Allzu oft gehen wichtige Beiträge zur öffentlichen Debatte fast völlig unter. So war das beim jüngsten Kommentar Sigmar Gabriels zur deutsch-französischen Beziehung. Gabriel – ehemaliger SPD-Vorsitzender sowie deutscher Außenminister a. D. – brachte eine relativ heftige Anklage gegen den neuen, in Aachen unterzeichneten deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vor, den er als ersten Schritt eines Plans hin zu einer Europäischen Verteidigungsunion ansieht.
Ein derartiger Plan existiert nicht. Doch laut Gabriel stellt der Vertrag ein neuerliches Bemühen um eine strategische Autonomie Europas entlang gaullistischer Linien dar. Insofern verdammt er ihn, weil er „der traditionellen Balance Deutschlands – Freundschaft mit Frankreich und zugleich transatlantische Bindung zu den USA und dem Vereinigten Königreich – entgegensteht.“ Aus seiner Sicht hat Deutschland dem gaullistischen Frankreich (und Gabriel verwendet dieses Etikett nicht als Kompliment) bereits zu große Zugeständnisse gemacht.
Gabriels Haupteinwand ist, dass der neue Vertrag Deutschland von der NATO wegziehen wird. Er verweist darauf, dass der vorherige deutsch-französische Freundschaftsvertrag – der Èlysée-Vertrag von 1963 –vom Bundestag ausdrücklich ergänzt wurde, um Deutschlands transatlantische Beziehungen zu bekräftigen, was die Wut des damaligen französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle erregt habe. Daher betrachtet er den Aachener Vertrag als neuerlichen Versuch, die USA aus der europäischen Sicherheitsgleichung auszuschließen.
Die französische Botschaft ist schlicht, dass Europa eigene Interessen hat, die es verteidigen muss. Es kann die Sorge um seine Sicherheit nicht dauerhaft den USA übertragen.
Doch sonderbarerweise lässt er die Tatsache unerwähnt, dass US-Präsident Donald Trump selbst mit dem Rückzug der USA aus der NATO gedroht hat. Glaubt Gabriel, dass ein Einfrieren der deutsch-französischen Beziehung auf ihrem jetzigen Stand erforderlich ist, um Trump zu beschwichtigen? Wenn ja, so würde das bedeuten, dass die Europäer nie irgendeine Form vertiefter Einigung verfolgen sollten.
Einmal abgesehen von der Tatsache, dass die geopolitische Lage des Jahres 2019 eine völlig andere ist als die von 1963, rechtfertigt der Inhalt neuen Vertrages Gabriels Befürchtungen schlicht nicht. So heißt es etwa in Artikel 4: Frankreich und Deutschland „verpflichten … sich, die Handlungsfähigkeit Europas zu stärken …, um Lücken bei europäischen Fähigkeiten zu schließen und damit die Europäische Union und die Nordatlantische Allianz zu stärken.“
Zwar spricht sich der Vertrag in der Tat für die Schaffung eines „Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat[s] als politisches Steuerungsorgan“ aus. Doch wäre das lediglich ein zusätzlicher Mechanismus, um Frankreichs und Deutschlands gemeinsame strategische Interessen innerhalb der Grenzen bestehender internationaler Verpflichtungen voranzutreiben, insbesondere „Artikel 5 des Nordatlantikvertrags“.
Gabriel wirft Frankreich vor, Deutschland im Interesse der europäischen – statt der atlantischen – Verteidigung von den USA trennen zu wollen. Doch die Tatsache, dass Frankreich vor 53 Jahren ein gewisses Maß an Unabhängigkeit von der NATO anstrebte, bedeutet nicht, dass es das heute immer noch will. Frankreich ist der NATO 2009 erneut als Vollmitglied beigetreten und hat sich seitdem aktiv an NATO-Operationen insbesondere in den Baltischen Staaten beteiligt. Darüber hinaus bleiben die französisch-amerikanischen Beziehungen auf operativer Ebene sowohl im Sahel als auch in der Levante ungewöhnlich stark. Infolge dieser gemeinsamen Bemühungen betrachten die USA Frankreich inzwischen als einen ihrer engsten Verbündeten.
Warum sollte Amerika ein Europa verteidigen, das sich nicht selbst verteidigen will?
Wenn sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen im Gegensatz hierzu verschlechtern, so deshalb, weil Deutschland in Sicherheitsfragen inzwischen als Trittbrettfahrer erscheint. Insofern ist nicht der deutsch-französische Freundschaftsvertrag die größte Bedrohung für die transatlantischen Beziehungen, sondern vielmehr Deutschlands eigenes Zögern, mehr für die Verteidigung zu tun. Warum sollte Amerika ein Europa verteidigen, das sich nicht selbst verteidigen will? Wenn die USA Druck auf Deutschland ausüben – und ihr Botschafter in Berlin sich mit einer Arroganz verhält, die in Paris unvorstellbar wäre –, dann liegt das daran, dass Trump überzeugt ist, dass Deutschland Amerika auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert ist.
Was Frankreich angeht: Frankreich hat kein Interesse an einer Schwächung der NATO, auf die es – wie wir in Libyen gesehen haben – angewiesen ist. Die französische Botschaft ist schlicht, dass Europa eigene Interessen hat, die es verteidigen muss. Es kann die Sorge um seine Sicherheit nicht dauerhaft den USA übertragen, und das Bestehen der NATO entbindet es nicht von seiner Pflicht, selbstständig zu denken und zu handeln.
Es lohnt, sich zu erinnern, dass Frankreich 2013 bereit war, in Syrien zu intervenieren. Doch nachdem die USA es sich plötzlich anders überlegten, machte auch Frankreich einen Rückzieher. Aber hätte Europa damals den Willen aufgebracht, ohne die USA militärisch einzugreifen, hätte es das tun können, ohne amerikanischen Interessen zu schaden. Anders ausgedrückt: Es gibt keinen Null-Summen-Konflikt zwischen atlantischer und europäischer Verteidigung. Die Krise im Bereich der atlantischen Verteidigung beruht im Gegenteil ganz unmittelbar auf dem Fehlen europäischer Verteidigungsanstrengungen, das die USA inzwischen übelnehmen.
Die größte Bedrohung der transatlantischen Beziehungen ist daher das Zögern der politischen Klasse Deutschlands, die deutsche Sicherheit zu debattieren und klarzustellen, dass die Verteidigung für Europa ein existentielles Thema ist. Wenn Deutschland den Respekt der Amerikaner genießen will, muss es seine eigene militärische Glaubwürdigkeit steigern. In der heutigen Welt respektieren die Starken nur die Starken.
Gabriels zweifelhafte Argumentation scheint seine eigene Voreingenommenheit widerzuspiegeln. Er steht dem Konzept einer strategischen Autonomie Europas, wie es dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorschwebt, kritisch gegenüber. Doch während man über die Bedeutung des Begriffs „strategische Autonomie“ debattieren kann, ist die wahre Frage, ob Europa eigene Interessen hat, die von jenen der USA, Chinas und Russlands abweichen.
Falls die Antwort hierauf „Ja“ lautet, gibt es keinen Grund, eine strategische Autonomie Europas in militärischen, geopolitischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten zu fürchten. Doch selbst wenn die Antwort „Nein“ lautet, wäre Gabriels Argumentation, gelinde gesagt, besorgniserregend. Schließlich erkennt sein eigener Nachfolger im deutschen Außenministerium, Heiko Maas, angesichts vielfältiger neuer Formen externen Drucks regelmäßig die Notwendigkeit einer stärkeren Autonomie Europas an. Dies ist der Grund, warum Deutschland nun bei dem Bemühen, den europäisch-iranischen Handel gegen Sanktionen und Nötigungsversuche der USA zu schützen, ganz vorn mit dabei ist.
Anders als Gabriel zu glauben scheint, ist „strategische Autonomie“ kein Schlagwort dafür, Deutschland unter französisches Kommando zu stellen oder von den USA wegzuzerren. Zudem unterstützt Gabriel selbst die Vorstellung von der europäischen Souveränität, auch wenn er eine strategische Autonomie ablehnt.
Beide Dinge gehen Hand in Hand. Man kann das Wirtschaftliche nicht vom Strategischen trennen; alles ist verbunden. Gabriels Argumentation gegen den Vertrag von Aachen geht nicht nur am Ziel vorbei; schlimmer noch, sie erweist Europa und Deutschland gleichermaßen einen Bärendienst.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
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