicht gestellt werden. Während man sich in Minsk auf Sputnik V versteift hat, wäre die Regierung in Eriwan bereit, mehrgleisig zu fahren und auch andere Impfstoffe einzukaufen (Biontech-Pfizer, Moderna oder Astra Zeneca).
Die EU hat die Chance, zu klotzen, statt zu kleckern, und strategisch in eine geopolitisch verlässlichere Nachbarschaft zu investieren.
Einzelne EU-Mitgliedstaaten drängen auf EU-Impfstoffhilfe für die östlichen Nachbarn. Die Hälfte dieser Länder hat den Vorschlag unterbreitet, einen Unterstützungsmechanismus zu entwickeln, der sich mit dem Angebot der EU-Kommission an die Westbalkanstaaten Ende 2020 vergleichen lässt. Ein Grund für diesen Vorstoß ist die Sicherheit in der EU und an den Außengrenzen.
Der Vorschlag für eine Unterstützung der östlichen Partner ist kurz- und mittelfristig für die EU ein perfekter Ausgangspunkt für die Entwicklung einer „Impfstoffdiplomatie“. Anders als die Westbalkanpartner, die Gelder für den Erwerb europäischer Impfstoffe erhalten sollen, wurden den östlichen Partnerländern erneute Finanzhilfen für „nach 2020 lieferbare Impfstoffe“ versprochen. Diese Mittel könnten der Region helfen, bei ihrer Impfoffensive aufzuholen.
Die EU hat die Chance, zu klotzen, statt zu kleckern, und strategisch in eine geopolitisch verlässlichere Nachbarschaft zu investieren. Im Idealfall könnte Brüssel mittels einer künftigen „Impfstoffdiplomatie“ der Region aus der Pandemie helfen und gleichzeitig ihre geopolitische Autonomie stärken.
Aus dem Englischen von Anne Emmert