Die russische Invasion der Ukraine hat die gewohnte Realität der internationalen Politik verändert und zum Teil zerstört. Bis zum 24. Februar war Russland in die Weltwirtschaft integriert, hatte gute Wachstumsperspektiven und eine praktisch betriebsbereite Gaspipeline Nord Stream 2. Die NATO hatte nicht die Absicht, sich aus eigenem Antrieb irgendwohin zu erweitern, und die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine lag wegen der vielfältigen inneren Probleme des Landes in weiter Ferne. Doch statt systematisch die eigenen Vorteile auszuspielen, geht der Kreml ein Wagnis ein, das viele teuer zu stehen kommen wird. Gleichzeitig bedeutet Russlands Krieg gegen die Ukraine eine tiefe Krise, die die möglichen Szenarien dramatisch verändert und Entwicklungen, die sich noch vor zwei Monaten wie Fantastereien ausnahmen, durchaus wahrscheinlich werden lässt.

Eines dieser Szenarien hat mit der Aufnahme der Ukraine in die EU zu tun. Am 28. Februar unterzeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj, dessen Schicksal an jenem Tag alles andere als klar war, im belagerten Kiew den Antrag der Ukraine auf Mitgliedschaft in der EU. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kiew dem Angriff schon vier Tage standgehalten und die ersten Zweifel, ob Russland in der Lage sein werde, bei seinem Blitzfeldzug Erfolge zu erzielen, stürzten Europa in einen Zustand strategischer Ungewissheit.

Dies war ein großer symbolischer Moment für Selenskyj. Er entzündete für viele Ukrainerinnen und Ukrainer ein Licht am Ende des Tunnels. Und er schuf damit eine mögliche Basis für den zukünftigen Umbau der internationalen Sicherheitsordnung. Dass diese Ordnung umgestaltet werden muss, daran gibt es wenig Zweifel.

Mit dem EU-Mitgliedsantrag entzündete Selenskyj für viele Ukrainerinnen und Ukrainer ein Licht am Ende des Tunnels und schuf eine mögliche Basis für den zukünftigen Umbau der internationalen Sicherheitsordnung.

Eine ähnliche Symbolik und Zukunftshoffnungen begleiteten damals im März 2014 die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine – keine Woche nach dem „Referendum“ über den Status der Krim, auf dem Höhepunkt der komplexen und brisanten revolutionären Ereignisse in Kiew. Dieser Schritt war damals ein wichtiger Baustein der Stärkung des ukrainischen Staatswesens – eine Vision für die Zukunft und die Ausrichtung des Wertesystems. Die Ukraine konnte sich zwar keine Hoffnungen auf eine baldige EU-Mitgliedschaft machen – dass das Assoziierungsabkommen in keiner Weise eine Mitgliedschaft vorsah, wurde in Europa oft genug betont –, aber immerhin konnte sie darauf hinarbeiten, das Potenzial des umfassendsten Assoziierungsabkommens in der Geschichte der EU zu verwirklichen.

2022 finden die Gespräche über die Beziehungen der Ukraine zur EU nun in einem auf dramatische Weise veränderten Kontext statt. Der EU-Beitritt der Ukraine hat sich von einer immer wieder verschobenen Perspektive zu einem der wenigen Elemente gewandelt, die einen Fortschritt bei der Lösung des Konflikts bewirken können.

Das A und O sind die Sicherheitsgarantien. Der russische Einmarsch zwingt die Ukraine, sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten. Von nun an wird sich keine Zusage – ob schriftlich oder mündlich – als ausreichend erweisen. Jede beliebige Regierung in Kiew wird im Verhältnis zu Russland fortan vom schlimmstmöglichen Szenario ausgehen müssen.

Der EU-Beitritt der Ukraine hat sich von einer immer wieder verschobenen Perspektive zu einem der wenigen Elemente gewandelt, die einen Fortschritt bei der Lösung des Konflikts bewirken können.

Um eine potenzielle Neuauflage der russischen Aggression aufzuhalten, kann die Ukraine entweder auf verlässliche Sicherheitsgarantien spekulieren oder einen bedeutenden Teil ihrer Ressourcen in den Aufbau und den Unterhalt einer schlagkräftigen und modernen Armee investieren. Ein weiteres wirksames Garantieinstrument könnte die NATO-Mitgliedschaft sein, aber ausgerechnet sie mutet erstens unrealistisch an und wird zweitens von Russland erklärtermaßen als Bedrohung seiner Sicherheit wahrgenommen. In diesem Punkt wirkt die Vorkriegslogik fort: Die hohen Risiken eines direkten Konflikts mit Russland erschweren den NATO-Beitritt der Ukraine. Deshalb findet die Diskussion über Sicherheitsgarantien weiterhin auf Ebene der einzelnen Staaten oder in multilateralen Formaten außerhalb der NATO statt.

Diese Debatte gestaltet sich schwierig. Erstens kann kaum jemand solche Garantien geben, zumal wenn von einem möglichen Krieg mit Russland die Rede ist. Effektiv und zuverlässig wären wohl nur Garantien seitens der USA, die allein in der Lage sind, ihre militärische Macht in ausreichender Quantität zu projizieren, um Russland abzuschrecken. Zweitens ist kaum jemand gewillt, Sicherheitsgarantien zu geben, weil dies mit großen Risiken verbunden ist. Andererseits können westliche Staaten sich der Debatte über Sicherheitsgarantien auch nicht verweigern, weil die Fortsetzung des Krieges Europa vor ernsthafte Probleme stellt.

Moskau hat in seiner Vorkriegsrhetorik die EU-Erweiterung nicht problematisiert und nicht den Vorwurf erhoben, sie bedrohe Russlands Sicherheit.

Ein Beitritt zur Europäischen Union würde jedoch keinen solchen Antagonismus bewirken. Moskau hat in seiner Vorkriegsrhetorik die EU-Erweiterung nicht problematisiert und nicht den Vorwurf erhoben, sie bedrohe Russlands Sicherheit. Das eröffnet gewisse Spielräume für zusätzliche Handlungsmöglichkeiten.

Eine EU-Mitgliedschaft kann natürlich nicht als vollwertige Sicherheitsgarantie gelten. Aber es könnte erstens die Kosten der Aggression für Russland erhöhen und zweitens der geschwächten ukrainischen Wirtschaft eine Erholung in Aussicht stellen. Eine solche Erholung wäre eine Voraussetzung dafür, dass die Ukraine in der Lage ist, wirksame Verteidigungskapazitäten aufrechtzuerhalten.

Schwierigkeiten gibt es natürlich jede Menge. Grundsätzlich gibt es – darauf haben viele europäische Beamte bereits hingewiesen – nicht die Möglichkeit, der EU einfach „im Schnellverfahren“ beizutreten. Ein solcher Beitritt ist ein langwieriger und komplizierter Prozess, bei dem viele Aspekte miteinander abgestimmt werden müssen – von der Gesetzgebung bis zu technischen Normen. Selbst in optimistischen Einschätzungen ukrainischer Politiker und Diplomatinnen ist von mehreren Jahren die Rede. Sogar Österreich, Schweden und Finnland, die den Beitritt in Rekordtempo schafften, brauchten rund vier Jahre. Seither ist die Situation nicht einfacher, sondern schwieriger geworden – auch weil die Zahl der EU-Rechtsvorschriften erheblich zugenommen hat. Hinzu kommt, dass bereits fünf beitrittswillige Staaten „Schlange stehen“. Das alles sind wahrlich gravierende Hürden, zumal die Bürokratie und die Prozeduren in der EU selbst unter außergewöhnlichen Rahmenbedingungen immer noch starken Einfluss haben.

Entscheidend wird sein, ob es gelingt, sich die Unterstützung der einflussreichsten EU-Mitglieder Deutschland und Frankreich für einen EU-Beitritt der Ukraine zu sichern.

Auf politischer Ebene wird die Zustimmung der Mitgliedstaaten erforderlich sein. Nachdem es bis zum Krieg nur rein symbolische Erklärungen gab, die von einigen EU-Staaten unterzeichnet wurden, hat sich die Gesamtsituation inzwischen so stark verändert, dass man heute von einem breiten gesellschaftlichen Konsens in der EU sprechen kann, was die europäische Zukunft der Ukraine betrifft. Dieser Konsens kam bereits darin zum Ausdruck, dass etliche osteuropäische Staats- und Regierungschefs offiziell erklärt haben, die Ukraine habe es verdient, dass ihr unmittelbar eine Beitrittsperspektive eröffnet werde. In ganz Europa neigt die öffentliche Meinung immer mehr dazu, diese Idee zu unterstützen; dies lässt sich auch an den Reaktionen nationaler Parlamente auf die Auftritte des ukrainischen Präsidenten ablesen. Kaum ein Europapolitiker erhebt heute noch formelle Einwände gegen die Idee einer Zukunft der Ukraine in der EU.

Dadurch wird die Aufgabe natürlich nicht automatisch leichter. Gefragt ist die Fähigkeit, die Sympathien und das Mitgefühl der Europäerinnen und Europäer in politische Resultate umzusetzen. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, sich die Unterstützung der einflussreichsten EU-Mitglieder Deutschland und Frankreich zu sichern. Hier sind diplomatisches Fingerspitzengefühl und ein tiefgehendes Verständnis der Interessen in Berlin und Paris gefordert. Dazu gehört insbesondere die Wiederherstellung der europäischen Sicherheit. Auf dem Weg dorthin wird es darauf ankommen, alte Streitigkeiten hinter sich zu lassen oder zumindest Perspektiven für deren Beilegung aufzuzeigen.

Europäische Sicherheit wird kaum möglich sein, wenn die Ukraine so wie vor dem Krieg weiterhin in der „Grauzone“ Europas verbleibt.

Alle Schlüsselargumente betreffen das Thema Sicherheit. Es geht nicht nur darum, dass die Ukraine Europa vor dem russischen Revisionismus schützt und dafür mit dem Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger bezahlt. Der EU-Beitritt könnte eine Geste sein, mit der die Wichtigkeit des ukrainischen Beitrags zur europäischen Sicherheit anerkannt wird. Diese europäische Sicherheit wird auch kaum möglich sein, wenn die Ukraine so wie vor dem Krieg weiterhin in der „Grauzone“ Europas verbleibt – ohne Verbündete, ohne Garantien und ohne eine verlässliche europäische Zukunft. Bislang mögen die Bedrohungen der Ukraine von Europa nicht als eigene wahrgenommen worden sein, doch nach der russischen Invasion hat sich alles grundlegend geändert.

Zwei Monate nach Kriegsbeginn ist die Ukraine nicht besser für eine EU-Mitgliedschaft gerüstet als vor dem Krieg. Eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine wird für Europa einige Risiken und Schwierigkeiten mit sich bringen. Doch noch etwas anderes hat sich gewandelt: die sicherheitspolitische Gesamtsituation in Europa. Die Fortsetzung des Krieges wird Europa erheblich teurer zu stehen kommen. Die EU kann nicht mehr abseitsstehen und abwarten; auch sie muss einen Ausweg aus dem von Russland entfesselten Krieg finden.

Wenn die Ukraine im Juni den Beitrittskandidatenstatus erhält, wird dies für alle ein ermutigendes Signal sein. Was vor dem 24. Februar unmöglich schien, ist zum Diskussionsgegenstand und zu einer durchaus realen, wenngleich noch fernen Perspektive geworden.

Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld